Voltaire-Übersetzer: Christlob Mylius

Christlob Mylius, (* 11.11.1722 in Reichenbach an der Pulsniz – † 6.3.1754 in London). Sein Vater war der Pfarrer Caspar Mylius, seine Mutter dessen zweite Ehefrau Marie Elisabeth geb. Ehrenhaus. Er hatte vier ältere Brüder, die alle den Christus im Namen tragen: Christlieb, Christfried, Christhelf und Christhilf.

Von ihm stammt die bisher einzige Übersetzung von Voltaires Streitschrift, der Diatribe du Docteur Akakia, 1752/3.

Nach seinem Studium in Leipzig entwickelte er sich, vielseitig interessiert und begabt, zu einem der ersten Wissenschaftsjournalisten Deutschlands. Er gab mehrere Periodika heraus, unter anderem die Zeitschrift „Der Wahrsager“, die 1749 von der preußischen Zensur nach der 20. Ausgabe (im Mai) verboten wurde (so viel zu Friedrichs Haltung zur Pressefreiheit, die er Mai 1749 dann auch entschieden einschränkte). Dazu heißt es bei Ernst Cosentius, dem bis heute besten Bericht zu Mylius Leben:

Gewissermaßen als Feuilleton zur Zeitung gab M. seit dem 2. Januar 1749 unter dem Titel: „Der Wahrsager“ wiederum eine satirisch-moralische Wochenschrift heraus, die lediglich als eine Erwerbsquelle von M. zu nennen wäre, hätten sich die Schullehrer Berlins nicht über das 7. Stück des „Wahrsagers“, in dem sie sich gezeichnet glaubten, beschwert. Dies Stück darf man eine ironische Empfehlung der La Mettrie’schen Philosophie nennen. Es gab, wie das 9. Stück, das ein satirisches Lob der Hahnreihe brachte, den Ministern Friedrich’s des Großen Anlaß, beim Könige ein neues Censur-Edict zu beantragen und den Verfasser und Verleger des „Wahrsagers“ zu verwarnen. Daß die Leser satirischer Blätter stets nach lebenden Modellen suchten, war ein alter Uebelstand. Nach Mylius’ Ankündigung zum „Wahrsager“ hatten sie vielleicht auch ein Recht dazu. Jetzt, wo M. gewarnt war, lenkte er sein Blatt in die ruhige Bahn einer wohlgesitteten Wochenschrift und wurde nicht müde zu versichern, daß er Niemanden im Bösen meine; aber Friedrich der Große verbot trotzdem den „Wahrsager“ und erließ am 11. Mai 1749 das von den Ministern vorgeschlagene Censur-Edict. Das letzte (20.) Stück des „Wahrsager“ datirt vom 15. Mai 1749.

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Volker Reinhardt, Voltaire, eine Biographie, Rezension (7): Der Patriarch von Ferney 1759-1766 und Voltaires Tod (8) am 30.5.1778

Es gibt 26 Voltaire-Biographien in deutscher Sprache, die meisten erzählen die Ereignisse seines Lebens, einige integrieren die Geschichte seines schriftstellerischen Schaffens – die bisher gelungenste, die von Theodore Besterman (1969), findet das Wohlwollen von Reinhardt nicht, weil sie zu sehr auf Seite Voltaires steht.
Wie dem auch sei, eine zusätzliche Voltaire-Biographie sollte, da sein Leben genau in den Zeitabschnitt fällt, der das Ende der jahrhundertelangen Adelsherrschaft durch die Französische Revolution vorbereitet, diese Ereignisse systematisch einbinden, oder sie wird zwangsläufig epigonal. Epigonal ist der Begriff, der am ehesten auf Reinhardts Arbeit zutrifft. In weiten Teilen ist sie nur eine gekürzte Wiedergabe der nicht auf Deutsch erschienenen Voltaire-Biographie von Réné Pomeau, erweitert um ausufernde Inhaltsangaben vieler einzelner Werke.


Wie soll man Voltaires zentrale Forderungen verstehen: Wissenschaftlichkeit statt Glauben, Beobachten statt Autoritätsbeweis, Anerkennung durch Verdienst anstelle von Herkunft, sowie Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit, Rechtsstaatlichkeit, wenn man ihn nicht als den Vertreter der aufstrebenden, jedoch vom Absolutismus noch abhängigen bürgerlichen Klasse begreift? Wie seinen Kampf gegen die katholische Kirche einordnen, wenn man diese nicht als Stütze der absolutistischen Aristokratie auffasst, zwar ebenfalls abhängig vom Königshaus, aber als eigenständige Kraft mit gehässig-tödlicher Eigendynamik handelnd? Die Kräfteverhältnisse sind gewiss nicht immer einfach zu verstehen; Jansenismus, Hugenotten, Feudaladel kommen mit ihren eigenen Interessen und Kämpfen hinzu. Das alles zu integrieren, ist möglicherweise eine Aufgabe, die ein Einzelner kaum bewältigen kann. Reinhardt wäre es zuzutrauen gewesen, sein Schaffenshorizont ist, wie seine Publikationen zeigen, weit genug. Aus irgendeinem Grunde verfasste er stattdessen ein Kompendium der Inhaltsangaben von zahlreichen Werken Voltaires, ergänzt durch biographische Informationen und einigen wenigen, isoliert dastehenden kulturhistorischen Erläuterungen.

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„Die freundliche Ideologie“, Stefan Ripplinger, Junge Welt, 29.7.2023

In der Wochendausgabe der Jungen Welt vom 29.7.23, die unter dem grotesken, aber ernstgemeinten Titel „Kapitalismus killt Klima“ aufmachte, erschien auch der oben genannte Artikel eines gewissen Stefan Ripplinger, ein Vielschreiber, der auch die obskure Jungle World mit „auf den Weg“ brachte. In seinem neuesten Elaborat verspricht er, drei Publikationen vorzustellen, die den modernen „Wokismus“ kritisieren. Wir werden es hier unterlassen, seine äußerst fragwürdige Kritik einer Analyse zu unterziehen, das lohnte den Aufwand nicht und jeder Leser kann sich ja selbst ein Bild davon machen. Stattdessen konzentrieren wir uns auf die in dem Artikel enthaltene Abwertung der Aufklärung, die er, wie auch den Wokismus, als „freundliche Ideologie“ tituliert und insbesondere auf seine Schmähung Voltaires, ihres wichtigsten und bekanntesten Vertreters.

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Volker Reinhardt, Voltaire, eine Biographie, Rezension (6): Zwischenspiel im Elsass und in Genf 1753-1758

In dem Kapitel zu Voltaires Aufenthalten in Colmar, am Genfer See und in Genf selbst überspringt Reinhardt die Ereignisse dort, um mehr Raum für die Beschäftigung mit dem Erdbeben von Lissabon zu bekommen. Seine Biographie verlagert sich dadurch zunehmend weg von den gesellschaftspolitischen Hintergründen hin zur Werkpräsentation und -analyse, was sich schon in den Kapiteln davor andeutete.
Der Abschnitt über Voltaires Gedicht über das Erdbeben von Lissabon (S.371-382), in dem am 23.11.1755 zehntausende Menschen umkamen, kann als zentrales Kapitel der Biographie angesehen werden. Es enthält eine bemerkenswerte Analyse des Autors, die zeigt, von welch entscheidender Auswirkung die Katastrophe auf Voltaires Denken war.

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Voltaire-Übersetzer: Karl Franz Romanus

Karl Franz Romanus (* 21.8.1731 in Leipzig – † 20.4.1787 in Dresden) stammte aus einer alten Leipziger Familie, deren männliche Mitglieder meist Juristen im Staatsdienst waren. Sein Onkel war Bürgermeister von Leipzig, sein Vater Carl Friedrich Ratsherr und Stadtrichter.

Über seine Biographie ist wenig bekannt, nur dass er in Leipzig Jura studierte und ab 1755 in Dresden eine Karriere im Staatsdienst machte (höchste Position 1779: „Geheimer Kriegsrat“).
Romanus verfasste einige, damals gern gespielte Komödien in deutscher Sprache und war Herausgeber und Übersetzer des Essay sur les moeurs (1760-62) und der Vermischten Schriften Voltaires (1768 – 1775).
Im Vorwort zu seiner Werkausgabe Voltaires betont Romanus die Bedeutung gut gemachter Übersetzungen und kündigt für den ersten Band deutlich verbesserte von Mikromegas und von Zadig an, außerdem Erstübersetzungen von zahlreichen Stücken, die „nach der neuesten Genfer Ausgabe von den Werken des Herrn von Voltaire gefertigt“ wurden.
Anhand der Artikel-Reihenfolge läßt sich rekonstruieren, dass es sich dabei um die bei Cramer 1768ff erschienene Werkausgabe Voltaires handelt, von der insbesondere die Bände mit den kurzen, philosophischen Texten (die mélanges) der Bände 14 – 17 in die Vermischte Schriften eingegangen sind.

Für die (erstmalige) Übersetzung des Essay und für die 6 bändige Werkausgabe Voltaires wird Romanus mehrere Jahre Arbeit benötigt haben, die er neben seiner Arbeit in den Staatskanzleien Dresdens leistete. Es ist zu hoffen, dass es ihm gelang, wenigstens einen Teil davon im Staatsdienst zu erledigen, so dass er noch genügend Zeit für die anderen schönen Dinge des Lebens hatte.

Lesen wir noch kurz ein Beispiel für die Qualität seiner Übersetzung aus der Erzählung Memnon (erster Satz):
[Memnon conçut un jour le projet insensé d’être parfaitement sage. Il n’y a guère d’hommes à qui cette folie n’ait quelquefois passé par la tête.]
Romanus: „Memnon fasste eines Tages den unsinnigen Vorsatz, vollkommen weise zu sein. Dieses ist eine Thorheit, von der die meisten Menschen zuweilen befallen werden.“
Ilse Lehmann (1950): „Memnon faßte eines Tages den törichten Entschluß, wahrhaft weise zu werden. Es gibt wohl kaum einen Menschen, in dessen Kopf dieser Wahn nicht auch schon einmal gespukt hätte“.

Die Variante Romanus‘ verdient den Vorzug, weil sie kurz und prägnant ist und dadurch den Witz des französischen Originals eingängig vermittelt.

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Philosophisches Taschenwörterbuch:
Guerre – Krieg (Kommentare)

Der Artikel ist heute (2022/2023) von einer erschreckenden Aktualität. Wieder zerstört pure Machtbesessenheit ganze Völker, wieder sind es „drei- oder vierhundert“ Personen, die Menschen gegeneinander aufhetzen, die eigentlich keinen Grund haben, gegeneinander zu kämpfen und tatsächlich segnet die Kirche noch immer die Waffen „ihrer Soldaten“.

Hintergrund

Wenn in unserer Zeit Schreibtischstrategen sich über Völkerrecht, widerrechtliche Annektion, berechtige Separation usw. in die Haare bekommen, führen sie eine Diskussion, wie sie bereits in der Antike geführt wurde und dann im 17. Jahrhundert mit der Schrift De jure belli ac pacis (1625) (dt. Über das Recht des Krieges und des Friedens) von Hugo Grotius (1583 – 1645) ihren vorläufigen Höhepunkt an Gelehrsamkeit erreichte (darüber informiert kurz und bündig Seminarpapier Uni Münster pdf).

Nicht, dass die Absicht, Ordnung in die Debatte zu bringen verwerflich wäre, ganz im Gegenteil; verwerflich ist nur, wenn im konkreten Fall das Leid der Menschen eine viel kleinere Rolle spielt, als recht zu haben oder recht zu behalten.
Obwohl Voltaire diese Schriften kannte – das Buch von Grotius zum Beispiel befand sich in seiner Bibliothek -, beschäftigt er sich mit ihnen hier nicht – für ihn ist der Krieg schrecklich wie ein Seuche, wie eine Hungersnot und, da menschengemacht, ein Zeichen von Rückständigkeit. Zudem: Wenn die Kirche diese Kriege auch noch weihevoll anfeuert, so kann sie seiner Verachtung sicher sein.

Zwar hat Voltaire seinen Artikel, als er ihn 1771 in seinen Questions sur l’Encyclopédie erneut abdruckte, um einen Absatz erweitert, in dem er die Frage stellt, ob ein Präventivkrieg gerechtfertigt sein könnte. Seine Behandlung dieses Themas zeigt aber, worum es ihm in erster Linie geht: Kriege bringen unermessliches Leid über die Menschen und alle Maßnahmen, die sie verhindern können, sind gute Maßnahmen. Nur wenn man angegriffen wird, sind militärische Mittel zur Verteidigung als ultima ratio unvermeidlich.

Der namensgleiche Artikel Guerre der Enzyklopädie (Band 7, 1757) behandelt dagegen militärhistorische und militärtaktische Überlegungen („Kriegskunst“), oder die Frage, wann Kriege gerecht bzw. ungerecht sind, welche Gesetze der Humanität auch während des Krieges beachtet werden müssen und viele ähnliche Dinge mehr. ( siehe die Übersetzung dieses Artikels und auch den Essay von Alexander Kluge, Krieg in: Die Welt der Encyclopédie, Frankfurt/Main: Eichborn, 2001, S.209 -216). Voltaires Antwort darauf ist eindeutig: Sollte jemand die so häufig trügerische Vorstellung hegen, zum gerechtesten aller gerechten Kriege berechtigt zu sein, bedenke er zunächst das furchtbare Leid, das er über die Menschen bringt, nur um einen Macht- oder Gebietszuwachs zu erzielen.


Hier nun Voltaires Zusatz zu seinem Artikel Guerre – Krieg des Philosophischen Wörterbuchs aus dem Jahr 1771 (Questions de l‘ Encyclopédie, Übersetzung E.Salewski):

„Der berühmte Montesquieu, der als menschlich galt, hat gleichwohl behauptet, dass es gerecht sei, seine Nachbarn mit Feuer und Schwert heimzusuchen, wenn man befürchten müsse, dass es ihnen gar zu gut gehe. Wenn dies der Geist der Gesetze ist, dann kann es nur derjenige eines Borgia und Machiavelli sein. Wenn er zum Unglück die Wahrheit gesagt hat, dann muss man gegen diese Wahrheit schreiben, auch wenn sie durch die Tatsachen bestätigt wird.

Montesquieu sagt folgendes (Geist der Gesetze, Buch X, Kap.2): ‚Zwischen Staaten zieht das Recht der natürlichen Verteidigung manchmal die Notwendigkeit nach sich, zum Angriff überzugehen, wenn ein Volk bemerkt, dass ein längerer Frieden ein anderes dazu befähigen würde, es selbst zu vernichten, und der Angriff in diesem Augenblick das einzige Mittel ist, die Vernichtung zu verhindern.‘

Wie kann der Angriff mitten im Frieden das einzige Mittel zur Verhinderung dieser Vernichtung sein? Dann müsstet ihr sicher sein, dass dieser Nachbar euch vernichten wird, wenn er stark ist. In diesem Falle müsste er bereits Vorkehrungen zu eurer Vernichtung getroffen haben. Dann aber ist er es, der den Krieg beginnt. Eure Voraussetzung ist also falsch und widerspruchsvoll. Wenn es je einen offensichtlich ungerechten Krieg gegeben hat, dann ist es der, den ihr empfehlt.

Ihr wollt eure Mitmenschen umbringen, damit sie (der euch keineswegs angreifen) euch nicht anzugreifen vermögen. Dann müsstet Ihr also die Vernichtung eures eigenen Landes in der Hoffnung riskieren, ohne Grund ein anders vernichten zu können. Das ist gewiss weder anständig noch nützlich; denn des Erfolgs ist man nie sicher, das wisst ihr wohl. Wenn euer Nachbar im Frieden zu stark wird, warum macht ihr euch dann nicht ebenso stark? Wenn er Bündnisse schließt, tut das doch auch! Wenn er weniger Mönche hat, dafür aber mehr Fabrikanten und mehr Soldaten hat, dann eifert ihm nach in dieser klugen Wirtschaftsführung. Wenn er seine Matrosen besser ausbildet, dann tut das auch!

Das alles ist recht und billig. Aber euer Volk dem furchtbarsten Elend auszusetzen, in der so häufig trügerischen Vorstellung, euren durchlauchtigsten Bruder, den Fürsten eines Nachbarlandes, zerschmettern zu können, diesen Rat dürfte der Ehrenvorsitzende einer Friedensgesellschaft euch nicht geben.

[Le célèbre Montesquieu, qui passait pour humain, a pourtant dit qu’il est juste de porter le fer et la flamme chez ses voisins, dans la crainte qu’ils ne fassent trop bien leurs affaires. Si c’est là l’esprit des lois, c’est celui des lois de Borgia et de Machiavel. Si malheureusement il a dit vrai, il faut écrire contre cette vérité, quoiqu’elle soit prouvée par les faits. Voici ce que dit Montesquieu(28): « Entre les sociétés le droit de la défense naturelle entraîne quelquefois la nécessité d’attaquer, lorsqu’un peuple voit qu’une plus longue paix en mettrait un autre en état de le détruire, et que l’attaque est dans ce moment le seul moyen d’empêcher cette destruction. » Comment l’attaque en pleine paix peut-elle être le seul moyen d’empêcher cette destruction? Il faut donc que vous soyez sûr que ce voisin vous détruira s’il devient puissant. Pour en être sûr, il faut qu’il ait fait déjà les préparatifs de votre perte. En ce cas, c’est lui qui commence la guerre, et ce n’est pas vous; votre supposition est fausse et contradictoire. S’il y eut jamais une guerre évidemment injuste, c’est celle que vous proposez; c’est d’aller tuer votre prochain, de peur que votre prochain (qui ne vous attaque pas) ne soit en état de vous attaquer: c’est-à-dire qu’il faut que vous hasardiez de ruiner votre pays dans l’espérance de ruiner sans raison celui d’un autre; cela n’est assurément ni honnête ni utile, car on n’est jamais sûr du succès; vous le savez bien. Si votre voisin devient trop puissant pendant la paix, qui vous empêche de vous rendre puissant comme lui? S’il a fait des alliances, faites-en de votre côté. Si, ayant moins de religieux, il a plus de manufacturiers et de soldats, imitez-le dans cette sage économie. S’il exerce mieux ses matelots, exercez les vôtres; tout cela est très juste. Mais d’exposer votre peuple à la plus horrible misère, dans l’idée si souvent chimérique d’accabler votre cher frère le sérénissime prince limitrophe! ce n’était pas à un président honoraire d’une compagnie pacifique à vous donner un tel conseil.]

Die folgenden Anmerkungen zu einzelnen Textstellen beziehen sich mit ihren Seitenangaben auf die von uns bei Reclam herausgegebene Ausgabe des Philosophischen Taschenwörterbuchs (2020):

Anmerkung 1 (S.237, 2. Absatz, „das Volk von Veij oder die Volsker“): Die etruskische Stadt Veii wurde 396 v. u. Z. von Rom besiegt, die Bewohner versklavt und die Stadt mit römischen Bürgern neu besiedelt. Die Volsker , ein altitalienischer Volksstamm, wurde im Jahr 338 v. u. Z. von Rom unterworfen.

Anmerkung 2 (S.237 3. Absatz: „Ein Ahnenforscher beweist einem Fürsten“): Voltaires Beispiel  geht auf die Argumentation Friedrich II. zurück, mit der er seinen Einmarsch in Schlesien ab 1740 begründete. Er verlangte von Maria Theresia vier schlesische Grafschaften (Voltaire schreibt darüber in seinem Précis du siècle de Louis XV) mit einer ziemlich weit hergeholten Begründung: 1537 hatte der Herzog Friedrich II von Schlesien (s. Wikipedia Piasten) für die Grafschaften Liegnitz, Brieg und Wohlau mit dem Kurfürst Joachim II von Brandenburg einen Nachfolgevertrag geschlossen, den Friedrich I. v. Habsburg wiederum für null und nichtig erklärte. Als 1675 mit Georg Wilhelm die Linie der Herzoge von Schlesien ausstarb, waren Liegnitz, Brieg, Wohlau sozusagen „herrenlos“. Der Kurfürst von Brandenburg erhob Anspruch auf diese Besitztümer, erhielt aber nur den Kreis Schwiebus. Aus diesen alten Vorfällen leitete Friedrich II. von Preußen seine Ansprüche ab, zusätzlich Jägersdorf, das ebenfalls dieser Adelslinie gehörte. Das ist, als wenn heute die Türkei Anrechte auf Kreta (alter osmanischer Besitz) erheben würde.
Der erste Schlesische Krieg nahm seinen Lauf. In dem entsprechenden Wikipediaeintrag  erfährt man zwar, wieviel Soldaten die preußische Armee (27.000) hatte, wie viele Tote dieser Krieg forderte, erfährt man jedoch nicht.

Anmerkung 3 (S.238 „So führen vier oder fünf Mächte gegeneinander Krieg…“)
Im siebenjährigen Krieg (1756 -1763), vielfach als erster Weltkrieg bezeichnet, standen England und Preußen gegen den „Rest der Welt“. Dieser „Rest der Welt“ um Habsburg, Frankreich, Russland, Schweden, sowie der deutsche Kaiser verdammten Friedrich II und verurteilten ihn, weil er den Krieg angefangen hatte und als relativ kleiner Potentat die Großmächte herausforderte.
Hinter Friedrich stand aber das aufstrebende England, das diesen Konflikt lange vorher durch gezielte Investitionen und Einflussnahmen vorbereitet hatte und am Ende einzig als wirkliche Großmacht übrig blieb. An dem entsprechenden Wikipediaeintrag  haben viele Militärexperten mitgearbeitet. Über die Gründe, die zu diesem Krieg führten, warum Englands zur Großmacht aufstieg, erfährt man wenig, dafür viel über die einzelnen Schlachten.
Etwas anschaulicher erzählt über die barbarische Zerstörung von Dresden durch Friedrich II eine Seite der Bundeszentrale für politische Bildung, garniert mit viel Anekdotischem und Küchenpsychologie  .

Anmerkung 4 (S. 237 unten „Er kleidet sie mit grobem blauem Tuch..“): Das war die Uniform der preußischen Armee im siebenjährigen Krieg. Siehe dazu die materialreiche Bildersammlung von Andreas Meininger. 

Anmerkung 5 (S.238 oben, „ …mit mehr gedungenen Mördern als Dschingis- Khan, Tamerlan, Bjazet jemals in ihrem Gefolge hatten): gedungene Mörder, das sind skrupellose Söldnerheere, mit denen die europäischen Mächte damals operierten. Die Namen Dschingis- Khan, Tamerlan , Bjazet  sind Beispiele für Herrscher, die in den Augen westlicher Geschichtsschreiber besonders grausam waren, ohne sie mit den Grausamkeiten ihrer eigenen Machthaber zu vergleichen.

Anmerkung 6 (S.238 unten Massillon, S. 239, 2. Absatz Bourdaloue): Beide waren zu Voltaires Zeit bekannte katholische Moralprediger, die in ihren Reden vor allem gegen Lasterhaftigkeit, also gegen die sexuelle Freiheit herzogen, aber nie ein Sterbenswörtchen gegen militärische Gräueltaten verloren..

Anmerkung 7 (S.239, „Die Juden nennen Zebaoth „Gott der Waffen“): Zur Begriffsgeschichte gibt es eine ausufernde Diskussion, ob Zebaoth die himmlischen oder die weltlichen Heerscharen und ihre Waffen gemeint sind usw.; siehe dazu den Artikel Sabaoth im kleinen Pauly

Anmerkung 8 (S.239, „Homer nennt Mars einen wahnsinnigen blindwütigen Gott“): Bei Homer heißt Mars, der Kriegsgott, Ares. Über ihn, den „blutigen Schilddurchbrecher“ erzählt die Illias (in XXI, 390 ff), wie er von Pallas Athene in seine Schranken gewiesen wurde.

Philosophisches Taschenwörterbuch:
Catéchisme Chinois – Chinesischer Katechismus (Kommentare)

Im Chinesischen Katechismus gibt Voltaire einen Einblick in aktuelle Positionsbestimmungen der Aufklärung zum Christentum.
Zu der aus dem Humanismus stammenden zentralen Aussage, dass die Menschen bei ihrer Verbindung zu Gott keine vermittelnde Institution benötigen, kommt im 18. Jahrhundert die klare Ablehnung der Gottesidee selbst hinzu, wie sie de Meslier, de La Mettrie, Diderot, d’Holbach und d’Alembert, formulierten, außerdem die Suche nach einer humanen, nichtchristlichen Ethik. Diese Positionsbestimmung wird auf verschiedenen Ebenen vorgenommen:

1. Auf der Ebene der christlichen Religion selbst: Welche Argumente gibt es für die Existenz ihres Gottes (Alleine, dass man an diese Frage verstandesmäßig herangeht, war für die Kirche ein erster Schritt zum Scheiterhaufen) und welche Argumente halten einer rationalen Überprüfung stand?
2. Auf der Ebene des Subjekts: Wie kann man sich den Kontakt des einzelnen Menschen zu Gott im Christentum vorstellen?
3. Welche Bedeutung kommt der christlichen Religion in Bezug auf die Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens zu?
4. Mit welchem Recht behauptet die christliche Kirche, Vertreterin der einzig wahren Religion und Gottesidee zu sein? Da es mehrere Religionen und mehrere Religionsgemeinschaften/Kirchen gibt: Wie kann ihr Zusammenleben, wenn doch jede ihren Gott für den einzigen hält, organisiert werden?
Zumindest für die Ebenen 3 und 4 war China bedeutend, weil dort selbst nach den Berichten der Jesuiten (siehe unseren Kommentar zum Artikel Über China) ein Staat existierte, der seit Jahrhunderten völlig ohne Religion und Kirche, insbesondere ohne das Christentum auskam und nach seinen eigenen konfuzianischen nicht-religiösen Grundsätzen funktionierte. Deshalb kleidet Voltaire diese für die Aufklärung entscheidende Diskussion in ein chinesisches Gewand. Die Entdeckung Chinas und der dortigen Lebensweise war ebenso überwältigend, wie wenn man heute einen fremden Planeten entdeckte, auf dem die Menschen völlig friedlich, bei gemeinschaftlicher Herstellung und Verteilung des Reichtums, genüsslich lebten – und das alles mit 20 Stunden Arbeit pro Woche….


Hintergrund:
A
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Die alltägliche Verfolgung von Religionskritikern steht im Hintergrund des Chinesischen Katechismus, die Voltaires Vorsicht, sein Zurückweichen zum Schluss eines jeden der ersten drei Gespräche dieses Dialogs, verständlich machen. Zwei Beispiele für die existentielle Bedrohung von Philosophen der Aufklärung seien hier exemplarisch aufgeführt, auch das Leben de La Mettries gehört hierher, der sich vor den christlichen Häschern an den Hof Friedrich II. nach Berlin retten konnte, um dort als dessen Vorleser und Spassmacher zu fungieren:  

Die Verfolgung von Christian Wolff, Mathematikprofessor und Prorektor der Universität Halle
Wolff wurde nach seinem Vortrag mit dem Titel: Rede über die praktische Philosophie der Chinesen (12. Juni 1721) von der Universität und aus Preußen überhaupt verbannt. In seinem Artikel De La Chine berichtet Voltaire von dem empörenden Vorgang und zeigt Wolff als Märtyrer der Aufklärung, Opfer des verfolgerischen Christentums. Seinen Chinesischen Katechismus, insbesondere den zweiten Teil, kann man als Ergänzung zu Wolffs Rede lesen. Voltaire war mit Christian Wolff durch seine Lebensgefährtin Emilie du Châtelet, eine Wolffianerin, intensiv befasst und er besuchte ihn sogar in Halle. Er teilte nicht dessen Ansicht von unserer Welt als der besten aller möglichen und auch nicht Wolffs Hoffnung, Gott und die Religion verstandesmäßig, mit mathematischer Genauigkeit begründen zu können.
Dies sind die Thesen von Christian Wolff die er in seiner Rede vertritt, in der er seine starke Übereinstimmung mit Konfuzius  aufzeigt (Wolff bezieht sich dabei – wie später auch Du Halde in seinen Bericht über Konfuzius  – auf François Noël ):
– wie schon Konfuzius lehrt, ist es dem Einzelnen möglich, zu erkennen, was gut und was böse ist. Dieses Erkenntnisvermögen zu schulen ist eine wichtige, lebenslange Aufgabe
– den Menschen ist (Ethik der Autonomie) das Erkenntnisvermögen „ins Herz geschrieben, sie selbst sehen, was gut ist“, das wirklich tugendhafte Handeln, resultiert aus der Vernunft und nicht aus der Furcht vor einem Herren, nicht als Reaktion auf Belohnung oder Strafe: (Woher die Tugend kommt).
„Wer durch die Vernunft zum Guten angetrieben wird, der wird durch den freien Willen zu guten Handlungen bestimmt und braucht, um beim guten zu bleiben, keinen Herren“ (S.37 V 436 f).
– Zur Vollkommenheit  gelangt man durch nicht durch ständiges Bekämpfen des Bösen/der Laster, sondern durch beständiges Fortschreiten in der Erkenntnis, im Gebrauch der Vernunft. Die Erprobung dieser Grundsätze, könne man, meint Wolff, „nirgendwo sicherer auffinden als bei den alten Chinesen, bei denen es überhaupt keine Religion gab“(S.47, V. 615). Prof Heiner Roetz (Univ. Bonn) schrieb 2021 in einem Aufsatz zum 300 jährigen Jubiläum der Rede Wolffs: „Wolffs China-Rede war eine der seltenen Sternstunden einer zukunftsweisenden kosmopolitischen Philosophie. Seine Liaison mit dem Konfuzianismus hat nicht nur dazu beigetragen, die Ethik von ihrer Bevormundung durch die Theologie zu befreien, sondern auch dazu, sie auf den Pfad der Autonomie zu bringen“.
Lit.: Heiner Roetz, Menschen brauchen keine Religion und keine Gesetze – „Sie sehen selbst, was gut ist“ 08.07.2f021 (Heiner Roetz ist emeritierter Professor für Geschichte und Philosophie Chinas an der Universität Bochum).

Die Inhaftierung von Denis Diderot wegen seinem Brief über die Blinden zum Gebrauch für die Sehenden , 1749
Kurz nach der Veröffentlichung seines Textes wurde Diderot am 24.7.1749 verhaftet und in dem Gefängnis Vincennes inhaftiert, aus dem er erst am 3. November 1749 wieder entlassen wurde. In dem Brief über die Blinden geht es um die Frage, wie es mit der Allmacht Gottes zu vereinbaren sei, dass es Menschen gibt, die von Natur aus blind sind. Ausgehend von John Lockes Versuch über den menschlichen Verstand, nachdem in der Welt unseres Verstandes nichts existiert, was nicht auf einer sinnlichen Wahrnehmung beruht, bezweifelt er, dass man Gründe für die Annahme der Existenz eines allmächtigen Gottes finden könnte. Wenn man die Existenz Gottes, wie es der Deismus tut, aus der bewundernswerte Harmonie der Welt und ihrer unveränderlichen (Natur-) Gesetze ableitet, welche Stellung nehmen dann in dieser Welt die von Natur aus Blinden ein? Ausgehend von dieser Frage kommt er zu einem grundsätzlichen Zweifel an der christlichen Schöpferidee. Wenn es aber keinen allmächtigen Gott gibt, sind auch unsere Ideen über das Böse und das Gute nicht absolut gültig, sondern relativ. Auch sie sind abhängig von unserer körperlich-sinnlichen Wahrnehmung. Diese, in die Worte eines Blinden gekleidete Argumentation war ausreichend, um Diderot ins Gefängniss zu werfen. (siehe dazu:  Pierre Lepape, Denis Diderot, Frankfurt: Campus, 1994,S.8-16, S.88 ff, er folgt: Paul Bonnefon, Diderot prisonnier à Vincennes, in: Revue d’histoire littéraire de la France, Juli-Sept. 1899; einige der Briefe der Buchhändler und Verleger, die sich für die Freilassung Diderot einsetzten, findet man (frz.) in ARTFL, einem US-amerikanischen Projekt zur Digitalisierung bedeutender französischsprachiger Texte) .

B.
Außerdem sollte man sich den religiösen Hintergrund für die sechs Gespräche des Chinesischen Katechismus vor Augen führen:
1. Gespräch: Der Himmel als „Wohnung Gottes“ ist der Ort, wo die Guten landen während die Hölle für die Schlechten ist (Das christliche Glaubensbekenntnis: „ich glaube an Gott, …den Schöpfer des Himmels und der Erde…..“)
2. Gespräch: Gott als Schöpfer der Welt ist dem Christentum zufolge allmächtig („ich glaube an den allmächtigen Gott…“)
3. Gespräch: Die Seele ist der unsterbliche Teil des Menschen und wird nach dem Tod entweder aufsteigen oder muss, besonders wenn sie nicht getauft ist, in der Hölle schmoren. („ich glaube an die Auferstehung der Toten … und an das ewige Leben.“, Jesus wird „richten die Lebenden und die Toten.“)
4. Gespräch: Das Christentum ist der einzig wahre Glauben und seine religiösen Grundsätze stehen über den weltlichen Gesetzen. Keiner anderen Religion soll es erlaubt sein, über der christlichen zu stehen. („ich glaube an die heilige/christliche– katholische Kirche“)
5.  Und 6. Gespräch:  Glaube, Liebe und Hoffnung gelten dem Christentum als die höchsten Tugenden.

Die folgenden Anmerkungen zu einzelnen Textstellen beziehen sich mit ihren Seitenangaben auf die von uns bei Reclam herausgegebene Ausgabe des Philosophischen Taschenwörterbuchs (2020):

Erstes Gespräch

Anmerkung 1 Titelerklärung (S.108):
– Zisi, auch Tse Sse (481 – 402 vuZ) war der Großenkel von Konfuzius.
– Voltaires Dialog fußt auf der Description de la Chine von J.-B. Du Halde, in der er das vierte der klassischen Bücher (Meng Tsée, ou livre de Mencius) vorstellt, das ihm in der Übersetzung von François Noël vorlag. Mengzi (um 370–290 v. Chr.), einer der bedeutendsten Konfuzianer, unterweist dort diverse Adlige in der Kunst des guten Regierens. Diese Dialoge des Mencius waren ganz offensichtlich das Vorbild des Chinesischen Katechismus.
– Jean-François Fouquet, Jesuit, (1655-1741) hielt sich von 1710 bis 1717 in Peking auf. Er ist der Verfasser von Abhandlungen über das Tao, über Konfuzius. Einige seiner Manuskripte befinden sich in der Bibliothek des Vatikans.

Anmerkung 2 (S.108 „Himmel (Shangdi)“):
Der Begriff Shangdi https://en.wikipedia.org/wiki/Shangdi geht auf das zweite chinesische Kaiserreich zurück, die sogenannte Shang Dynastie (18. – 11. Jhdt v.u.Z.) deren Kaiser auf Orakelknochen genannt und offenbar göttlich verehrt wurden. Der Kaiser so glaubte man, empfing sein Herrschermandat vom Himmel und kehrte nach seinem Tod an die Seite des „Shangdi“ zurück. Weil diese Vorstellung der christlichen vom Gottkaisertum und von Gott als dem „Schöpfer des Himmels und der Erde“ fast vollständig entspricht, kann sie hier als „chinesische“ gefahrlos lächerlich gemacht werden.

Anmerkung 3 (S.111 oben „… die Strahlen, die von Ihren Augen bis zum Scheitelwinkel zwei gleiche Winkel bilden“): Gemeint sind die beiden Geraden, die vom Rand eines Gegenstands zum Auge führen, dort im Scheitelpunkt zusammenkommen und sich im gleichen Winkel in das Innere des Auges fortbewegen, wo sie auf die Netzhaut treffen. Die Natur des Lichts wurde im 18. Jahrhundert von Newton erforscht und beschrieben. Voltaire machte die Entdeckungen Newtons bereits 1732 in seinen Philosophischen Briefen bekannt. Später bauten er und seine Lebensgefährtin Emilie du Châtelet die Experimente Newtons in ihrem physikalischen Labor in Cirey nach und überprüften seine Aussagen. Ihre Ergebnisse veröffentlichte Voltaire die Eléments de la philosophie de Newton (1738). Emilie du Châtelet wiederum übersetzte bis kurz vor ihrem Tod im Jahr 1749 Newtons Principia Mathematica vom Lateinischen ins Französische: Principes Mathématiques de la Philosophie naturelle par feue Madame la Marquise du Chastellet, Paris: Desaint & Saillant, Lambert, 1756 Vol 1, 417 p. vol 2 297p.

Zweites Gespräch

Anmerkung 4 (S.114 Zisi: „Die (Regeln) des Konfuzius…“): Voltaire zitiert die beiden Regeln aus dem Lun-yu (Buch der Gespräche), dem zweiten kanonische Buch der konfuzianischen Lehren, wie es Du Halde präsentierte. In der Übersetzung von Buch XI: „Einer bat, dass er ihn lehren möge, wohl zu sterben, so sagt er: Ihr habt noch nicht angefangen wohl, lernet dieses, so wisset ihr auch wohl zu sterben“; Buch XII: „Gehet mit anderen so um, als ihr es euch selbst von anderen wünschet“

Anmerkung 5 (S. 115 Gu: „So wird ihnen Gott erlauben böse zu sein…?)
Wie das Böse in die Welt kam, wenn doch Gott allmächtig ist, war – nicht nur im 18. Jhdt. – eine vieldiskutierte Frage. Leibniz schrieb ein ganzes Buch (die Theodizee) darüber und kommt zu dem Schluss, dass Gott die beste aller möglichen Welten geschaffen haben musste, in der das Böse eben vorkommt. Siehe dazu den Artikel Tout est bien – Alles ist gut und unsere Kommentarseite dazu.

Anmerkung 6 (S. 115 Gu: „Aber wenn ich sicher bin, dass es überhaupt keines [anderes Leben nach dem Tod] gibt?“): Das zweite Gespräch mündet in einer atheistischen Position, was im 18. Jhdt. ziemlich gefährlich war. Vielleicht deshalb wird sie von Voltaire mit dem klassischen Winkelzug der Beweisumkehr, dass der Zweifelnde beweisen soll, dass es Gott, oder ein anders Leben nicht gibt, entschärft.

Drittes Gespräch

Dieses Gespräch ist ein gutes Beispiel dafür, wie Voltaire sich hinter seinen Protagonisten versteckt, mal ist er Gu, mal ist er Zisi. Vertritt Voltaire atheistische, gotteslästerliche Meinungen? Nein, nur Gu vertritt sie (S.120)…Zisi tritt ihnen entgegen, aber schon die Antwort Gus (S.121) ist wieder eine original Voltairesche Position usw. Deshalb ist es so schwer herauszufinden, wie weit Voltaire in seiner Religionskritik wirklich ging. Deshalb waren zwei ausgewiesene Voltaire Experten Pomeau (er hält Voltaire für eine Deisten) und Bestermann (er hält ihn für einen Agnostiker) gegensätzlicher Meinung. Siehe dazu unser Exzerpt der Dissertation von Pomeau: La Réligion de Voltaire.

Anmerkung 6 (S. 116 Gu: „Ist also die Seele…selbst nichts als ein Wort?“): Siehe dazu den Artikel Âme – Seele und unsere Kommentarseite dazu, außerdem die Diskussionsbeiträge zum Thema Die Seele im 18. Jhdt.

Anmerkung 7 (S. 119 Gu: dass wir immer Vorstellungen haben, auch wenn wir schlafen): Siehe dazu den Artikel Songes – Träume,

Anmerkung 8 (S. 120 oben, Zisi: „..haben Sie einen Willen und sind frei“): Über die Freiheit des Menschen s. den Artikel De La Liberté – Über die Freiheit.

Anmerkung 9 (S. 120 unten, Zisi: „..Deshalb ist es nötig, dass das Gute und das Schlechte ihr Urteil in einem anderen Leben finden“): Diesen Gedanken äußert Voltaire an etlichen Stellen, er unterstützt die disziplinierende Funktion der Religion und hofft, dass sie hilft, die Aggressionen des Volkes einzudämmen. Über Funktion des Glaubens an eine „jüngstes Gericht“ siehe unsere Zusammenfassung von R. Pomeau, La Religion de Voltaire, S. 398-406 und den Art. Enfer -Hölle.

Anmerkung 10 (Gu: “..zweihundert Familien ehemaliger Sionous..“): Eine Stadt, in der Juden seit dem 8., 9. Jh. lebten, war Kaifeng. Sie waren über die Seidenstraße gekommen. Die dortige Synagoge wurde von einem Franzosen, dem Jesuitenpater Jean Domenge, 1722 gezeichnet. Voltaire konnte von ihrer Existenz bei Du Halde (Description de la Chine, III, 64 b) erfahren.

Viertes Gespräch


In diesem Gespräch stellt Voltaire mit Hilfe der jesuitischen Kritik an den Konkurrenzreligionen, wie sie Du Halde wiedergibt, bevor er die jesuitische Mission in den höchsten Tönen lobt, die Absurditäten nicht nur jener, sondern auch der jesuitischen Glaubenserzählungen bloß. Die chinesische konfuzianische Lehre schneidet dagegen außerordentlich gut ab.

Anmerkung 11 (S. 123 oben, Zisi: „Sie opfern [dem Shangdi] vier mal im Jahr“): Du Halde beschreibt ausführlich die Frühlingszeremonie, bei der der Kaiser wie ein Bauer die Saat mit fünf verschiedenen Körnern ausbringt, um sie im Herbst zu ernten.

Anmerkung 12 (S.123 Gu: „fette Bergweisen, die nicht betrachtet werden dürfen“): Ironische Anspielung auf den Psalm 67, Vers 17 n.d. Bibelübersetzung von Lemaistre de Sacy : https://fr.wikisource.org/wiki/Bible_Sacy/Psaumes#CH068 „Was schaut ihr bewundernd auf Berge, die fett und fruchtbar sind?“ Voltaire beginnt mit den Absurditäten des Christentums.

Anmerkung 13 (S.123 Gu: „wenn ich den Mond zum Stillstand gebracht haben werde“):
Bezieht sich auf das Alte Testament, Josua, Kap. 10, Vers 12-13 „Sonne stehe stille zu Gibeon, und Mond, im Tal Ajalon! Da stand die Sonne still und der Mond blieb stehen, bis sich das Volk an seinen Feinden gerächt hatte.“

Anmerkung 14 (S.123, Gu: „Einerseits sehe ich Laotse…“): Über die sagenumwobene Geburt des Laotse und seine weißen Haare berichtet Du Halde (1735, III, 49; dt. III, S. 63 ; was die Lehre von der Vernichtung angeht, bezieht sie Du Halde in dem direkt auf Laotse folgenden Paragraphen ((1735, III, p.49; dt. III, S. 64 §116) auf Fo, d.i. Buddha: „Sehet ihr aber nicht, dass diese schöne Lehre von der Vernichtung seiner selbst, von der allgemeinen Entäußerung endlich auf eine chimärische Unsterblichkeit und auf ein solches Verlangen hinauslaufe, das nie erfüllt werden kann“.

Anmerkung 15 (S.124 Gu: „…Phantastereien von den Bonzen…“): Du Halde macht deutlich, wie die (buddhistischen) Bonzen das Volk täuschen, er beschreibt ihre Selbstkasteiungen und erzählt eine Anekdote, nach der sich ein Bonze auf einen ganz mit Nägeln besetzten Stuhl setzte und er berichtet von anderen, die sich dicke Ketten von mehr als 30 Fuß Länge um Hals und Füße hatten anbringen lassen. (Du Halde, 1735, III, 24 a + b; dt.: Du Halde III, S.32,33 §60 u. 61)

Anmerkung 16 (S.124 Mitte, Gu: „dass es besser ist, Gott mehr als den Menschen zu gehorchen“): Das ist die Antwort, die Petrus und die Apostel im Tempel dem Hohenpriester geben (Apostelgeschichte 5,29): „Haben wir euch nicht streng geboten, in diesem [christlichen] Namen nicht zu lehren? Und seht, ihr habt Jerusalem erfüllt mit eurer Lehre und wollt das Blut dieses Menschen über uns bringen. Petrus aber und die Apostel antworteten und sprachen: Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.“

Anmerkung 17 (S.124, Zisi: „Der Shandi bewahre mich davor, in Ihnen den Geist der Toleranz …auslöschen zu wollen“): Siehe den Artikel Tolérance -Toleranz.

Anmerkung 18 (S.125, Zisi: „Die chaldäischen Priester…behaupteten, ein berühmter Hecht namens Oannes habe sie einst die Theologie gelehrt“): Oannes, halb Mensch, halb Fisch, ist ein Götterbote der babylonischen Religion aus den Anfängen der Zeit, wie von Berossos (302- v.u.Z.) berichtet und von Abbé Bannier erzählt wird. Es ist offensichtlich, dass Voltaire die Geschichte als Schablone benutzt, um sich über die scholastischen Grübeldebatten lächerlich zu machen.

Fünftes Gespräch

Anmerkung 20 (S.128, Gu: Könige die 300 Frauen haben, kommen nicht zu den Staatsgeschäften):
Das ist eine Anspielung auf den König Salomon und seine legendäre Polygamie (AT, I. Könige, 11, 3)
Während für Voltaire einerseits die Polygamie abzulehnen ist, kritisiert er ebenfalls das katholische Zölibat als gegen den prosperierenden Staat gerichtet. Der Abbé Saint-Pierre (=Charles Irénée Castel de Saint-Pierre) forderte dessen Abschaffung (Ouvrages de politique, vol 2, V. Observations politique sur le célibat des prêtres, Rotterdam 1733-1741 p.150-183)

Anmerkung 21 (S.128: Gu: 50 Eunuchen, um in der Pagode zu singen):
Wieder versteckt Voltaire seine Kritik an der Kirche, diesmal hinter dem Dalai Lama. Mit den Verstümmelten des Dalai Lama sind deutlich die Jungen gemeint, die man noch im 18. Jhdt. auf Befehl des Papstes kastrierte, um sie als Sopranisten im Chor des Vatikans einzusetzen (siehe: Ambrosini, Maria Luisa, Die Geheimen Archive des Vatikans, München Kösel, 1972, S.188 f. Der Autorin zufolge wurde die Jungen-Kastration von Benedikt XIV abgeschafft, andere bekannte Kastraten im 19. Jahrhundert deuten auf einen wesentlich längeren Fortbestand der Praxis hin. Als letzter Kastrat des Vatikans gilt ein gewisser Alessandro Moreschi, der von 1858 -1922 lebte) .

Anmerkung 22 (S.130: die Freundschaft):
Die Freundschaft gehört bei Konfuzius zu den fünf elementaren menschlichen Beziehungen und ist die einzige Beziehung unter Gleichrangigen. Siehe dazu auch den Artikel Amitié – Freundschaft

Anmerkung 21 (S.131 Zisi: „dass unsere guten Handlungen nur glanzvolle Sünden seien“):
In seinem Kampf gegen den Pelagianismus Julians spricht Augustinus (Contra Julianus Plegianus) den Ungläubigen ab, tugendhaft sein zu können. Sie haben vielleicht ihre Pflichten erfüllt, aber nicht wirklich Gutes getan, sondern ihre Taten waren alle mehr oder weniger schwere Sünden, weil ihnen der christliche Glaube fehlte. Ein schlechter Baum bringt keine guten Früchte hervor. S. dazu Johann Ernst, Augustinus gegen Julian, S.80 fff

Sechstes Gespräch

Anmerkung 23 (S.132, Zisi: Lob der Gastfreundschaft): Viele der frühen Chinareisenden berichteten über die große dort herrschende Gastfreundschaft, insbesondere die der kostenlosen Unterkünfte – Voltaire hat diese Einrichtung in das Eldorado seines Candide übernommen.

Anmerkung 24 (S.134, Sammoncodom lässt die Drachen steigen): Sammonocodom ist zwar nach der Enzyklopädie der siamesische Name für Buddha, doch soll er bereits lange vor Christi Geburt der Gott der Siamesen gewesen sein und sich in 550 Tieren inkarniert haben. Voltaire folgt dem jesuitischen Missionar Guy Tachard (Voyage de Siam, Paris 1686), der mehrfach nach Siam gereist war. Von ihm stammt die Geschichte über Sammonocodom, der Drachen steigen lässt und den Bäumen befiehlt, dabei nicht zu stören.

Anmerkung 25 (S.134, die Kamis, die vom Mond herunterkamen): Die Kamis sind im japanischen Shintoismus verehrte Geister oder Götter. Voltaire bezieht sich auf Engelbert Kaempfer (1651-1716), einer der ersten Europäer, die Japan bereisten. Er wurde Leibarzt des Grafen Friedrich Adolf zur Lippe, weshalb er nicht dazu kam, alles zu veröffentlichen. Erst nach seinem Tod wurden einige seiner Manuskripte veröffentlicht, Teile seines Nachlasses wurden vom Leibarzt des englischen Königs Sir Hans Sloane gekauft, übersetzt und als The History of Japan 1727 publiziert. Bereits 1729 erschienen die ersten Auflagen einer französischen Übersetzung und Christian Wilhelm Dom brachte 1777-79 unter dem Titel Engelbert Kaempfers Geschichte und Beschreibung von Japan bei Meyer in Lemgo eine deutsche Version heraus. Ausführlich dazu der Wikipediaeintrag Engelbert Kaempfer.

Philosophisches Taschenwörterbuch: De la Chine – Über China. (Kommentare)

Hintergrund:
Das 18. Jahrhundert war, noch kurz vor dem Erscheinen des Philosophischen Wörterbuchs Voltaires, Schauspiel einer heute fast unbekannten, sehr heftig geführten Auseinandersetzung über China. Erbitterte Angriffe gegen Chinas angeblich götzendienerische Religion wurden von christlich-fundamentalistischer Seite geführt und trugen zum Verbot des Jesuitenordens bei, weil dieser sich der geforderten Sinophobie verweigerte. Diese antichinesischen Angriffe legten auch die Wurzeln für den Hass, der China im 19. Jahrhundert während der Zeit der Kolonisierung entgegenschlug und wirken noch heute in der agressiven Ablehnung Chinas fort, weil es dem westlich eingespielten Modell einer repräsentativen parlamentarischen Demokratie nicht folgt und nicht zu folgen bereit ist.

Bei der Missionierung für das Christentum war in China der Jesuitenorden besonders erfolgreich. Seit Pater Matteo Ricci (1555-1610), Pater Johann Adam Schall von Bell (1591 -1666) und viele andere Jesuiten sich in einer über 100 jährigen zähen Missionsarbeit mit ihren Kenntnissen auf den Gebieten der Geometrie, Astronomie und Mathematik das Vertrauen des chinesischen Hofes erworben hatten, ging es mit dem Christentum in China voran. Selbst Mitglieder der Kaiserfamilie waren Ende des 17. Jahrhunderts zum Christentum übergetreten und der Kaiser Kangxi höchstpersönlich erließ am 22.3.1692 ein Toleranzedikt, dass den Christen (Jesuiten) für ihre Missionstätigkeit freie Hand ließ.

Der Erfolg der Jesuiten war erstens ihren unbestreitbaren wissenschaftlichen Kenntnissen, die sich die Chinesen zunutze machten, zweitens ihrer Anpassungsbereitschaft an lokale chinesische Gepflogenheiten (z.B. der Kleiderordnung) und drittens ihrer Bereitschaft, die religiösen Riten und Gebräuche in das von ihnen den Chinesen verkündete Christentum zu integrieren (Einen kurzweilig zu lesenden Überblick über das Engagement der Jesuiten in China gibt: Fülöp-Miller, Réné, Macht und Geheimnis der Jesuiten, 1947 VMA: Wiesbaden 1960, 829 S., insb. S.350-419).

So war es auch im Falle der Chinamission: Plötzlich erschienen Pamphlete, die die Jesuiten anklagten, die christliche Lehre verwässert zu haben, indem sie den chinesischen Ahnenkult akzeptierten, die Anbetung von Ahnenbildern/-statuen tolerierten, was Götzendienst sei und schließlich, dass sie die Kreuzigung Jesus bei ihrer Verkündigung des Christentums unter den Chinesen unter den Teppich kehrten (was stimmte, denn die Jesuiten wussten sehr wohl, dass der Kreuzestod für Chinesen eine äußerst verächtliche und schmachvolle Todesart war).

Nach Jahren der Mißwirtschaft in Frankreich war die Monarchie geschwächt. Gegen Ende des 17. Jahrhunderts gewann die Kirche wieder stärkeren Einfluß auf den Hof. Sie hatte direkten Kontakt zum König über den am Hof installierten königlichen Beichtvater (einen Jesuiten), der 1670 sogar das Recht erhielt, Kandidaten für sämtliche neu zu besetzenden Kirchenstellen vorzuschlagen. Sie nutzte den Zuwachs an Einfluss sofort, um die ihnen verhassten Hugenotten einer heftigen Verfolgungswelle zu unterziehen. Aber sie überspannten den Bogen und gingen auch gegen die Janseninsten vor, die im absolutistischen Machtapparat sehr viel besser verankert waren. So kam es, dass am Ende der Jesuitenorden selbst als Gefahr für den Absolutismus gesehen wurde und 1764 in Frankreich, aber auch in Portugal und in Spanien verboten wurde. Das war praktisch: man zeigte dem Papsttum seine Grenzen, attackierte „nur“ seinen wichtigsten Orden und ermöglichte so der Kirche, sich durch taktische Manöver aus dem Schussfeld zu nehmen, wobei sie auch nicht davor zurückschreckte, die Jesuiten, denen sie so viel zu verdanken hatte, durch Dominikaner und Franziskaner angreifen zu lassen.
Die Kampagne gegen die Jesuiten gipfelte schließlich in der Aufhebung des Jesuitenordens durch den Vatikan im Jahr 1773 und in allen katholischen Ländern Europas.

Voltaire bezieht sich auf den Bericht des Jesuiten Daniel Louis le Comte (1655 – 1728) (zu le Comte s. frz. Wikipediaartikel , mit einer Beschreibung der von Ludwig XIV. unterstützten jesuitischen Mission) , der seine Erfahrungen als christlicher Missionar in China in dem 1696 erscheinen Werk Nouveau mémoire sur l’état présent de la Chine veröffentlichte und damit großes Aufsehen erregte, vor allem, weil er behauptete, die Chinesen hätten die wahre Religion bereits viele Jahre vor dem Christentum entdeckt. Sein Werk wurde 1762, also zwei Jahre vor dem Erscheinen des Philosophischen Taschenwörterbuchs, in Paris auf höchstrichterlichen Entscheid verbrannt.
1698 erschien von Pater Charles le Gobien (1652 – 1708) Nouveaux mémoires sur l’état présent de la Chine, Paris 1698, III.[1-2]. Diese Schrift wurde am 18. 10.1700 durch die Theologischen Fakultät in Paris zensiert, weil le Gobien die chinesische Ahnenverehrung nicht verdammte.
Von 1709 – 1743 veröffentlichte Jean Baptiste du Halde (1674 . 1743) seine Description géographique, historique, chronologique, politique et physique de l’empire de la Chine et de la Tartarie chinoise mit zahlreichen Karten und gezeichneten Darstellungen chinesischer Orte. Dt: Ausführliche Beschreibung des Chinesischen Reichs und der grossen Tartarey. Johann Christian Koppe, Rostock 1747–1756, Band I 1747, Band II 1748, Band III 1749, Band IV 1749, Zusätze 1756. Das Werk ist gewissermaßen die Zusammenfassung der über 100 jährigen Missionstätigkeit der Jesuiten in China, du Halde war zwar selbst nie in China, er verarbeitete jedoch die Berichte seiner Ordensbrüder zu einem sehr publikumwirksamen Werk. Es blieb bis in das 19. Jahrhundert hinein das maßgebliche Standardwerk über China und beeinflusste die Diskussion über die chinesische Welt. Er achtete sorgsam darauf, die chinesische Kultur der europäischen stets unterzuordnen. Darin folgte ihm auch Denis Diderot , der in seinem Artikel „Chinois“ der Enzyklopädie v. 1753 behauptet, China sei rückständig, stehengeblieben und nur durch die europäischen Missionare wieder zu neuem, fortschrittlichen Wissen gelangt.

Die aufgeklärten Kreise in Frankreich und auch Deutschland diskutierten leidenschaftlich die Frage, ob und wie es sein könne, dass eine Gesellschaft wie die Chinesische über Jahrhunderte existierte, ohne wirklich an einen Gott zu glauben, ohne eine zentrale Religion zu haben. Pierre Bayle (Dictionnaire historique et critique, 2. Ausgabe von 1702) nahm China als Beispiel für eine Gesellschaft von Atheisten, die funktionierte, also ohne Religion auskam. Das brachte die christlichen Gegner zur Weißglut. Als Professor Christian Wolff (siehe dazu die Biographie: H. J. Kertscher, Er brachte Licht und Ordnung in die Welt. Christian Wolff – eine Biographie, Halle: mdv, 2018: dazu unsere Rezension) am 12. Juli 1721 in einem Vortrag auf Latein mit dem Titel „Rede über die praktische Philosophie der Chinesen“ in Halle ähnliches vertrat, waren seine Tage gezählt, die Pietisten um den Pfarrer Lange ruhten nicht, bis sie Wolff am 23 November 1723 außer Landes getrieben hatten (Es war 1740 eine der ersten Amtshandlungen Friedrichs des Großen, Wolff aus dem Exil zurückzurufen).

Man kann von einer wahren Chinabegeisterung im 18. Jahrhundert sprechen, chinesisches Porzellan, chinesische Seide, chinesische Tees waren gefragte und sehr teure Artikel bis hin zu Gebäuden im chinesischen Stil, wie sie noch heute die zahlreich vorhandenen Chinapavillons in den Schlossparks zeugen (etwa im Garten von Sans Souci in Potsdam). Während die klerikal-christlichen Kreise nach dem Ende der Jesuitenmission China verteufelten, wendete sich die Aufklärung China positiv zu.

Voltaire hatte bereits 1751 in seinem Siècle de Louis XIV (Kapitel 39) über die Feindseligkeiten gegen die erfolgreiche Missionstätigkeit der Jesuiten berichtet, die am Ende dazu führten, das sich China angeekelt vom Christentum abwandte.

1756 waren die ersten beiden Kapitel seines Essay sur les moeurs, mit dem er nichts weniger als die erste, nicht von christlicher Heilslehre verunreinigte Weltgeschichte publizierte, China gewidmet. Dieses umfassende, bis zu Ludwig XIII. im 17. Jhdt reichende Geschichtswerk, beginnt nach einem Vorwort mit der Geschichte Chinas und behandelt im zweiten Kapitel die chinesische Religion. Nach Voltaire resultiert die Zuschreibung Chinas als atheistische Kultur auf der Unart des Christentums, alles, was nicht seiner Lehre entspricht, als gottlos und als atheistisch zu verdammen:
„Wir haben die Chinesen nur deshalb verleumdet, weil ihre Metaphysik mit der unseren nicht völlig übereinstimmt. Wir hätten aber zwei ihrer Vorzüge bewundern sollen, nämlich, dass sie sowohl den Aberglauben der Heiden, als auch die Sitten der Christen verabscheuten“ (2.Kap., S. 34).

Er hält China nicht für eine Gesellschaft von Atheisten, denn die Zuschreibung „atheistisch“ sei falsch. Nach Voltaire hätten die Chinesen getreu der konfuzianischen Lehre doch an einen allmächtigen, hinter dem Kaiser stehenden Gott geglaubt. Der Essay sur les moeurs war im Übrigen das allererste Werk der Neuzeit, das die Geschichte der Welt nicht auf den europäischen Kontinent beschränkte und anerkannte, dass lange vor der europäischen Zivilisation in China eine dieser deutlich überlegene Hochkultur existierte.
Die Größe der chinesischen Kultur ist auch Thema in Voltaires Theaterstück „L’Orphelin de la Chine“ (1755), in dem der grausame Mongolenherrscher Dschingis Khan die Überlegenheit Chinas über das barbarische mongolische Reitervolk anerkennt.

Quellen:
– Voltaire, Oeuvres complètes, Oxford: Voltaire Foundation, 1968 – 2022, 205, hier: Bd. 35
Etiemble, René, L’Europe Chinoise, Bd. 2: De la sinophilie à la sinophobie, Paris: Gallimard, 1898, 408 p.
Tricoire, Damiens, Von der Sinophilie zur Sinophobie?: aufklärerische Geltungsansprüche und Chinabilder im 18. Jahrhundert, in: Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung, 67, S.151-172
Pinot, Virgile, La Chine et la Formation de l’Esprit Philosophique en France (1640-1740), Paris: Geuthner, 1932, 480 p.

Die folgenden Kommentare zu einzelnen Textstellen beziehen sich mit ihren Seitenangaben auf die von uns bei Reclam herausgegebene Ausgabe des Philosophischen Taschenwörterbuchs (2020):

Anmerkung 1 (S.104, erster Absatz: „…dass sie zum frischgebackenen Adel gehörten…”): Bis 1727 musste man in Frankreich, um Staatssekretär zu werden, das Amt kaufen. Derjenige, der es kaufte, wurde sogleich geadelt, weshalb das Verfahren auch als „Gemeinenseife“ bezeichnet wurde. Deshalb gab es auch den netten Spruch: „Hätte Adam nur ein Quentchen Verstand besessen, er hätte sich das Amt des königlichen Staatssekretärs gekauft und die ganze Menschheit wäre adlig geworden“ (H. Méthivier, L’Ancien régime en France, Paris 1981, S. 80, nach: Oeuvres compl., Oxford: Voltaire Foundation, Bd. 35, 2011, S. 530).

Anmerkung 2 (S. 105, erster Absatz und ff: „…ihn [Wolff] zu beschuldigen, dass er nicht an Gott glaube..“): Im Vorwort zu Voltaires Poème sur le désastre de Lisbonne (1756) findet sich folgende Anmerkung: „So hat der Doktor Lange den respektablen Wolff als Atheisten tituliert, weil er die Moralität der Chinesen gelobt hatte; und als Wolff sich auf das Zeugnis der Jesuitenmissionare in China berief, antwortete der Doktor: ‚Weiß man denn etwa nicht, dass die Jesuiten Atheisten sind?’“. nach: Oeuvres compl., Oxford: Voltaire Foundation, Bd. 35, 2011, Anm. 14, S. 532

Anmerkung 3 (S. 105, zweiter Absatz: „…die Regierung in Peking sei atheistisch..“): Noch 1730 war Voltaire der Annahme von Pierre Bayle (Dictionnaire historique et critique, 2. Ausgabe von 1702) vom Atheismus der gebildeten Chinesen gefolgt. 1755 jedoch schreibt er in Bezug auf China in einer seiner Tagesnotizen (Oeuvres complètes, 1968, 81, S.135): „Es gibt [in China] Atheisten, doch die Regierung ist nicht atheistisch und kann es nicht sein“. nach: Oeuvres compl., Oxford: Voltaire Foundation, Bd. 35, 2011, Anm. 15, S. 533

Anmerkung 4 (S. 106 zweiter Absatz „…dass dort die Gesetze herrschten.…“): Nach Du Halde setzte Fuhi einen ersten Minister ein und teilte die Regierung des Reiches unter vier Mandarine auf: „So erlebten seine Gesetze eine Blütezeit“. (Description de la Chine, I.272-73, nach: Oeuvres compl., Oxford: Voltaire Foundation, Bd. 35, 2011, Anm. 21, S. 536).

Anmerkung 5 (S. 106 zweiter Absatz „…und all die anderen Künste.…“): Im Essai sur les moeurs, erinnert Voltaire daran, dass die Chinesen seit zweitausend Jahren, lange vor den Persern, den Buchdruck erfunden haben und gelernt haben, Glas herzustellen; dass sie mit dem Hammer geprägte Münzen aus Gold und Silber hatten.

Anmerkung 6 (S. 106 dritter Absatz „…seltsame Berechnungen.…“): Denis Petau (1583-1652), damals ein berühmter Chronologe und Historiker in Paris, hatte berechnet, dass ein einziger Sohn Noahs eine Rasse hervorbrachte, die nach zweihundertfünfundachtzig Jahren sechshundertdreiundzwanzig Milliarden und sechshundertzwölf Millionen Menschen zählte. Voltaire: „Die Rechnung geht ein bisschen zu weit“ La Philosophie de l’histoire, Kap. 24, in Oeuvres compl., Oxford: Voltaire Foundation Bd. 59, S. 172).

Anmerkung 7 (S. 106 dritter Absatz, Ende „…wie wenig sich die Menschheit doch vermehrt.…“): Montesquieu u.a. behaupteten, die Bevölkerung der Erde im achtzehnten Jahrhundert sei zehnmal geringer als die primitive und dreißig mal geringer als die zu Zeiten Cäsars (Lettres persanes, CXIII). Voltaire bezweifelte diese Theorie: anstelle eines Bevölkerungsrückgangs schlägt er eine kontinuierliche Zunahme vor, die sich dem von der Menschheit gemachten materiellen Fortschritt verdankt, und geht so auch auf Abstand zu der These von Damilaville (in seinem Artikel ‚Population’ für die Enzyklopädie), für den die Weltbevölkerung immer ungefähr gleich geblieben ist. In den Augen Voltaires kann die Bevölkerungszunahme nur sehr langsam vonstatten gehen: die Kindersterblichkeit betrifft zumindest ein Drittel der Geburten; sie kann diese sogar um die Hälfte reduzieren. Questions sur l’Encyclopédie, 1770, Art. Population, (Œuvres compl. 1877-85, XX.247-48)

Anmerkung 8 (S. 107 oben „…Mandarine Stockschläge.…“): „Wie gefürchtet auch die Autorität dieser Mandarine sein mag, sie können kaum ihre Stellen beibehalten, wenn sie nicht in dem Ruf stehen, ein Vater des Volkes zu sein und nach nichts anderem als nach seinem Glück zu streben. […] Ein Mandarin, der zu streng wäre und bei dem man nicht diese Zuneigung zu dem Volk, das ihm unterstellt ist, bemerkte, würde mit Sicherheit negativ in den Berichten erwähnt werden, die alle drei Jahre von den Vizekönigen an den Hof gesendet werden, und diese Bemerkung wäre ausreichend, um ihn seine Stelle zu kosten“ (Du Halde, Description de la Chine, II, 31, nach: Oeuvres compl., Oxford: Voltaire Foundation, Bd. 35, 2011, Anm. 32, S. 540)).

Anmerkung 9 (S. 107 oben „…die einzige Verfassung, die Preise für die Tugend ausgesetzt hat.…“): Im Essai sur les moeurs (Ende des 1. Kapitels) bringt Voltaire dazu folgende Anekdote „Vor einiger Zeit fand ein armer Bauer namens Chicou einen Beutel voller Gold, den ein Reisender verloren hatte. Er reiste bis in die Provinz des Reisenden und übergab den Beutel dem Magistrat des Kantons, ohne etwas für seine Mühen zu wollen. Der Magistrat, bei Strafe, abgesetzt zu werden, war verpflichtet, das Oberste Gericht in Peking zu benachrichtigen; dieses Gericht war verpflichtet, den Kaiser zu benachrichtigen, und der arme Bauer wurde zum Mandarin der fünften Ordnung ernannt, denn es gibt Mandarinsstellen für Bauern, die sich in der Moral auszeichnen, wie auch für diejenigen, die in der Landwirtschaft am erfolgreichsten sind. Man muss zugeben, dass man bei uns diesen Bauern nur dadurch ausgezeichnet hätte, dass man ihm eine höhere Steuer auferlegt hätte, weil man der Meinung war, dass es ihm wohl ergehen müsse.“

Anmerkung 10 (S. 107 zweiter Absatz „…geben wir auch noch zu.…“): All die hier von Voltaire angeführten Beispiele bringt Du Halde als Beleg für die Überlegenheit der europäischen Kultur, an der Voltaire durchaus zweifelt. (siehe auch: Oeuvres compl., Oxford: Voltaire Foundation, Bd. 35, 2011, Anm. 39, S. 542)

Philosophisches Taschenwörterbuch: Chaîne des Êtres crées – Die Kette der geschaffenen Lebewesen. (Kommentare)

Hintergrund:
Arthur O. Lovejoy, ein Philosoph aus den USA, zeigt in seinem Buch „The Great chain of being: a study of the history of an idea, Harvard, 1933, [dt.: Die große Kette der Wesen, Frankfurt/M: Suhrkamp 1985, 462 S.]“, wie sich der Gedanke von einer Kette oder Stufenleiter der (Lebe-)wesen aus der Antike bis hin zu Locke, Pope und Leibniz, Spinoza entwickelte um sich schließlich im 20. Jahrhundert ganz aus dem Bewusstsein zu verabschieden. Er sagt:
„Die Vorstellung des Kosmos als einer Kette von Wesen … fand ihre weiteste Verbreitung und Zustimmung im 18. Jahrhundert“ (S.221).
Nach Lovejoy waren Addison, King, Bolingbroke, Pope, Haller, Akenside, Thomson, Buffon, Bonnet, Goldsmith, Diderot, Lambert, Kant, Herder, Schiller, Anhänger der Vorstellung von einer ununterbrochenen Kette der Wesen, wogegen Voltaire (und in England Dr. Samuel Johnson (1709 – 1784)) den Angriff auf das ganze Gedankengebäude führten.
Platon stellt die Stufenleiter im letzten Absatz seines Timaios („Nachdem, wie gesagt, Männer entstanden waren…“) so dar, dass Gott zunächst die Männer erschuf. Aus diesen wurden dann in einem zweiten Leben Frauen, Vögel, Landtiere, Wassertiere – in absteigender Reihenfolge, je nachdem, ob sich ein Mann gut oder schlecht betragen hatte.
Vom Christentum wurde der Gedanke einer Stufenleiter, die vom einfachsten Wesen mit zunehmender Vollkommenheit immer weiter hinaufführt, gerne aufgenommen, führte sie doch direkt zum Allmächtigen selbst. Dieser christlichen Vorlage folgten auch Locke (Versuch über den menschlichen Verstand), Spinoza und Leibniz.
Alleine schon wegen dieser weitverbreiteten Hilfsfunktion für die christlichen Gottesbeweiskonstruktionen dürfte die Stufenleitertheorie für Voltaire unsympathisch gewesen sein.

Wie man sich den Übergang von der Materie zu den lebenden Wesen vorzustellen habe, war im Rahmen des Stufenleitermodells im 18. Jahrhundert Gegenstand einer intensiven Debatte um die sogenannte Spontanerzeugung. Dabei wurden erstmals auch naturwissenschaftliche Experimente zur Wahrheitsfindung herangezogen.
Antoni van Leeuwenhoeck (1632 -1723) hatte in Delft durch immer genaueren Glasschliff Lupen entwickelt, mit denen er 1674 erstmals Mikroorganismen sichtbar machen konnte. Er publizierte Zeichnungen von Bakterien, Protozoen und anderen Einzellern, was weltweit als Entdeckung des Bindeglieds zwischen der Materie und dem Lebendigen interpretiert wurde. Man fragte sich, ob diese Mini-Lebewesen direkt, „spontan“ aus der Materie entstanden sein könnten. Das ist, was als Debatte über die Spontanerzeugung die Anfänge der Mikrobiologie begründete.

Es folgen die Experimente von John Needham (1713 -1781) und Lazzaro Spallanzani (1729-1799). Needham schloss aus der Beobachtung, dass in einer Fleischbrühe, obwohl man sie so heiß gekocht hatte, dass alles Lebendige darin abgetötet worden war, trotzdem wieder Leben entsteht, dass dieses Lebendige dort spontan entstanden sein müsse.
Needhams Experiment wurde von Spallanzani widerlegt, der die Fleischbrühe ebenso wie dieser abkochte, anschließend aber luftdicht verschloss – wonach in dieser Fleischbrühe kein „spontanes“ Leben mehr entstand. Damit war bewiesen, dass die Mikroorganismen von außen in die Flüssigkeit hineingekommen sein mussten und dort nicht spontan entstanden waren.
Diderot und d’Alembert, auch d‘Holbach, vertraten interessanterweise die Position Needhams, wohl weil sie ein Argument gegen das Christentum zu liefern schien: Wenn aus der Materie spontan Leben entsteht, ist es nicht Gott, der ihr Leben und Geist eingehaucht hat.
Voltaire vertrat dagegen die (richtige) Position Spallanzanis: Aus toter Materie kann, anders als es die Bibel glauben machen will – nichts Lebendiges entstehen – und schon gar nicht spontan. Aber auch er schlussfolgert eine Art Gottesbeweis: Wenn jedes Lebewesen aus einer Keimzelle (wie die Pflanze aus einem Samenkorn) hervorgeht , stößt man am Ende der „Kette“ auf eine causa finalis, eine göttliche Endursache, die selbst keine weiteren „Verursacher“ hat (siehe Artikel Atheismus).

Trotz des eindeutigen experimentellen Gegenbeweises durch Spallanzani hielten Diderot und d’Alembert, d‘Holbach an ihrer Position fest, was zeigt, wie wenig selbst in diesen aufgeklärten Kreisen die objektive experimentelle Methode als entscheidendes Wahrheitskriterium vorgedrungen war.


Quellen:
o Lovejoy, Arthur O., The Great chain of being: a study of the history of an idea, dt.: Die große Kette der Wesen, Frankfurt/M: Suhrkamp 1985, 462 S.) hat die Geschichte der Idee von einer Stufenleiter von der Antike bis ins 18. Jahrhundert nachgezeichnet.
o Zur Geschichte der Spontanerzeugung: Paul de Kruif, Mikrobenjäger, Zürich: Orell Füssli 1927
o Voltaire diskutiert insbesondere im ersten Gespräch seines Dialogue entre Lucrèce et Poseidonios, zuerst erschienen in Mélanges III, 1756 [dt. Gespräch zwischen Lukrez und Poseidonios, in: Voltaire Kritische u Satirische Schriften, 1970, S. 77-95] die Frage nach der Entstehung der Arten. Poseidonios verteidigt gegen Lukrez die Ansicht, dass es eine Entwicklung von der Materie zum Leben nicht gegeben haben kann und es eines intelligenten Schöpfers bedurfte, um Leben entstehen zu lassen.

Die folgenden Kommentare zu einzelnen Textstellen beziehen sich mit ihren Seitenangaben auf die von uns bei Reclam herausgegebene Ausgabe des Philosophischen Taschenwörterbuchs (2020):

Anmerkung 1 (S.88, erster Absatz: „Zoophyten”): „Es war in den Augen des 18.Jahrhunderts ein großer Augenblick in der Geschichte der Wissenschaft, als Trembley im Jahre 1739 den Süßwasserpolypen Hydra wiederentdeckte (er war vorher schon von Leeuwenhoeck beobachtet worden), ein Wesen, das sofort als das langgesuchte fehlende Glied zwischen Pflanzen und Tieren begrüßt wurde. – Aristoteles‘ nebulöse Zoophyten konnten dieser Aufgabe nicht länger gerecht werden (Lovejoy, Die große Kette, S. 280f).“ Abraham Trembley (1710 – 1784) war ein Genfer Zoologe, der sich intensiv mit dem Süsswasserpolpypen Hydra beschäftigte.

Anmerkung 2 (S.88, zweiter Absatz: „.. zwischen ihm und Gott befindet sich die Unendlichkeit”):
Der Absatz ist nicht nur eine Polemik gegen die christliche Selbstüberhöhung, sondern zeigt darüberhinaus Voltaires Abneigung, die Stufenleiter mit Werturteilen zu verknüpfen, so dass ein Wesen auf der höchsten Stufe mehr wert wäre als eines auf der unteren.

Anmerkung 3 (S.88, unten und 89 oben: „.. Wo ist also die Kette?….“):
Voltaire nimmt die Vorstellung von einer Kette wörtlich, wenn es also ein Element nicht mehr gibt, bricht die Kette auseinander. Das Argument zeigt, dass Voltaire dem Konzept einer evolutionären  Abstammungslehre nicht folgt. Daher ging es ihm auch nie darum, das Bindeglied zwischen Affen und Menschen zu suchen und womöglich eine oder mehrere Untermenschenrassen zu (er-)finden. Affen und Menschen können durchaus nebeneinander und gleichwertig exisistieren, gewisse Varietäten unter den Menschen müssen nicht der einen oder anderen über- oder untergeordnet werden.
Damit setzt er sich in Gegensatz zu Leibniz („Die Natur macht keine Sprünge“) und zu d’Alembert („Die Natur bildet ein Kontinuum, das alle Wesen wie eine Kette miteinander verbindet“ ).  

Anmerkung 4 (S.89, vierter Absatz: „Jenseits der Menschen, bringen Sie, götttlicher Platon, im Himmel einige himmlische Wesen unter…“): in Phaidros 246e-247c. In Phaidon 110-111 beschreibt Platon die Existenz einer „höheren Erde“

Anmerkung 5 (S.89 unten/90 oben: „Welche Abstufung besteht, bitte, zwischen Ihren Planeten?”):
Die kosmologischen Vorstellungen Platons finden man z.B. im Timaios 38d (pdf).

In eigener Sache: Facebook-Seite der Voltaire-Stiftung am 18.11.2022 gesperrt

Bereits 2021 wurde die facebook-Seite der Voltaire-Stiftung ohne Angabe von Gründen gesperrt. Durch anwaltlichen Beistand konnte facebook gezwungen werden, die Seite 10 Monate später (!) wieder zu aktivieren. Jetzt wurde uns wieder mitgeteilt: „Dein Konto wurde deaktiviert“. Eine Begründung? Fehlanzeige.
Die Voltaire-Stiftung wird gegen diese bösartige facebook Maßnahme nicht noch einmal den teuren Rechtsweg beschreiten und stattdessen zu Telegram wechseln. Unseren Voltaire Telegram Kanal können Sie über folgenden Link erreichen:
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Wer kein Telegram Konto hat, kann die Beiträge wenigstens lesen (nicht aber kommentieren).

Wie auch bisher schon, werden wir auf dem Voltaire-Blog Beiträge rund um Voltaire veröffentlichen und seine, angesichts einer immer weitgehenderen Einschränkung der Meinungsfreiheit, immense Aktualität aufzeigen.