Voltaire, Juden, Antisemitismus

Einleitung

Schon zu Lebzeiten hat man Voltaire wegen seiner Kritik am (jüdischen) Alten Testament und an der jüdischen Religion heftig angegriffen.
Daß er die Juden seiner Zeit als mindestens ebenso engstirnig erlebt und dargestellt hat, wie die Anhänger des Christentums, haben ihm vor allem die Juden selbst verübelt. Sie hätten seine Unterstützung gegen die Anfeindungen aus ihrer Umgebung brauchen können.
Andererseits diente die Kritik an Voltaire den jüdischen Fundamentalisten immer auch dazu, die Aufklärung in ihren eigenen Reihen zu diskreditieren, die sie genauso fürchteten, wie die christlichen Würdenträger den Gebrauch des Verstandes durch ihre Gemeindemitglieder.
So ist es vielleicht kein Wunder, daß heute, wo Lug und Trug sich durch das allgegenwärtige Fernsehen so einfach verbreiten lassen, daß man die Kirchen fast nicht mehr braucht, die Antivoltairianer aller Couleur wieder zunehmend aus der Deckung kommen, um vor dem Hintergrund des Holocaust die Aufklärung einer Mittäterschaft zu beschuldigen.
Grund genug, sich mit dem Thema ausführlich zu befassen. Im Folgenden stellen wir Tatsachen und Argumente zu diesem Thema zusammen, um alle, denen an der Verteidigung Voltaires und der Freiheit gelegen ist, denn um nichts weniger handelt es sich, bei der Abwehr des Dunkelmännertums zu unterstützen.

Begriffsklärung ‚Antisemitismus‘

Der Begriff Antisemitismus (adj. antisemitisch) bezeichnet eine irrationale Haltung, die, was ‚jüdisch‘ ist, aus unbewußten Motiven heraus negativ bewertet und ablehnt. Es gibt verschiedene Grade von Antisemitismus, gemeinsam ist allen, daß sie vernünftigem, verstandesgeleitetem Argumentieren nicht zugänglich sind und auch nicht aus solchem entstehen. Antisemitismus gehört zu den Vorurteilen, die sich einer Überprüfung an der Realität entziehen. Sollte einmal ein realer Mensch dem antisemitischen Vorurteil entsprechen, wird dies als Bestätigung gesehen. Erst in jüngster Zeit mehren sich die abzulehnenden Versuche, auch die rationale Kritik an der jüdischen Religion, an den jüdischen Sitten und Gebräuchen, oder auch an der Politik Israels unter den Begriff des Antisemitismus zu fassen.

Die Angriffe

Im 18. Jahrhundert hat man Voltaire wegen seiner Bibelkritik angegriffen. Vor allem Issac de Pinto (zu seiner Person siehe Kapitel 4.2.4) kritisierte Voltaires Demontage von Wundern und Märchen im Alten Testament, die natürlich auch vor der Geschichte des Judentums nicht halt macht.
Waren die Juden betroffen, so haben sich andererseits deren selbsternannten christlichen Verteidiger die Gelegenheit nicht entgehen lassen, der Aufklärung zu schaden, indem sie die Angriffe gegen ihre Vorläuferreligion, als deren Erben sie sich sahen, als intolerant diffamierten.
In dieser Richtung war vor allem ein Pfarrer namens Guenée tätig, der Pintos Kritik zu einer 2 bändigen Ausgabe verlängerte, die man in der Folgezeit ständig erweiterte und häufig nachdruckte.
Im Anschluß an die Nazizeit hat das Menschheitstrauma des Holocaust dazu geführt, daß etliche Autoren Spuren des Antisemitismus bei Voltaire entdeckt haben wollten (im Einzelnen: Kapitel 11). Heutige Vorwürfe in diese Richtung gehen meist auf Léon Poliakov und seine Geschichte des Antisemitismus zurück, der sich Voltaire zum Antisemiten zusammenbastelt, was schon damals niemanden überzeugte (siehe dazu ausführlich Kapitel 12).
Erst jetzt scheint die Zeit gekommen, der Aufklärung auf dieser emotionalen Basis erneut den Kampf anzusagen. Im Internet grassieren Beiträge zum Thema, etliche Websites fischen in derselben trüben Quelle und die Tageszeitung Die Welt setzt in einem Artikel vom 20.7.2012 – wen wundert es – mit der gleichen Absicht nach.

Voltaire und die Juden

Sicherlich würde heute im deutschen Sprachraum niemand eine Kritik der jüdischen Religion schreiben, oder sich über ihre Irrationalismen, ihre Speisetabus, ihre Kleidervorschriften, oder ihren Anspruch, daß die Juden Gottes auserwähltes Volk seien, lustig machen. Niemand wird die Geschichte des jüdischen Volkes anders als die Geschichte einer verfolgten Glaubensgemeinschaft darstellen, einer Gemeinschaft der Opfer, die sich heldenhaft gegen ihre feindliche Umgebung behauptet haben. Daß dies so ist, wird nach den Verbrechen, die in Nazideutschland an den Juden begangen wurden, niemanden verwundern. Voltaire aber lebte vor dem Holocaust. Seine Haltung zum Judentum formte sich an seiner Wahrnehmung der jüdischen Gemeinden und ihrer Mitglieder zu seiner Zeit sowie aus den Büchern, die er zur jüdischen Geschichte und zur jüdischen Religion gelesen hat. 

Unabhängig von seiner Kritik an der jüdischen Tradition hat Voltaire die Judenverbrennungen immer wieder als Beleg für das barbarische und verbrecherische Wesen der christlichen Kirche angeführt. Man findet sie in Candide, in seinem nach dem Erdbeben von Lissabon, dem 1755 zehntausende Menschen zum Opfer fielen, entstandenen Poem Sur le désastre de Lisbonne ou examen de cet axiome: tout est Bien und vor allem in seiner fiktiven Predigt des Rabbi Akib, (1761). In dieser ‚Predigt‘ ergreift Voltaire die Partei der jüdischen Opfer und kritisiert das bestialische Tun der Inquisition, deren Rechtfertigungen er in ihrer ganzen Bösartigkeit bloßstellt, die Predigt (der vollständige Text ist, nach 200 Jahren neu übersetzt, hier in Kapitel 13 abgedruckt) gipfelt in den Worten:

„Es sollten doch die Wortverdreher, die in ihrem eigenen Bereich so viel Nachsicht nötig haben, endlich aufhören, diejenigen zu verfolgen und auszulöschen, die als Menschen ihre Brüder und als Juden ihre Väter sind. Jeder diene Gott in seiner Religion , in die er hineingeboren ist, ohne seinem Nachbarn das Herz herausreisen zu wollen, durch Streitereien, bei denen niemand den anderen versteht“. .
Um seine Haltung zum Judentum genauer einschätzen zu können, beschäftigen wir uns in den nächsten beiden Abschnitten mit den jüdischen Gemeinden  der Orte, an denen sich Voltaire aufgehalten hat (Kapitel 4.1.) und mit den Persönlichkeiten jüdischen Glaubens, die er gekannt hat (Kapitel 4.2.).

Aufenthaltsorte Voltaires und ihre jüdischen Gemeinden

Im 18.Jahrhundert standen die jüdischen Gemeinden meist unter strenger Leitung ihrer Rabbiner und waren noch stark im Mittelalter verhaftet. Nur wenige ihrer Mitglieder wagten den intellektuellen Ausbruch, der sie oft des einzigen Schutzes beraubte, den sie in feindlicher Umgebung hatten, den Zusammenhalt ihrer Gemeinde, denn Abtrünnige belegte man mit dem Bann und wies sie aus der jüdischen Gemeinde aus. Trotzdem ist es Einzelnen gelungen, sich aus der geistigen Enge zu befreien, vor allem Moses Mendelssohn ist dafür zu weltweiter Bekanntheit gelangt. Vor ihm war Spinoza einen ähnlichen, aber weitaus dornenreicheren Weg gegangen. Das Schicksal von Uriel da Costa aus Amsterdam kann man in dem gleichnamigen Theaterstück von Karl Gutzkow nachlesen, die allgemeine Geschichte der Juden und der jüdischen Gemeinschaften. hat am besten Alfredo Bauer in seiner Geschichte der Juden dargestellt, denn er zeigt sie im Zusammenhang mit den bedeutendsten gesellschaftlichen Entwicklungen.

Paris
Die jüdische Gemeinde in Paris war damals nur einige hundert Mitglieder stark, die sich wiederum in eine sephardische Gruppe (‚die portugiesischen Juden‘) auf der linken, besseren Seite der Seine und eine aschkenasische (osteuropäischen Ursprungs) auf der rechten Seite der Seine aufteilten. Sie waren einer strengen Überwachung durch königliche Judeninspektoren unterworfen, die die Juden schikanierten, um weitere Zuwanderungen zu verhindern und ihnen möglichst viel Geld abzupressen. Voltaire dürfte sie als ‚Gemeinde‘ kaum wahrgenommen haben
Quelle: Léon Kahn, Les juifs de Paris aux dixhuitième siècle d’après les archives de la lieutenace générale de police à la Bastille, Paris: A.Durlacher, 1894, 144 S.

London
Seit der großen Vertreibung im 13. Jahrhundert hat es in England nur wenige Juden gegeben, da sie dort kein offizielles Aufenthaltsrecht bekamen. Selbst unter Cromwell scheiterte 1656 ein Gesetz für ihre Wiederansiedlung am Widerstand der Zünfte. So beschränkte sich die jüdische Ansiedlung in London auf einige (um 1700 etwa 500 Personen) wohlhabende sephardische Familien, die vor allem im Finanz- und Bankensektor aktiv waren und aus Amsterdam aktiv angeworben wurden, um den Finanzplatz London zu stärken, zu denen sich dann auch arme osteuropäische Juden gesellten. Zur Zeit von Voltaires Aufenthalt in London (1726 -1729) hat es schon eine sephardische und eine aschkenasische Gemeinde gegeben, die sich gegenseitig nicht wohlgesonnen waren. Voltaire hatte in London zwar Kontakt zu jüdischen Bankiers (s.u.), er beschäftigte sich aber vor allem mit den oppositionellen und verfolgten Quäkern, über die er in den ersten seiner Briefe aus England ausführlich berichtet.
Quelle: David S.Katz, The Jews in the history of England, 1485-1850, New York:Oxford ‚University Press, 1996, 447 S.

Amsterdam/Den Haag 
In Amsterdam wurden Juden seit Ende des 16. Jahrhunderts aktiv angeworben, denn sie brachten aus Portugal, wo sie von der Inquisition verfolgt wurden, ihre Handelserfahrungen mit und waren beim Aufbau der holländischen Handelsmacht außerordentlich hilfreich. Da sich Voltaire mehrere Male in Holland aufgehalten hat und einer seiner bedeutendsten Verleger, Ledet, aus Amsterdam stammt, darf man annehmen, daß er die Verhältnisse dort sehr gut gekannt hat. Vielleicht hat er auch die dortigen jüdischen Aufklärer, die sich gegen das traditionelle Rabbinat zur Wehr setzten, gekannt: Wessely oder David Franco-Mendes, der später die der Aufklärung nahestehende Gesellschaft der Musenliebenden gegründet hat, Juda Hurwitz, Salomo Dubno, oder David Wagenaar. Im neunten seiner Briefe an den Herzog Karl Wilhelm Konrad von Braunschweig-Lüneburg spricht Voltaire über den Fall Baruch Spinozas aus dem Jahr 1656, der wegen Atheismus aus der jüdischen Gemeinde ausgeschlossen wurde. „Dieser Exkommunikationsprozeß“, meint er, „erinnert eher an einen Hexensabbat als an ein ordentliches Gerichtsverfahren“. Im selben Brief erwähnt er auch das Urteil von 1640 gegen Uriel Acosta (oder da Costa), dem man zur Buße 39 Stockschläge verabreichte und ihn zwang, sich auf die Schwelle der Synagoge zu legen, damit alle Mitglieder der jüdischen Gemeinde über seinen Körper gehen konnten. Trotzdem nutzte Voltaire diese Vorkommnisse nicht zu einem Angriff auf die jüdische Gemeinde Amsterdams, er kritisiert lediglich, daß der Rat der Stadt diese innere Strafjustiz der Rabbiner damals geduldet hatte. Unwillkürlich fällt einem dabei die aktuelle (2012) Beschneidungsdebatte ein, in der die deutsche Regierung religiösen Gemeinschaften das Recht zusprechen will, an ihren Kindern Körperverletzungen zu begehen, Voltaire wäre ihr entschiedener Gegner gewesen, denn er sah in solchen Rechtsverhältnissen ein mittelalterliches Relikt (siehe dazu seinen Artikel ‚Beschneidung‘).
Quelle: Shmuel Feiner, Haskala, jüdische Aufklärung, Geschichte einer kulturellen Revolution, Hildesheim, Olms:2007, 505 S.

Brüssel
In Brüssel hat zu der Zeit, in der sich Voltaire hier immer wieder aufgehalten hat (1739-1743), keine jüdische Gemeinde gegeben. Nur einige wenige Juden, die so wohlhabend waren, daß sie die sehr hohen Steuerauflagen erfüllen konnten, lebten in der Stadt.
Quelle:Sept siècles de présence Juive en Belgique, Écrit par Fondation de la Mémoire Contemporaine, 2010. Internetseite der http://www.fmc-seh.be/fr/index.php

Berlin
Obwohl nach dem Generalreglement von 1730 nur 100 Familien in Berlin wohnen durften, war die jüdische Gemeinde durch illegal Zugewanderte bis Mitte des Jahrhunderts auf ca. 2000 Mitglieder angewachsen (Gesamtbevölkerung ca. 100.000). Sie hatte unter aller Art von Demütigungen und Schikanen zu leiden. So durfte ein Jude Berlin nur durch das Rosenthaler Tor betreten, durch das auch das Viehzeug in die Stadt getrieben wurde und musste dort, wie bei Vieh, einen vom Körpergewicht abhängigen Zoll bezahlen. Man zwang die jüdischen Familien, wertlose und verdorbene Ware aus den staatlichen Manufakturen zu kaufen und alle, die keine sogenannten Schutzjuden waren, lebten in ständiger Furcht, ausgewiesen zu werden. Ähnlich wie heute, waren besonders Menschen ohne Aufenthaltsgenehmigung erpressbar und wurden als rechtlose und billige Arbeitskräfte mißbraucht, wobei die Gemeinde ihnen wenigsten einen gewissen Schutz vor staatlicher Repression bot. 1714 konnte die erste Synagoge Berlins in der Heidereutherstraße eingeweiht werden, 1755 eröffnete das erste jüdische Krankenhaus in der Oranienburgerstraße. Im Generalreglement von 1750 wurden die jüdischen Bürger Berlins in sechs Klassen eingeteilt, denen man, abhängig von Besitz und Einkommen, gewisse Rechte zusprach. Da die Verordnung im Jahr von Voltaires Ankunft in Berlin erlassen wurde, dürfte er sie wohl gekannt haben, geäußert hat er sich dazu nicht. Die jüdische Gemeinde wurde von sehr konservativen Rabbinern geleitet, die eifersüchtig darauf achteten, daß ihr Einfluß erhalten blieb (zum Beispiel wollten sie entscheiden, welche Bücher in hebräischer Sprache veröffentlicht werden durften). Ihnen war es wichtig, daß ihre Gemeindemitglieder möglichst gar kein Deutsch lesen oder schreiben konnten. Moses Mendelssohn, Aaron Gumpertz, Tobias Bock (1723-1799), Israel Samscz haben sich der Aufklärung gegen den Widerstand ihrer Glaubensbrüder zugewandt. David Friedländer (1750-1834) hatte es dank Mendelssohn dabei schon etwas leichter. 
Quelle: Shmuel Feiner, Haskala, jüdische Aufklärung, Geschichte einer kulturellen Revolution, Hildesheim, Olms:2007, 505 S.

Colmar/Strassburg
Zur Zeit Voltaires wohnten in Colmar keine Juden. Am 21. April 1512 mussten auf Betreiben des Stadtrats alle Juden die Stadt verlassen und erst die Französische Revolution machte ihre Neuansiedlung in Colmar wieder möglich. Strassburg hatte nach dem fürchterlichen Judengemetzel vom 14.2.1349 bis zur Revolution ebenfalls keine jüdische Gemeinde mehr. Juden wurden nur unter strengen Auflagen und bei Zahlung von hohen Zöllen in die Stadt gelassen. Über das ganze Elsass verstreut lebten aber nach einer Volkszählung von 1784 10723 Menschen jüdischen Glaubens.
Quelle: Glaser, Alfred, Geschichte der Juden in Strassburg, Strassburg:Riedel, 1894, 88 S.

Genf
In Genf hat man die Juden per Dekret am 28.12.1490 aufgefordert, die Stadt innerhalb von 10 Tagen zu verlassen. Erst Mitte des 19. Jahrhunderts hat es wieder eine jüdische Gemeinde in Genf gegeben.

Persönlichkeiten jüdischen Glaubens im Leben Voltaires

Jean Baptiste Silva (1682-1742, Arzt)
In seinem Werk hat Voltaire den jüdischen Pariser Arzt da Silva mehrfach als medizinische Kapazität erwähnt. Silva war seit 1724 beratender Arzt der Königin. Voltaire hat ihn öfter konsultiert, an Freunde empfohlen und muss ihn außerordentlich geschätzt haben. Er hat ihm eine kleine Hymne geschrieben, die seine Wertschätzung zum Ausdruck bringt:

Vers envoyés à M. SILVA, premier médecin de la reine, avec le portrait de l’auteur

Au temple d’Épidaure on offrait les images
Des humains conservés et guéris par les dieux
Silva, qui de la mort est le maître comme eux,
Mérite les mêmes hommages. 
Esculape nouveau, mes jours sont tes bienfaits
Et tu vois ton ouvrage en revoyant mes traits

Quelle: Artikel Jean Baptiste Silva, Wikipedia

Daniel de Fonseca (Arzt)

Geboren in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts in Portugal. War Priester, blieb aber weiter heimlich dem jüdischen Glauben treu. Deshalb wurde er verdächtig und musste vor der Inquisition nach Paris fliehen, wo er Medizin studierte. Später praktizierte er in Konstantinopel, wo er sich zu seinem jüdischen Glauben bekannte und unter den türkischen Machthabern großes Ansehen gewann. Er starb in hohem Alter in Paris.
Quelle: www.jewishencyclopedia.com, Artikel Fonseca
Marquis d’Argens Lettres juifs sind aus Unterhaltungen mit Fonseca hervorgegangen. Das Werk war Voltaire ebenso wie Friedrich II wohlbekannt. In d’Argens Lebensbericht lässt er Fonseca zu seiner Priester-Maskerade Stellung nehmen: „Was wollen Sie, wenn ich in einem freien Land gelebt hätte, wäre ich niemals zu einer solchen Handlung gezwungen gewesen. Es sind die Gräuel der Inquisition die mich dahin gebracht haben, sie haben meinen Großvater und meinen Onkel verbrannt, mein Vater konnte sich nur durch seine Flucht vor ihrem Zugriff retten. Sie haben mich im Alter von acht Jahren getauft, ohne daß ich wußte, was das bedeutet. Als ich dann älter wurde, untersuchte ich die Religion, die man mich anzunehmen gezwungen hatte. Ich fand Dinge, die mir absurd vorkamen und ich habe mir die Mühsal erspart, alle anderen zu studieren, denn ich wußte, daß sie sich nur in wenigem voneinander unterschieden. So kehrte ich zur Religion meiner Väter zurück, die älteste, einfachste und meiner Meinung nach vernünftigste“. Bei Voltaire heißt es zu Fonseca (Charles II) ..der Arzt Fonseca, Portugiese, [ist] ein in Konstantinopel lebender Jude, sehr gebildet und wortgewandt, auch in Geschäftsdingen geschickt und vielleicht der einzige Aufklärer seiner Nation. Sein Beruf verschaffte ihm Zugang zur Hohen Pforte und erwarb ihm das Vertrauen der Wesire. Ich habe ihn in Paris sehr gut gekannt, von ihm habe ich all die Einzelheiten, die ich hier erzähle.“ 

John Mendes da Costa (1650-24.6.1726, Bankier)

Bankier in London, 72 Jahre alt, Voltaire traf ihn im Frühjahr 1726, als er, aus Frankreich verbannt, nach London kam und einen Wechsel einlösen wollte. Mendes da Costa teilte ihm mit, dass die Bank bankrott gegangen war. Voltaire bearbeitete ihn so lange, bis ihm der alte Bankier wenigstens einige Guineen auszahlte. Der hätte das nicht tun müssen, denn Eigentümer der Bank war sein Sohn. Voltaire: ‚Er hat mein Mitleid erweckt, ich umarmte ihn, wir lobten gemeinsam Gott – und ich hatte 80% verloren“. Voltaire kam auch an anderer Stelle auf diesen Fall zu sprechen, nämlich als man ihm vorwarf, aus dieser Erfahrung sei ihm ein negatives Empfinden gegen die Juden geblieben. Voltaire antwortete: „Meine Herren, bedenken sie, daß ich viel bedeutendere Bankrotte von guten Christen hinnehmen musste ohne deshalb aufzuheulen. Ich bin über keinen einzigen portugiesischen Juden verärgert, ich schätze sie alle. Wütend bin ich nur auf Phineas, Sohn des Eleazar, der, als er sah, daß der schöne Prinz Zamri in seinem Zelt nackt war und mit der schönen Prinzessin Cosbi schlief, (…) sie alle beide mit seinem Dolch von ihren Weichteilen her aufschlitzte, gefolgt von seinen tapferen Kameraden, die vierundzwanzigtausend Liebende, Frauen und Männer, erdrosselten, dies in kürzerer Zeit als ich gebraucht habe, um diese Anekdote zu erzählen, denn in meinem Alter schreibe ich nicht so schnell“ 

Abraham Hirschel (oder Hirsch)

Abraham Hirschel war nach dem 1750 in Preußen erlassen ‚Generalprivileg‘ sogenannter ‚Schutzjude‘, das bedeutet – er war Juwelier und im Finanzgeschäft tätig – daß die Familie ausgesprochen wohlhabend gewesen sein muss. Im September 1750 lernte Voltaire die beiden Hirschels (oder Hirschs) kennen, die in Berlin in der Heiliggeiststraße ihr Juweliergeschäft betrieben. Er hat von ihnen Schmuck für Theateraufführungen leihweise erhalten und man kam offenbar gemeinsam auf die Idee, ein einträgliches Geschäft aufzuziehen. Friedrich hatte den sächsischen Staat im „Dresdner Frieden“ gezwungen, sogenannte sächsische Steuerscheine, die sich in den Händen preussischer Bürger befanden, zum Nennwert zurückzukaufen. Nun waren diese Schuldscheine in Sachsen nicht mehr besonders viel wert und somit lag die Versuchung nahe, über Mittelsmänner Schuldscheine zu niedrigen Preisen in Sachsen aufzukaufen, um sie später als preußische zu präsentieren und mit hohem Gewinn (35%) abzustoßen. Da dieser Handel verboten, aber wahrscheinlich trotzdem weit verbreitet war, verabredeten Voltaire und Hirsch, sich daran zu beteiligen. Voltaire gab das Geld, bekam als Pfand ein wertvolles Collier. Als die Sache aber Friedrich zu Ohren kam, wollte Voltaire aus dem Geschäft aussteigen und sein Geld (40.000 Francs) zurück haben, aber Hirschel konnte (oder wollte) nicht bezahlen. Darüber kam es Ende Dezember 1750 zu einem Rechtstreit, der sich bis 28. Februar 1751 hinzog und mit einem Vergleich, eher zugunsten Voltaires, endete. Der Vater Abraham Hirschel war im Laufe des Prozesses verstorben, sein Sohn führt das in seiner Stellungnahme vor Gericht an: „Mein Vater ist durch das harte procedere, so ich unschuldig erdulden musste [er war inhaftiert worden] und wodurch man mich um credit und guten Nahmen, ihn aber in Schande zubringen gesucht, bereits dem Tode zu theil worden…“. In Voltaires Briefen, (an Darget, an Friedrich) finden sich keine Äußerungen, die von Antisemitismus zeugen, man findet Ironie, Selbstkritik, despektierliche Äußerungen über betrügerische (jüdische) Kaufleute, jedoch keine Hassausbrüche.
Quelle: Dr. Wilhelm Mangold, Voltaires Rechtstreit mit dem königlichen Schutzjuden Hirschel 1751, Berlin:Frensdorff,1905,138 S.

Isaac de Pinto (1717 Amsterdam – 1787 Den Haag Schriftsteller, Ökonom)

Isaac de Pinto , Geschäftsmann, Ökonom und Schriftsteller, Jude portugiesischer Abstammung, war der erste, der Voltaire wegen seiner Kritik am Judentum tadelte und ihm vorwarf, nicht genügend zu differenzieren, wenn er die Juden allgemein als rückständig bezeichne. Er war Voltaire auch sonst nicht wohlgesonnen, wie seine Kritik an Voltaires Verteidigung des Luxus zeigt. Schon damals erkannten aber die Aufklärungsfeinde, daß sie Voltaire schaden konnten, wenn sie seine Religionskritik als Ergebnis von antijüdischen Vorurteilen denunzierten. So erhielt Pinto alsbald Unterstützung durch einen katholischen Priester namens Guenée, der jedoch nicht die jüdische Religion, sondern das Christentum verteidigen wollte, das er durch Voltaires Bibelkritik ebenfalls angegriffen sah. Unvermeidlich kommt Guenée mit der Unterstellung, Voltaire habe die jüdische Religion nur kritisiert, weil er schlechte Erfahrungen mit Bankrott gegangenen jüdischen Bankiers gemacht habe. In Voltaires Antwortbrief an de Pinto erklärt er, kein Feind der Juden zu sein, aber sehr wohl der jüdischen Religion kritisch gegenüber zu stehen. 

Moses Mendelssohn (6.9.1729 Dessau – 4.1.1786 Berlin)

Mendelssohn war der einflussreichste jüdische Intellektuelle der Zeit. Er war Humanist und förderte die Vertreter der jüdischen Aufklärung (Haskala) und er steht für die Hinwendung des Judentums zur Moderne, ohne dabei die jüdische Tradition zu verleugnen. Er war mit Lessing befreundet. Seine gesammelten Schriften umfassen 12 Bände, sein Hauptwerk ist Phädon über die Unsterblichkeit der Seele (1767). Mendelssohn forderte als einer der Ersten ein uneingeschränktes Recht auf freie Meinungsäußerung und volle Religionsfreiheit. In diesem Zusammenhang lehnte Mendelssohn auch die interne jüdische Rechtsprechung durch Rabbiner ab. Mendelssohn stand eher auf der Seite von Rousseau als auf der Voltaires. Er verteidigte auch Leibniz gegen die Kritik Voltaires. Voltaire hat Mendelssohns Schriften nicht verarbeitet. Ob er sie überhaupt zur Kenntnis genommen hat, ist (uns) unbekannt.
Quelle: Heinz Knobloch, Herr Moses in Berlin, Berlin: Der Morgen, 1979, 492 S.

Judenverfolgungen zur Zeit Voltaires

Nachdem noch unter Ludwig XIV im Jahr 1685 das seit Henry IV geltende Gebot der religiösen Toleranz (Edikt von Nantes), das den Protestanten die Ausübung ihres Glaubens garantierte, aufgehoben worden war, konzentrierte sich die katholische Kirche im 18. Jahrhundert auf die Bekämpfung der französischen Protestanten. Sie setzte gegen sie Berufsverbote durch, zwang die wohlhabenden protestantischen Familien, nur katholisches Personal anzustellen und unterdrückte brutal ihre Religionsausübung. Wagten sie es trotzdem, sich im Geheimen zu versammeln, ließ man ihre Prediger gefangennehmen und hinrichten. Viele verließen das Land. Die Kirche – um mit Voltaire zu sprechen: der Fanatismus – war im 18. Jahrhundert in Frankreich so sehr mit den christlichen Abweichlern beschäftigt, daß sie die Juden, vielleicht, weil sie nicht besonders zahlreich und kaum einflußreich waren, einigermaßen in Ruhe ließ. Judenverfolgungen im engeren Sinn hat es in Frankreich zu Voltaires Zeiten nicht gegeben.

Natürlich hat die Kirche Juden trotzdem als Abweichler behandelt, sie versuchte einerseits, die jüdische Tradition ideologisch für das Christentum auszunutzen (ungefähr so: die Juden waren zu Anfang Gottes auserwähltes Volk, sie haben sich aber schlecht benommen und als sie dann auch noch Christus ablehnten, war es mit der göttlichen Gnade ganz vorbei. Gott hat sie verstoßen und seinen Sohn veranlasst, eine Christenpartei zu gründen, die seitdem zu seinen wahren Parteigängern wurden). Den Juden waren für sie die älteren Verwandten der Christen und mussten bloß noch zum Christentum übertreten, um vollwertige Mitglieder der Gemeinschaft zu werden. Der einflussreiche Hofprediger Bossuet, dessen Buch Discours sur l’histoire universelle (1681) dem Thronfolger Ludwig XV. die Weltgeschichte als göttlich gesteuerte Aufwärtsbewegung vom Judentum hin zum Christentum erklärt, meint in den Juden als dem auserwählten Volk Gottes sogar so etwas wie den Motor der Weltgeschichte zu erkennen. Eine Ansicht, die Voltaire einfach nur lächerlich fand und anhand einer kritischen Textanalyse des alten Testaments auch lächerlich machte. Diesem Thema widmet sich sein Essay Des Juifs (Über die Juden): er macht sich zunächst über Bossuet lustig, indem er darauf hinweist, wie historisch unbedeutend dieses kleine Volk war, und wendet sich dann mit seinem ‚man soll sie jedoch nicht verbrennen‘ direkt an den Bischof und die scheinheilige katholische Kirche und hält ihnen die finstere Tradition von Judenverbrennungen vor, die sie zu verantworten haben. 

Die Judenverbrennungen hat Voltaire in seinem Werk immer wieder als Beleg für das barbarische und verbrecherische Wesen der christlichen Kirche angeführt. Man findet sie in Candide, in seinem nach dem Erdbeben von Lissabon, dem 1755 zehntausende Menschen zum Opfer fielen, entstandenen Poem Sur le désastre de Lisbonne ou examen de cet axiome: tout est Bien und vor allem in seiner fiktiven Predigt des Rabbi Akib, (1761). In dieser ‚Predigt‘ ergreift Voltaire die Partei der jüdischen Opfer und kritisiert das bestialische Tun der Inquisition, deren Rechtfertigungen er in ihrer ganzen Bösartigkeit bloßstellt, die Predigt (der vollständige Text ist, erstmals in deutscher Sprache, hier im letzten Kapitel abgedruckt) gipfelt in den Worten:“Es sollten doch die Wortverdreher, die in ihrem eigenen Bereich so viel Nachsicht nötig haben, endlich aufhören, diejenigen zu verfolgen und auszulöschen, die als Menschen ihre Brüder und als Juden ihre Väter sind. Jeder diene Gott in seiner Religion , in die er hineingeboren ist, ohne seinem Nachbarn das Herz herausreisen zu wollen, durch Streitereien, bei denen niemand den anderen versteht“.

Voltaire, die Aufklärung und die Inquisition: Écrasez l’Infâme

Voltaire forderte religiöse Toleranz und erkannte die tödliche Gefahr für die Freiheit, wenn es einer Religion gelingt, sich an die Macht zu schwingen: „Habt ihr bei euch zwei Religionen, werden sie sich die Kehle durchschneiden, habt ihr dreißig, leben sie miteinander in Frieden“. Die katholische Kirche hatte um die Mitte des 18. Jahrhunderts die in ihrem Herrschaftsbereich lebenden Protestanten weitgehend vertrieben, es gab aber immer noch einige versprengte Anhänger, die man zur Abschreckung in aller Öffentlichkeit verbrennen lassen konnte und eben die Anhänger der Aufklärung selbst, die man liebend gerne dem gleichen Schicksal zugeführt hätte, was etwa in Portugal nach dem Tod des Marquis de Pombal auch wirklich geschah. Voltaires Kampf für religiöse Toleranz, also für die Gleichberechtigung aller Religionsgemeinschaften war vor allem ein Kampf gegen diese mörderische Verfolgungsbereitschaft der mächtigen katholischen Kirche und ihrer Inquisitionsgerichte. Er bekämpfte sie, die er unter dem Begriff ‚die Infame’ zusammenfasste, an vielen Fronten. Bekannt geworden sind vor allem die drei spektakulären Kampagnen, in denen Voltaire gegen die Verurteilung Andersgläubiger zum Tode kämpfte (ob im Fall Montbailli ebenfalls religiöse Motive mitwirkten, ist unklar):

Der Prozeß gegen Jean Calas: 1762 ließen die Kirche und ihre Helfershelfer den Protestanten Jean Calas in Toulouse unter fadenscheinigen Anschuldigungen in Toulouse aufs Rad flechten. Für ihn kam jede Hilfe zu spät. Man warf ihm in einem haarsträubenden Indizienprozeß vor, seinen Sohn erdrosselt zu haben, um ihn vom Übertritt in die katholische Kirche abzuhalten – ein Standardvorwurf gegen die Protestanten. Frau Calas und die beiden Söhne konnten durch den Einsatz gerettet werden….mehr zum Fall Jean Calas

Der Prozeß gegen Pierre-Paul Sirven: 1764 erhob die Kirche Anklage gegen Pierre Paul Sirven, den man, wiederum in Toulouse, wie Jean Calas rädern lassen wollte. Der Familie wurde vorgeworfen, ihre Tochter Elisabeth ertränkt zu haben. Möglicherweise versuchte die Kirche mit dem Prozess die Spuren der Behandlung Elisabeths im Konvent der schwarzen Schwestern zu verwischen, die sie in den Wahnsinn und schließlich in den Tod getrieben hatte. Voltaire erreichte den Freispruch von Pierre-Paul Sirven und rettete die beiden anderen Töchter vor der lebenslangen Klosterhaft. Nur Antoinette Sirven, die Mutter, konnte er nicht mehr retten, sie war unterdessen verstorben, der Kampf hatte sie zermürbt…mehr zum Fall Pierre-Paul Sirven

Der Prozeß gegen den Chevalier de la Barre: Ihn hat man am 1.Juli 1766 in Abbéville hingerichtet, weil er eine Prozession nicht ehrerbietig gegrüßt hatte, anschließend, nach einer öffentlichen Aufforderung zur Denunziation von der Kanzel herab, wurden noch andere Vorwürfe aus dem Hut gezaubert. Durch das Engagement Voltaires konnte zumindest la Barres Freund d’Etallonde, auch er angeklagt, nach Preußen fliehen, wo ihm Friedrich II. Schutz gewährte…mehr zum Fall Chevalier de la Barre.

Der Prozeß gegen das Ehepaar Montbailli: Beide wurden ohne irgendeinen Beweis am 9.11.1770 in Arras zum Tode verurteilt, es ist bis heute unklar, aus welchen Motive die Justiz dem Ruf der Straße, dem sie sonst niemals nachgab, folgte. Durch den Einsatz von Voltaire konnte zumindest Frau Montbailli, 24 Jahre alt, gerettet werden. Für ihren Mann kam die Unterstützung leider zu spät, 10 Tage nach Verkündung des Urteils schlug man ihm die Hand ab und hat ihn bei lebendigem Leib gerädert. Bis zuletzt hat er die Anklage, seine Mutter getötet zu haben, bestritten …mehr zum Fall Montbailli.

Mit seinen Schriften und Protestaufrufen stellte Voltaire zum ersten Mal in der Geschichte eine Weltöffentlichkeit in kirchenkritischer Absicht her, er schadete der Kirche, wo er nur konnte und zwang sie zur Vorsicht und Zurückhaltung. Seinem unermüdlichen Einsatz ist es zu verdanken, daß sie ihre Scheiterhaufen abräumen musste.

Aufgeklärte Juden – und nicht nur sie – wussten es sehr zu schätzen, daß sich die Kirche auch später nicht mehr traute, Judenverbrennungen durchzuführen und sie schätzen Voltaire und seinen Kampf für die religiöse Toleranz bis zum heutigen Tag .

Mit diesen Erfolgen gab sich Voltaire aber nicht zufrieden, wie seine Biographie und sein antiklerikaler Schlachtruf: ‚Ecrasez l’Infâme’, den er von nun an unter alle seine Briefe setzte (Zerschmettert die Niederträchtige) zeigen, er wollte den vollständigen Rückzug der Kleriker von der Macht. Voltaire war also nicht nur ein Theoretiker, er unterstützte von der Kirche Verfolgte praktisch und setzte sich mit erheblichem finanziellen und zeitlichen Aufwand für ihre Verteidigung ein. Dies war ihm nur möglich, weil er durch geschickte Finanztransaktionen ein großes Vermögen angehäuft und eine Unabhängigkeit erreicht hatte, ohne die er in der Bastille gelandet wäre und keinem der in Not befindlichen Menschen hätte jemals helfen können (Deshalb konzentrierten sich die Angriffe gegen Voltaire auch lange Zeit hauptsächlich auf seine sogenannte ‚Geldgier’). Voltaires wichtigste Forderungen waren die der Aufklärung:

  • Freiheit von Wissenschaft und Kunst vor religiöser Bevormundung
  • Wissen statt Glauben! Beweis durch Überprüfen in Experiment und Quellenkritik statt durch Bezug auf Autoritäten!
  • Freie Meinungsäußerung. Jeder soll seine Gedanken frei und ohne Bedrohung äußern und veröffentlichen können!
  • Glaubensfreiheit. Keine Verfolgung wegen Mitgliedschaft in einer abweichenden Religionsgemeinschaft oder wegen Atheismus.

Forderungen, die, wenn sie in einer Gesellschaft einmal realisiert werden, dem Antisemitismus bald ein Ende setzen, gleichzeitig aber auch den traditionsbewussten Religionsgemeinschaften (ja, es stimmt: auch einschließlich der jüdischen), einen kräftigen Mitgliederschwund bescheren müssten.

Was sagt Voltaire zum Judentum und zur jüdischen Religion? Auflistung der relevanten Textstellen (wird ergänzt).

Voltaire war ein entschiedener Gegner aller Offenbarungsreligionen, die bekanntlich die Auffassung vertreten, daß außer ihren Berufsspezialisten, den Priestern, niemand beurteilen kann, was wahr oder falsch, richtig und gut, schön oder hässlich ist. Was daran liegen soll, daß Gott nur ihnen seine Worte (‚die Wahrheit’) übermittelt hat – und diese sind ja soooo schwer zu interpretieren, daß dieses Geschäft außerhalb der Kirche niemals jemand richtig beherrscht. Voltaire kritisierte die Anmaßung, die in den Offenbarungsreligionen steckt und er erkannte, daß, wer solches glaubt und behauptet, Andersdenkende immer verfolgen wird, wenn er nur erst die Macht dazu besitzt, denn jeder Andersdenkende oder Andersgläubige ist eine lebende Widerlegung dieses Alleinvertretungsanspruchs. Vor dem Naziterror war Antisemitismus ein Merkmal der Christen und ihrer Großkirchen, die den Juden allerhand finstere Machenschaften unterstellten, unter anderem die Ermordung ihres angebeteten Heilands. Ursache solcher Hassgefühle war und ist die paranoide Grundstruktur, wie sie für monotheistischen Religionen typisch ist: Wer Stimmen hört, gilt nur dann als gestört, wenn er noch keine Kirche hat. Hat er eine, und ist sie mächtig genug, lässt er zunächst alle Gottesleugner verfolgen und dann die Andersgläubigen beseitigen, wo immer er sie antrifft. Zu diesem Zweck veranstalteten die christlichen Großkirchen, wie man weiß, lange Reisen in ferne Länder. Deshalb schätzte Voltaire Religionen, die ohne Kirche und Berufspriester auskommen. Voltaire war Deist, das bedeutet, er räumte die Möglichkeit eines Schöpfergottes ein, der, wie der Uhrmacher sein Räderwerk, eine Urwelt mit festgelegten (Natur-) Gesetzen geschaffen hat, die dann über Jahrmillionen unverändert ablaufen, ohne daß Gott oder ein anderes höheres Wesen in das Räderwerk eingreift, er kritisiert das Christentum, das Judentum und den Islam, die als monotheistische Offenbarungsreligionen intolerante Gotteswortmonopolisten sind. Indem er das Judentum kritisiert, zeigt er, und zwar aus historisch-kritischer Perspektive, daß auch aus dieser priesterbeherrschten Offenbarungsreligion, wie anzunehmen, Betrug, Gewalt- und Verfolgungsbereitschaft hervorgehen.

Wenn er sich die Absurditäten des biblischen Textes vornimmt, unterzieht er die jüdische Religion einer schonungslosen Kritik, die natürlich zugleich eine Kritik am Christentum ist, das sich das alte Testament – und die Juden – einverleiben will. Voltaire, da er in einer christlichen Welt mit einer äußerst verfolgerischen katholischen Kirche lebte, die zu seiner Zeit noch Menschen verbrannte, verbarg seine Kritik an der christlichen Offenbarungsreligion hinter der Kritik an den beiden anderen, so am Islam in seinem Stück Mahomet oder der Fanatismus, das heute ebenfalls einem Tabu anheimgefallen ist und nicht mehr aufgeführt wird, da es religionskritisch ist und eben am Judentum, das sich als direkter Vorläufer des Christentums mit gemeinsamen ‚heiligen’ Texten dazu besonders eignet. Dies hat ihm schon sehr früh die Gegnerschaft jüdischer Intellektueller eingetragen. Hier ist aber seine Position zu diesem Thema:

„Ich sage euch, daß man alle Menschen als unsere Brüder anzusehen hat. Was? Mein Bruder der Türke? Mein Bruder der Chinese? Der Jude? Der Siamese? Ja, zweifellos; sind wir nicht alle Kinder desselben Vaters, Wesen desselben Gottes?“

Traité de la Tolérance

Im Folgenden stellen wir die Schriften vor, in denen sich Voltaire mit dem Judentum befasst, dabei versuchen wir die Texte folgenden Kategorien zuzuordnen:

  • Historische Kritik am Volk Israel (H)
  • Kritik an der Behauptung vom ‚auserwählten Volk‘ (B)
  • Kritik an der jüdischen Religion (R)
  • Kritik am Judentum seiner Zeit (J)
  • Verteidigung gegen christlichen Antisemitismus (V)
  • Äußerungen mit antisemitischer Tendenz (A)

Essai sur les moeurs et l’histoire des nations (H,B,R,A)

Dies ist eine umfangreiche, vielbändige Universalgeschichte, 1740, lange vor dem philosophischen Wörterbuch begonnen, aber etwa zur gleichen Zeit, 1769, publiziert. Über die Juden und die jüdische Geschichte ist an vielen Stellen, vor allem aber am Ende des Vorworts (Kapitel 38 – 53), das als eigenständige Schrift „Philosophie de l’Histoire schon 1753 gedruckt wurde, die Rede. Abschnitt für Abschnitt stellt Voltaire hier der einflußreichen Universalgeschichte des katholischen Priesters Bossuet („Er scheint ausschließlich geschrieben zu haben, um zu zeigen, daß alles, was auf der Welt geschah, wegen der jüdischen Nation passierte: als Gott Asien den Babyloniern gab. tat er dies, um die Juden zu strafen, als Gott Cyrus regieren ließ, geschah es, um sie zu rächen, als Gott die Römer schickte, tat er es wieder, um die Juden zu strafen“) die Ergebnisse seiner eigenen textkritischen Bibelanalyse entgegen, nicht ohne dabei Fluchttüren wie diese einzubauen: „Unsere heilige Kirche, die die Juden verabscheut,  lehrt uns, daß die jüdischen Schriften von Gott, dem Schöpfer und Vater aller Menschen eingegeben worden,  ich hege daran keinen Zweifel und erlaube mir nicht im geringsten ein Urteil darüber“.

Viele der später im philosophischen Wörterbuch einzeln veröffentlichten Artikel wurden im Essai sur les moeurs zusammenhängend entwickelt und man findet sie in diesem Text oft wörtlich vorbereitet. Schon anhand der Kapitelüberschriften (Vorwort) lässt sich erkennen, welchem Faden die Argumentation folgt:

XXXVIII. Von den Juden zur Zeit wo sie geschichtlich wurden (H)

Voltaire betont, daß es ihm nicht um die Religion, sondern um die Geschichte des jüdischen Volkes geht, so z.B. um die Schlacht von Saul gegen die Philister, der angeblich mit 300.000 unbewaffneten Kriegern ins Feld zog – und siegte…

XXXIX. Von den Juden in Ägypten (H,B)

„Warum hat Gott seinem auserwählten Volk nicht das fruchtbare Ägypten gegeben, statt es vierzig Jahre lang durch schreckliche Wüsten ziehen zu lassen? Auf dies [.. ] hat man nur eine Antwort, sie ist: Gott hat es so gewollt, die Kirche glaubt es, wir müssen es glauben.“ Voltaire benennt klar den Gegner, der einen zwingt solche Märchen zu glauben. Am Ende jedes Kapitels wiederholt er diese ironische Wendung.

XL.Von Moses, bloß als Oberhaupt eines Stammes betrachtet (H,R)

Moses muss beim Auszug aus Ägypten 80 Jahre alt gewesen sein. Im Verlauf von weiteren 39 Jahren gewann er zwei Kriege, befahl fürchterliche Metzeleien.  Die Geschichtlichkeit Moses ist bezweifelbar, jedenfalls ist er nicht der Autor der Bücher Moses und wenn er gelebt hat, war er keinesfalls der zartfühlendste aller Menschen, sondern eher im Gegenteil einer „dessen Greuel Vernunft und Natur empören“…

XLI. Die Juden nach Moses bis zu Saul (H)

Die Durchschreitung des Jordan war nicht das Wunder, für das es ausgegeben wird, der Jordan hat viele Flachstellen. Warum mussten die Juden die Einwohner des fast verteidigungslosen Jerichos hinmetzeln? Was gab den Juden das Recht, dieses Land nach vierhundertvierzig Jahren als ihr Eigentum zu betrachten? Das wäre, als würde ein Norweger Wien beanspruchen , weil in Vorzeiten einmal einer seiner  Vorfahren dort gelebt hat. Warum musste Josua die Könige von Kanaan, „einunddreißig an der Zahl, hängen lassen, also einunddreißig Burgherren, die ihre Heeren, ihre Weiber und Kinder zu verteidigen wagten“?

XLII. Von den Juden nach Saul (H, A)

Für Antisemitismus-Spürhunde das interessanteste Kapitel des Essay sur les moeurs: Voltaire beschreibt hier die Geschichte, wie sie im Kapitel Könige berichtet wird, als endloses Gemetzel, voller Grausamkeiten des jüdischen Volkes gegen die benachbarten Völker, was nur in erneuter Sklaverei enden konnte. Unter der Herrschaft Roms kam es in Galiläa immer wieder zu sehr mutigen Aufständen, die Voltaire nicht positiv wertet, sondern als blutige Empörungen von religiösen Fanatikern: „Sie erfuhren unter Trajan und Hadrian noch ein härteres Schicksal, und sie verdienten es“. Das jüdische Volk „wagt es , einen unversöhnlichen Haß gegen alle anderen Völker zur Schau zu stellen; es empört sich gegen alle seine Herren. Stets abergläubisch, stets gierig nach des Nächsten Habe, stets roh, wenn es im Elend kriecht und übermütig im Glück, das waren die Juden in den Augen der Griechen und Römer [..]. In den Augen des durch den Glauben erleuchteten Christen freilich waren sie unsere Vorläufer, haben sie den Weg gebahnt, den die Herolde der Vorsehung gingen“. Würde man den letzten Satz weglassen, der klar zeigt, gegen wen und gegen was Voltaire argumentiert (Verklärung der jüdischen Geschichte durch die Kirche), hätte man fast ein hübsches Zitat, das sich als Beleg für ‚Antisemitismus‘ anführen ließe. Allerdings sind wir der Meinung, daß die Charakterisierung ‚gierig nach des Nächsten Habe‘ wohl auf jedes andere Volk ebenso zuträfe, aber trotzdem, als antisemitisches Stereotyp, ein A verdient.

XLIII. Die jüdischen Propheten (H)

„Den falschen von  dem richtigen Propheten zu unterscheiden, war eine schwierige Sache“. Deshalb wurden nicht wenige von ihren Glaubensgenossen umgebracht. Andere (Hesekiel 16,4) predigten grobschlächtig und derb mit Ausdrücken der Gosse, Voltaire erstaunt sich über die Sitten und Gebräuche dieser angeblich heiligen Männer, die uns unmäßig und anstößig vorkommen.

XLIV. Die jüdischen Gebete (R)

Voltaire kritisiert die Grausamkeit, den Haß gegen die Feinde, die aus den jüdischen Psalmen sprechen. Er vergleicht das Christentum mit dieser Religion des Zorns und ruft gegen beide aus: „Möge Gott, daß wir nicht unter einem heiligen Gesetz und mit göttlichen Gebeten das Blut unserer Brüder vergossen und die Erde im Namen des barmherzigen Gottes verwüstet hätten“.

XLV. Vom jüdischen Historiker Josephus (H)

Josephus übertreibt maßlos mit dem Ziel, die Juden bedeutend zu machen. So, wenn er erzählt, der Jude Zorobabel sei ein Vertrauter des großen Darius gewesen. Das sei so, als würde man behaupten, ein Schwärmer aus den Sevennen wäre der Vertraute Ludwigs XIV. gewesen. Die Römer reagierten mit Verachtung auf solche Aufschneidereien: „Alle diese Wunder, die das unbekannte Volk auszeichneten, .wurden mit der Verachtung behandelt, die ein Volk, Sieger über so viele Völker, ein königliches Volk, dem nur Gott sich entzogen hatte, gegen ein kleines, rohes, in Sklaverei lebendes Volk von Natur aus haben musste“.

XLVI. Eine Lüge von Flavius Josephus, Alexander und die Juden betreffend (H)

Der „Märchenerzähler“ Josephus erfindet einen Traum Alexanders, in dem ihm der jüdische Priester Jaddus zum Feldzug gegen die Perser geraten habe. So war es also ein Jude (und der jüdische Gott), dem Alexander seinen Sieg verdankte.

XLVII. Volkstümliche Vorurteile (R)

„Die heiligen Schriften sind verfaßt, um Tugend zu lehren, nicht Naturkunde“. Voltaire führt etliche abergläubische Überzeugungen und Gebräuche der Juden auf, die sie allerdings mit den Völkern ihrer Zeit teilten.

XLVIII. Von Engeln, Geistern, Teufeln bei den alten Völkern und bei den Juden (R)

Der jüdische Teufelsglaube ist der persischen Zarathustrareligion (Zoroaster) entlehnt. Sie selbst haben die Vorstellung von einer Unterwelt erst recht spät angenommen.

XLIX. Ob die Juden andere Völker gelehrt haben, oder ob sie von diesen gelernt haben (H)

Eindeutige Antwort Voltaires: die Juden haben das allermeiste: ihre Sprache, große Teile ihrer Religion, ihre Sitten und Gebräuche, ihren Aberglauben von den Völkern unter denen sie gelebt haben und die ihnen kulturell überlegen waren, übernommen (Chaldäer, Syrer, Perser, Ägypter).

Le dictionnaire philosphique (H,B,R,A)

Da die meisten Antisemitismus-Kritiker ihre Textstellen aus dem bekannten philosophischen Wörterbuch Voltaires beziehen, wollen wir uns die wichtigsten Artikel, in denen es dort um die jüdische Geschichte geht, kurz ansehen:

Abraham (H)

als Stammvater der Juden/Christen und der Moslems stellt ihn die Bibel vor, als unglaubhafte Phantasiegestalt Voltaire. Abrahams geht am Ende, Weisheit der Bibel, stramm auf 200 Jahre zu (auch Bossuet hat das bemerkt, er erklärte den Umstand so: „Damals wurden die Leute noch älter“!). Voltaire bemerkt polemisch: „da diese Geschichte ersichtlich der Heilige Geist selbst geschrieben hat, haben wir für sie (die Juden, unsere Herren und unsere Feinde, an die wir glauben und die wir verachten) die Empfindungen, die wir haben müssen.

Anthropophages – Menschenfresser (B):

sind nach Voltaire nicht zu verdammen, denn es ist verwerflicher, im Krieg andere umzubringen, als sie dann anschließend zu verspeisen – was sonst die Raben täten. Auch die Juden aßen Menschenfleisch, es gibt Hinweise im Levitikus. Warum aber dies bei den Juden der Punkt ist, der „noch fehlte, um das abscheulichste Volk der Welt zu sein“? Diese Polemik ist eine Antwort auf die in christlichen Kreisen übliche Verherrlichung des biblischen alten Volkes Israel als Gottes Volk und Vorläufer der Christen. Voltaire sagt dem Christentum den Kampf an, indem er dessen geheiligte Herkunft, aus der heiligen Schrift selbst belegt, als ‚abscheulich‘ wertet; keinesfalls ist es eine Abwertung zeitgenössischer Juden.

Le ciel des anciens – Der Himmel in der Antike (H, A):

In dem Artikel geht es eigentlich darum, dass von einem Himmel über uns zu sprechen und ihn mit Göttern zu besiedeln, Unsinn ist, wenn es denn ein unendliches Weltall gibt. Voltaire fragt nach den Kenntnissen und Behauptungen der Hebräer und stellt fest: „Dieses ungehobelte Volk war weit davon entfernt davon, ein System zu haben…“. Ihre einzige Wissenschaft waren die Gewerbe des Maklers und des Wucherers“ (S.94). Ist der erste Satz eine historische Feststellung, bedient der Nachsatz ein altes antijüdisches Stereotyp.    

Hesekiel (H):

ist nach Voltaire eine sehr amüsante Geschichte, die zu lesen durch die Priester für alle unter 30 verboten war, man kann sie lesen, soll sich aber nicht wundern, daß damals Dinge gesagt wurden, die heute in höchstem Maße unschicklich sind, weshalb es Voltaire Spaß macht, sie wiederzugeben – auf äußerst unterhaltsame Art.   

Genesis (H,R)

Bei den biblischen Erzählungen von der Erschaffung der Welt handelt es sich um Träumereien Ungebildeter. Kein Wunder, daß die Päpste die Bibel niemandem zu lesen geben wollten und ihre Übersetzung verhinderten.   

Moses (H)

in den ersten beiden Abschnitten zeigt Voltaire, daß – anders als jüdische und christliche Religionen behaupten – Moses nicht der Autor der Bücher Moses gewesen sein kann, eine Erkenntnis, die aber schweigen müsse, wenn die Kirche, Nachfolgerin der Synagoge, spricht. Dann wendet er sich der Frage nach der Herkunft des Volkes Israel zu und aus der Textanalyse mit „wissenschaftlichen Methoden der Kritik“, kommt Voltaire zu dem Schluß, daß es sich um eine ägyptische Gruppierung handeln muss, die aus ihrem Heimatland verjagt wurde und nach Palästina fliehen musste (niemand geht freiwillig in eine Steinwüste und nennt es dann das gelobte Land).

Salomon (H)

Voltaire beschäftigt sich zunächst mit den groben Ungereimtheiten des Buches Salomon., um sich dann dem Hohelied und seiner Erotik zu widmen. Er bezeichnet es als wertvollen Text der Antike, weil in ihm einmal von Liebe [und nicht ständig von Mord und Totschlag] die Rede ist. Der Stil aber sei wie alle hebräischen Texte unzusammenhängend, voller Wiederholungen, durcheinander, voll lächerlicher Metaphern, aber es gebe Stellen, die Natürlichkeit und Liebe ausstrahlen.       

Propheten (H,R)

„Man muss zugeben daß es ein übler Beruf ist, Prophet zu sein“ sagt Voltaire und berichtet von all den Todesarten, die die Propheten in der Geschichte überhaupt und in der Israels im Besonderen erlitten haben.  

Des Juifs (H,R)

Der erwähnte Essay ‚Des Juifs’ ist 1764 in den Suites des Mélanges, Band V der Werkausgabe Collection Complette in Genf bei Cramer erschienen, auf ihn beziehen sich viele Kritiker. Voltaire schildert hier wie im Essai sur les moeurs das ständige Auf und Ab in der Geschichte des jüdischen Volkes, das nie zu einer dauerhaften staatlichen Organisation gefunden hat, teils wegen innerer Streitigkeiten, teils durch zahlreiche kriegerische Auseinandersetzungen, bei denen es meist den Kürzeren zog, die aber dazu führten, daß Israel seine Nachbarn hasste (diese Feststellung bezieht sich vor allem auf die jüdischen Psalmen, die man im alten Testament nachlesen kann) und sie als Götzendiener diffamierte.

Die wissenschaftlichen Kenntnisse der Juden (etwa die der Astronomie) waren in der alten Zeit, verglichen mit denen ihrer Nachbarvölker, äußerst gering. Sie besaßen keine eigene Schrift, sondern benutzten das chaldäische Alphabet und bezogen ihre (geringe) Bildung von den ihnen überlegenen Nachbarvölkern. Voltaire kommt zu dem Schluss, „daß man in ihnen ein ungebildetes und barbarisches Volk zu sehen hat, das seit langer Zeit den größten Geiz mit dem verachtenswertesten Aberglauben und einem unbesiegbaren Hass für alle jene Völker verbindet, die sie tolerieren und sie kultivierter machen“.

Sur les lois des Juifs (H,B)

In diesem kurzen Essay geht es dann vor allem um die Frage der Menschenopfer bei den Juden, von denen im Levitikus (3.Buch Mose) die Rede ist. Voltaire sieht diese Frage – was unsere heutigen Antivoltairianer selbstverständlich nie erwähnen – nicht allzu moralisch. Er meint dazu an anderer Stelle , daß es nicht verwerflicher sei, seine getöteten Feinde der Küche von Raben und Würmern zu überlassen, als sie selbst zu verspeisen. Und in der Tat, warum sollten die Juden keine Menschenfresser gewesen sein? Als Seitenhieb auf die Hybris der Juden, Gottes auserwähltes Volk zu sein, meint Voltaire: „Das war das einzige, was dem Volk Gottes noch gefehlt hätte, um das abscheulichste aller Völker der Erde zu sein“. Die Anmaßung, das auserwählte Volk Gottes zu sein, hat Voltaire auch an anderen Stellen kritisiert, denn in dieser Behauptung sieht er eine ungeheure Verletzung vernünftiger Grundsätze. In vielen der genannten Artikel widerlegt er deshalb systematisch die Behauptung der Originalität der jüdischen Glaubensinhalte – und übrigens damit auch der christlichen – indem er deren Herkunft hauptsächlich aus den Religionen Ägyptens, Persiens und Syriens nachweist.

La bible enfin expliquée (R,H)

Erst am Ende seines Lebens (1776) hat es Voltaire gewagt, seine explizite Bibelkritik La bible enfin expliquée zu veröffentlichen, in der er die Geschichte der Juden bis hin zu Jesus ebenfalls ausführlich behandelt. Er hat große Teile des Werkes schon vor 1748 gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin Emilie du Châtelet verfasst, die sich speziell mit den biblischen Mythen von der Entstehung der Welt auseinandergesetzt hatte.

Voltaire – ein ‚autoritärer Charakter‘? Biograpische Notiz

Äußerungen Voltaires, die man antisemitisch nennen kann, finden sich (nach unserem Kenntnisstand sind es zwei) in privaten Briefen und an einigen wenigen Textstellen, in denen er seine Bibelkritik verlässt und sich zu allgemeinen Aussagen über den jüdischen Charakter oder jüdisches Wesen versteigt (meist entlang des Vorwurfs, sich mit Glaubensgenossen zusammenzutun, und für Geld zu allem bereit zu sein), die man aber angesichts der sonstigen Schriften und Taten Voltaires als Überreste, Stereotype, aus der antisemitischen christlichen Tradition interpretieren kann. War er aber deshalb Antisemit, oder nach den Kategorien der Studies in Prejudice* von Horkheimer u.a., ein autoritärer Charakter?

Voltaire war Künstler, Schriftsteller, er hatte großes schauspielerisches Talent. Er war äußerst sensibel, eigenen und fremden Gefühlen gegenüber offen und wie sein Briefwechsel zeigt, sehr freigiebig in seiner Zuneigung zu seinen Freunden, aber auch im Haß gegen seine Feinde. Er war ein Genußmensch, hat gute Getränke und gutes Essen geliebt, den Luxus verteidigt und organisierte für Freunde und Bekannte sehr sinnenfrohe Feste und Gelage, er führte ein offenes Haus. Trotzdem war er verstandesgeleitet, selbstbewußt, dachte strategisch, lehnte sich sein ganzes Leben lang gegen nur durch Titel oder Herkunft ausgewiesene Autoritätspersonen auf, er lebte – nicht nur in Liebesdingen – unkonventionell und hatte ein ausgeprägtes Gerechtigkeits- und Unrechtsempfinden. Voltaire war nicht projektiv im Sinne der Psychoanalyse und insofern charakterlich gegen den Antisemitismus, wie ihn das Christentum und ihre Kirchen praktizierten, vollkommen immun. Er hat sich nie über jüdisches Leben zu seiner Zeit geäußert und nie die aktuelle jüdische Religion angegriffen, sie interessierte ihn nur in ihrer historischen Form als Vorläuferin des Christentums.

* deutsch: E.Fromm, M.Horkheimer, H.Mayer, H.Marcuse, Autorität und Familie, Paris: Alcan, 1936, 2 Bd.

Theater der Groteske, oder: jede Hand hat sechs Finger

Wenn, wie gezeigt, Voltaires Haltung zum Judentum seiner Zeit eher indifferent war und er sich mit der jüdischen Religion vorwiegend aus historischem und religionskritischem Interesse befasste, welches sind dann die Motive derart absurder Vorwürfe, Voltaire habe die Juden gehasst, oder noch extremer, Voltaire und mit ihm die Aufklärung seien für den Antisemitismus überhaupt verantwortlich zu machen, wie es in dem genannten Die Welt-Artikel geäußert wurde? Tatsächlich ist zu vermuten, daß diese Motivation mit dem bekannten Motto „credo quia absurdum est“ zusammenhängt, gleichgültig, ob es ursprünglich von Tertullian oder vom heiligen Augustinus stammt. Orwell hat es eindrucksvoll in die Sphäre des Alltags übersetzt, wo dann die Motivation des Vernunftopfers auf die Wirkung ganz gewöhnlicher Gewalt zurückgeführt wird (Ein Hinweis für Voltaire-Leser: Viele der unheimlichen Momente in Orwells 1984 findet man im eigentlich gar nicht so lustigen Candide Voltaires vorgezeichnet). Es wird niemanden wundern, daß die Anklage der Aufklärung wegen Antisemitismusverdacht von Deutschland ausgeht, denn hier ist die Kritik an Israel und an der jüdischen Religion verständlicherweise am stärksten tabuisiert und gleichzeitig die Aufklärung am wenigsten verankert. Und hier treibt das Tabu die erstaunlichsten Blüten: so traten (2011), sich selbst als ‚antideutsch’ bezeichnende Gruppierungen bei Kundgebungen zum ersten Mai mit Israelfahnen auf, um sich von anderen, israelkritischen Teilnehmern zu distanzieren. Außerdem hefteten sie sich Buttons ans Revers, auf denen sie die israelische Flagge und die der USA nebeneinander haben abdrucken lassen, um damit ihr Bekenntnis zur Schutzmacht Israels zu demonstrieren, die zu kritisieren aus ihrer Sicht ebenfalls antisemitisch ist. Sicher handelt es sich dabei um sonderbare Auswüchse des Antisemitismustabus, dieses Beispiel zeigt jedoch, wie stark, psychologisch gesehen, der Drang sein muss, sich in die Kolonnen der stärksten jemals existierenden Militärmacht einzureihen. Hatte Poliakov in seiner ‚Geschichte des Antisemitismus’ überall nach judenfeindlichen Äußerungen gesucht und war in seiner Bewertung vielfach über das Ziel hinausgeschossen, so tat er es doch mit dem ehrlichen Bedürfnis, die Ursachen des Holocaust in den Wurzeln der europäischen Geistesgeschichte herauszufinden. Bereits bei Horkheimer und Adorno in ihrer ‚Dialektik der Aufklärung’ ist dann schon etwas vom sacrificium intellectus zu spüren: die Vernunft soll irgendwie zu kalt, zu gefühllos, zu unempathisch und dadurch inhuman sein. Wenn die Forderungen der Aufklärung richtig sind (s. o.), so werden sie nicht dadurch falsch, daß etwa die Erkenntnisse der Nuklearforschung zum Bau von Atombomben genutzt werden. Solche Konstruktionen zeugen eher vom Versagen einer gesellschaftskritischen Theorie als vom Gegenteil. Erst heute, nach dem Untergang der Sowjetunion, werden durch ideologische Steuerung die Lücken einer einheitlichen Befehlsstruktur geschlossen: freies und unabhängiges, also aufgeklärtes Denken soll zum Verschwinden gebracht, zumindest aber so beschnitten werden, daß es nicht mehr öffentlich wahrgenommen werden kann. Und schließlich: wenn die Gedanken der Aufklärung von einigen Unbelehrbaren trotzdem aufgenommen und geschätzt werden sollten, dann sollen sie es nicht im angstfreien Raum tun. Und welches Mittel eignete sich – heute in Deutschland – besser zur Erzeugung von Angst, als die implizite Drohung, demnächst als Anhänger einer Lehre an den Pranger gestellt zu werden, deren Vertreter allesamt Antisemiten waren und die den Holocaust vorbereitet haben? Dies ist der Grund, warum sich Antisemitismusspürhunde an die Fersen der Vertreter jener Lehre heften, die die Menschheit von den Mächten der Finsternis befreit haben. Da Aufklärung individuelle Unabhängigkeit bedeutet, die Selbständigkeit des Einzelnen, den Gebrauch von Beobachtung und Verstand ohne Gängelung und Angst vor Strafe, steht sie Bestrebungen entgegen, das Volk wieder zu einer Herde von Ochsen zu machen, erneut eine Herrschaftsform zu errichten, wie sie schon von Voltaire für seine Zeit beschrieben wurde:

„Eine durch Willkür regierte Gesellschaft gleicht vollkommen einer Herde Ochsen, die zum Dienst ihres Herren ins Joch gespannt werden. Er ernährt sie nur, damit sie in der Lage sind, ihm zu dienen; er pflegt sie nur, wenn sie krank sind, damit sie ihm nutzen, wenn sie gesund sind; er mästet sie, um ihnen das Mark auszusaugen; und er bedient sich der Haut der einen, um die anderen damit vor den Pflug zu spannen”.

Allen Finsterlingen, gleichgültig welcher religiösen, ethnischen oder politischen Herkunft, führt dieses Ziel die Feder und gleichgültig, ob sie das zugeben oder nicht. Denn man erkennt sie an ihrem Vorgehen: Sie arbeiten, um nur die gebräuchlichsten zu nennen, fast immer mit den Mitteln der begrifflichen Verwirrung, der Verdrehung historischer Ursachen und Wirkungszusammenhänge und mit den Mitteln der psychologischen Kriegsführung.

Begriffliche Verwirrung

Da eine angeblich antisemitische Haltung Voltaires aus seinen Texten schwerlich herauszudestillieren war, es fehlt seiner Kritik am historischen Judentum gänzlich an Fanatismus, nutzt Poliakov Versatzstücke der Psychoanalyse und versucht Voltaire aus dieser Sicht zum Judenhasser zu machen. Seine Kenntnisse auf diesem Gebiet waren offensichtlich spärlich. Er vermischt ständig unbewußte und bewußte Motive (so wird ihm die Tatsache, daß in Voltaires Theaterstücken oft ein Vatermord gezeigt wird, zum Hinweis auf Voltaires latente Homosexualität) und hat das Wesen der von Freud entdeckten unbewußten Projektion, die der Gefühlswelt des Antisemitismus zugrunde liegt, nicht erfasst. Hat sich Poliakov aber immerhin noch bemüht, dem Leser Voltaires Texte etwas ausführlicher vorzustellen (weshalb sie ihm ja nicht zum Beleg seiner Antisemitismusthese ausreichten und er zur Psychologie Zuflucht nahm), haben spätere Schreiber Poliakovs Auszüge aus Voltaires Texten losgelöst von ihrem historischen und philosophischen Kontext, der heute den meisten ja weitgehend unbekannt ist, nach viel geübter medialer Praxis als Zitatensammlung genutzt, die es dann jedem auch noch so unbedarften Schreiberling ermöglicht , Voltaire und die Aufklärung als antisemitisch zu denunzieren. Zur begrifflichen Verwirrung gehört auch, daß Zitate, in denen sich Voltaire emotional gegen die jüdische Religion wendet, als Antisemitismusbeweis dienen, ohne zu erwähnen, daß er sich mit gleichen oder heftigeren Formulierungen auch gegen das Christentum oder den Islam geäußert hat, was allerdings erforderlich machte, daß man sich mit seinen Texten beschäftigt. So schreibt Voltaire unter dem Namen Lord Bolingbrokes eine vehemente Kritik der christlichen Geschichte, die sich auch heute noch mit großem Gewinn lesen läßt . Dort heißt es etwa über die Christen: „Ihre unverträgliche, intolerante Sekte wartete [zur Zeit des römischen Reiches] nur darauf, die unumschränkte Freiheit zu besitzen, um dann der übrigen Menschheit die Freiheit zu rauben.“ (319) „Zum Schluß stelle ich fest, daß jeder vernünftige, jeder anständige Mensch die christliche Sekte verabscheuen muss.“(370) Schließlich ist in diesem Zusammenhang die Vernachlässigung der Frage zu nennen, gegen wen sich Voltaire mit seinen Aussagen wendet, welchen Gegner er vor Augen hat. Wer generell verschweigt, daß sich Voltaire mit seiner Kritik der jüdischen Geschichte in seinem ‚Essay der Sitten und Geschichte der Nationen’ fast Abschnitt für Abschnitt auf die Heilsgeschichte des einflussreichen katholischen Bischofs Jaques-Bénigme Bossuet („Er scheint ausschließlich geschrieben zu haben, um zu zeigen, daß alles, was auf der Welt geschah, wegen der jüdischen Nation passierte: als Gott Asien den Babyloniern gab. tat er dies, um die Juden zu strafen, als Gott Cyrus regieren ließ, geschah es, um sie zu rächen, als Gott die Römer schickte, tat er es wieder, um die Juden zu strafen“ Einleitung, Essay sur les moeurs) bezieht, für den die Bibel „unstreitig das älteste Buch der Welt ist“, und uns eine Geschichte erzählt, die durch „viele genau bestimmte Begebenheiten direkt zu Gott führt“, dem muss man eine unlautere Absicht unterstellen.

Verdrehung historischer Ursachen und Wirkungszusammenhänge

Dieses Mittel ist ebenso abstoßend wie lehrreich: durch die Übertragung der Verantwortung für den Antisemitismus von den christlichen Kirchen, denen sie historisch zufällt und die ihnen für immer als Kainsmal anhaften wird, auf die Aufklärung, also auf ihren entschiedensten Gegner, will man die christlichen Kirchen, die den Antisemitismus jahrhundertelang gehegt und gepflegt haben, von ihrer Schuld reinwaschen und die Verfolgungsbereitschaft aller monotheistischen Offenbarungsreligionen verschleiern. Selbst wenn bei diesem oder jenem Aufklärer, der vor der Nazizeit gelebt hat, Äußerungen aus dem Repertoire des Antisemitismus vorkommen sollten, wäre zu untersuchen, ob es sich dabei um unverarbeitete Reste der Vergangenheit, also Sterotype aus dem Vokabular des christlichen Antisemitismus handelt, oder ob er in der Sache des Antisemitismus Akteur und Antreiber war. Wer für religiöse Toleranz eintritt und sich gegen die Kirche und ihre Inquisition einsetzt und ihr darüber hinaus, wie Voltaire, in einem zähen Kampf die Opfer buchstäblich vom Scheiterhaufen zieht, wird kaum zu Letzteren gehören. In dem genannten Die Welt-Artikel lobt der Autor ausdrücklich den Papst, weil er heute, im 21. Jahrhundert, die Juden als ältere Brüder der Christen bezeichnet hat und beschimpft gleichzeitig Voltaire, der im 18 Jahrhundert, als die Kirche noch Juden verbrannte, ein Leben lang mit erheblichem persönlichen Risiko gegen sie gekämpft hat, als Antisemiten, weil er es gewagt hat, die jüdische Religion zu kritisieren und er erfüllt damit diensteifrig die Vorgaben aus dem antiaufklärerischen Propagandaarsenal seiner Auftraggeber.

Psychologische Kriegsführung

Zur Vorbereitung militärischer Einsätze ist es üblich geworden, durch unzählige Wiederholungen der Wörter ‚verrückt’,’wahnsinnig’, irre’ in Verbindung mit dem Namen des jeweils aktuell unliebsamen Politikers das ideologische Feld für einen geplanten Krieg zu bereiten, auch wenn dessen Verrücktheit nur darin besteht, die Interessen seines Landes zu verteidigen. Nach demselben Verfahren wird jetzt der Name Voltaires mit dem Begriff Antisemitismus (oder, wie in einer angeblich israelfreundlichen Internetseite, in der Abfolge ‚Voltaire, Nietzsche, Hitler) kombiniert. Der Vorkämpfer für religiöse Toleranz, der damit maßgeblich zum Ende der Judenverfolgungen im 18. Jahrhundert beitrug, wird zum Gründungsvater des Antisemitismus gemacht, der den Weg zu Hitler bereitete (man sieht, wo diese Fährte hinführt). Ziel und Zweck dieser primitiven, aber wirkungsvollsten aller Strategien ist es, daß sich beim Namen Voltaire nicht mehr die Assoziation: Aufklärung, Freiheit, Wissenschaft und antiklerikaler Kampf einstellt, sondern stattdessen das einfache Begriffspaar Voltaire-Antisemit deren Platz einnimmt, um auf solche Weise ein Tabu zu errichten und jede inhaltliche Auseinandersetzung mit der Aufklärung zu vermeiden.

Fazit

Voltaire stand dem Judentum nicht positiv gegenüber, er hat nicht gewürdigt, welche Leistung es für ein kleines Volk ist, inmitten einer feindlichen Umgebung über Jahrhunderte zu bestehen, wozu gerade auch dessen Zerstreuung über viele Länder und Kontinente beigetragen hat, die er als Schwäche deutet. Hätte er diesen Zusammenhang gesehen, wären ihm manche Verhärtungen der jüdischen Religion und der ihr eigene Fanatismus, den er auch bei anderen Religionen bekämpfte und verachtete, als Notwendigkeit, als Mittel zum Überleben erschienen. Ebensowenig hat er gewürdigt, was besonders bedauerlich ist, denn diese Besonderheit macht Juden zu potentiellen Verbündeten der Aufklärung, daß die jüdische Gemeinschaft immer hochgradig literal war und nur aus diesem einen Grunde die Überheblichkeit und Verachtung gegenüber ihrer aliteralen Umgebung, durchaus verständlich und begründet ist und solches gilt sogar bis zum heutigen Tage. Voltaires negative Äußerungen ergeben sich, wie es in den einzelnen Abschnitten erläutert wurde, fast ausschließlich aus seiner Kritik am Judentum als einer Offenbarungsreligion und diese wäre, wenn sie sich, wie bei Voltaire, in eine Kritik der Religion überhaupt eingliederte, auch heute möglich, wäre sie nicht durch die mordbrennenden Nazis diskreditiert. Daß man aber, wie die Herren und Damen der interessierten Aufklärungsfeinde jetzt so tut, als hätte Voltaire die Kritik der jüdischen Religion nach dem Holocaust geschrieben, wirft ein Licht auf deren unredliche Absichten. Nur nebenbei sei darauf hingewiesen, daß die Immunisierung der jüdischen Religion für die israelische Bevölkerung selbst fatale Folgen hat, indem in Israel die fundamentalistischen Fanatiker im Windschatten dieses Schutzschildes immer mehr die Oberhand gewinnen. Andere negative Äußerungen Voltaires gegenüber den Juden, mit denen man ihn heute zum Antisemiten abstempeln will, was Poliakov ja auch schon versucht hat, sind in historischem Zusammenhang zu sehen. Voltaire hat die Juden seiner Zeit als mittelalterliches Volk wahrgenommen, das, von einer fundamentalistischen Priesterkaste beherrscht, den Gedanken der Aufklärung gegenüber mehrheitlich abhold oder feindlich gesinnt war. Die Geschichte der jüdischen Gemeinde in Amsterdam hätte ihm dafür als Beispiel dienen können. In Frankreich gab es keinen Moses Mendelssohn, der sich im Übrigen aus seiner Gemeinde herausstehlen und heimlich Deutsch lernen musste, weil ihm die Rabbiner solche Abtrünnigkeit nie erlaubt hätten, anderen Aufklärern innerhalb der jüdischen Gemeinschaften ist es ähnlich ergangen. Voltaire nahm die jüdischen Gemeinschaften wahrscheinlich als Fremdkörper in seiner Umgebung wahr, die sich in ihren konservativen, absurden Glauben einigelten und eher negativ als positiv die Entwicklung hin zu einer aufgeklärten Welt beeinflussten, ähnlich vielleicht, wie man heute die islamisch-konservativen Gruppierungen unserer Zeit wahrnehmen kann. Hier sei an sein „Ihr sollt sie aber nicht verbrennen“ erinnert, denn in diesem Zusammenhang gehört es nochmals gesagt. Im großen Werk Voltaires findet man viele Äußerungen, die sich aus seiner Kritik der jüdischen Religion ergeben, sie ist für ihn – wie das Christentum – „eine Religion des Aberglaubens mit grausamen, Gott zugeschriebenen Geboten, mit einer manipulativen Priesterschaft und barbarischen Verhaltensmaßregeln, die mit Humanismus und Moral nicht in Einklang zu bringen sind“. Aber nur an wenigen Stellen äußert er sich abfällig über die Juden als ethnische Gruppe. Auch die jüdischen Gemeinschaften zu seiner Zeit waren für Voltaire ein eher nebensächliches Thema. Im Vordergrund stand für ihn eindeutig der Kampf gegen die Mordbrenner, die Fanatiker der katholischen Kirche. Er hasste die Juden nicht, auch dann nicht, wenn er mit einigen von ihnen negative persönliche Erfahrungen machte, die er ganz offensichtlich nicht ihrer Religion zuschrieb. Nach der Revolution überwogen die Anerkennung und der Dank dafür, daß Voltaire mit seinem Kampf gegen religiösen Fanatismus die Inquisition zum Rückzug gezwungen hatte. Das französische Volk ehrte Voltaire, indem es seine sterblichen Überreste nach der Revolution aus Sellières, wo man ihn 1784 heimlich hatte begraben müssen, feierlich ins Panthéon überführen ließ.

Voltaire war kein Antisemit.

Literatur zum Thema, kommentierte Liste (wird ergänzt)

Es soll hier darauf verzichtet werden, Internetseiten zum Thema anzuführen, Schon bei oberflächlicher Durchsicht zeigt sich der entscheidende Mangel des Internets: es wird dort nicht inhaltlich argumentiert. Es scheint, als ob die Vielzahl der Äußerungen, die man hinter sich schart, über das Gewicht einer Meinung entscheiden soll. Die Frage, ob Voltaire ein Antisemit war oder nicht, lässt sich jedoch nicht durch Mehrheitsentscheidung klären, dazu muss man sich schon mit dem befassen, was er geschrieben hat, wie es die Autoren nachfolgender Werke, mehr oder weniger auch getan haben.

  • Emmerich Oppenheimer, Hanna, Das Judentum bei Voltaire, Sprache und Kultur der germanisch-romanischen Völker, Reihe C, Bd 6, Breslau: Priebatsch 1930, 263 S. Hanna Emmerich ( – 1983) war Bibliothekarin, arbeitete nach ihrer Auswanderung ab 1935 als Bibliothekarin an der jüdischen National- und Universitätsbibliothek in Jerusalem.
  • Feiner, Shemu’el, Haskala – Jüdische Aufklärung, Geschichte einer kulturellen Revolution, Hildesheim,Zürich, New York: Olms: 2007 Feiner zeigt in seiner sehr lesenswerten Geschichte der jüdischen Aufklärung, wie bedeutend diese Geistesströmung für freiheitsliebende Juden war und welche Kämpfe sie auszustehen hatten, bis eine moderne Schulbildung für jüdische Kinder durchgesetzt werden konnte. Seine Analyse des Moses Mendelsohn Umfeldes ermöglicht interessante Einblicke in die Auseinandersetzung mit dem jüdischen Fundamentalismus.
  • Gay, Peter, Voltaire’s Politics, The Poet as Realist, New Have, London: Yale University Press 1988, hier: Appendix III,Voltaire’s Anti-Semitism. In seinem kurzen Essay argumentiert Gay, daß Voltaires heftige Kritik am Judentum ihn nicht zu einem Rassisten mache und kommt zum Ergebnis: daß die Juden für Voltaire trotz aller Kritik auf die bessere Seite gehören, denn: „sie glauben nicht an die Unsterblichkeit der Seele und nicht an die Göttlichkeit ihres Messias, sie glauben an ihren Gott, aber sind nicht darüber erstaunt, daß andere Völker ihren eigenen haben“ Voltaire, Dict.Phil, Tolérance.
  • Hertzberg, Arthur, The French Enlightenment and the Jews, New York, 1968 Hertzberg (1926 – 2006) war ein äußerst konservativer Rabbi, der sogar das Ghetto als für das jüdische Leben positiv wertete, es verwundert nicht, daß er Voltaire ablehnend gegenüberstand. Erstaunlich ist allerdings, daß er Voltaires Antisemitismus als dadurch belegt ansieht, daß sich später etliche Antisemiten auf Voltaire berufen haben. Obwohl er den sermon du rabbin Akib erwähnt und auch etliche andere Textstellen, in denen Voltaire die Juden gegen die Angriffe des Christentums verteidigt, hat man den Eindruck, daß Hertzberg förmlich nach Gegenbeispielen sucht und sie in seinem, antivoltaireschen, Sinne interpretiert. Je weiter man in seinem Text voranschreitet und je weiter man sich im Text vom eigentlichen Voltairekapitel entfernt, desto aggressiver werden seine Angriffe auf Voltaire. Erstaunlich auch, wie stark Hertzberg den Kampf Voltaires gegen die Inquisition und die Lebensumstände eines Philosophen des 18. Jahrhunderts vernachlässigt. Im Anhang befindet sich eine umfangreiche Bibliographie der Schriften und Werke zum Thema.
  • Hentges, Gudrun, Schattenseiten der Aufklärung,, Schwalbach 1999 Die Autorin gehört zur Gruppe der Antivoltairianer und bemüht sich nach Kräften, der Aufklärung ‚Rassismus und Antisemitismus’ nachzuweisen und gleichzeitig die Religion, insbesondere das Christentum, aus der Schusslinie zu bringen. Sie hat folglich nicht sehr viel Verständnis für das freiheitliche Denken und seine Risken im 18. Jahrhundert und noch weniger für die intellektuelle Leistung und den Mut der Aufklärer. Dafür wird sie gelobt, dafür wird man in Deutschland habilitiert – an der Hochschule in Fulda angestellt – und von der Bundeszentrale für politische Bildung finanziert.
  • Katz, Jacob, From Prejudice to Destruction, Antisemitism 1700 – 1933. 1980, deutsch: Vom Vorurteil bis zur Vernichtung. Der Antisemitismus 1700 -1933, Aus dem Englischen von Ulrike Berger, München: Beck, 1989 Jacob Katz (1904 – 1998), viele Jahre Leiter des Leo Baeck Instituts in Jerusalem, zeichnet in seinem Buch die geistesgeschichtlichen Grundlagen des Holocaust nach. Voltaire widmet er dabei ein eigenes Kapitel, trennt dort sauber dessen Kritik an der jüdischen Religion von unbegründeten antijüdischen Äußerungen. Obwohl er Voltaire in diesem Kapitel nicht des Antisemitismus beschuldigt, erwähnt er ihn später in einem Atemzug mit Antisemiten wie Emil Dühring, was angesichts der ansonsten sehr angenehm sachlichen Schrift sehr ärgerlich ist und ihn in der Nachfolge von A.Hertzberg (s.o.) zum Wegbereiter der aktuellen Angriffe gegen die Aufklärung macht, die dann schon weiterschreibt: Voltaire, Nietzsche, Hitler. Seine These, der Antisemitismus habe zunächst christliche, später mit Bezug auf die Aufklärung aber säkulare Wurzeln (Enttäuschung aufgrund ausgebliebener Assimilation der Juden im 19. Jahrhundert), kann nicht überzeugen, zumal er selbst zahlreiche seiner eigenen These widersprechende Beispiele bringt. So beweist seine Studie eher, wie brüchig die Aufklärung in Deutschland war und daß auf dem Grunde allen Antisemitismus stets der alte christliche Fanatismus gelegen hat und noch immer liegt.
  • Klemperer, Wilhelm, Voltaire und die Juden, Vortrag gehalten zum Besten des Stipendienfonds der Hochschule für die Wissenschaft des Judenthums, Berlin, 1894 Wilhelm Klemperer (1839 – 1912) war Prediger der jüdischen Reformgemeinde in Berlin (Vater Victor Klemperers). Er stellt die verletzenden antijüdischen Äußerungen Voltaires an den Anfang seines Vortrags und obwohl er erklärt, Voltaires Kritik an der Bibel nicht als Zeichen von Antisemitismus werten zu wollen, zeugt sein Text vom Gegenteil. Klemperer versucht Voltaire einen üblen Charakter nachzuweisen, indem er ausführlich auf seine Finanztransaktionen, seinen Streit mit Friedrich II und mit Maupertuis eingeht.
  • Labroue, Henri, Voltaire antijuif, Paris 1942 Labroue hat für die Nazis aus Voltaires Werk antijüdische Stellen und Texte so kompiliert, daß sie denen ins Konzept passen sollten – vergeblich, die Faschisten sahen in Voltaire nie einen Verbündeten. Leider hat aber Léon Poliakov aus dieser Quelle reichlich geschöpft.
  • Liebeschütz, Hans, Hegel und seine Voraussetzungen in der europäischen Aufklärung, in: Das Judentum im deutschen Geschichtsbild von Hegel bis Max Weber, Tübingen: Mohr, 1967
  • Mervaud, Christiane, Le Dictionnaire philosophique de Voltaire (insbesondere Ch. 4 ) Paris: Voltaire Foundation, 1994 Diese Präsentation des Dictionnaire Philosophique ist eine tiefgründige Analyse der renommierten Voltaireexpertin Mervaud, die vor dem Hintergrund ihrer fundierten Kenntnis von Voltaires Gesamtwerk den Antisemitismusvorwurf zurückweist.
  • Poliakov, Léon, Histoire de l’Antisémitisme, Paris: Calmann-Lévy1968, dt: Geschichte des Antisemitismus, 8 Bd.Worms:1983 Poliakov war ein französischer Widerstandskämpfer gegen die Nazis. Seine Geschichte des Antisemitismus ist Ergebnis einer umfangreichen Sammlerarbeit, leider gegenüber der Aufklärung voreingenommen, so daß er es nicht schafft, seine Funde objektiv zu bewerten – mehr siehe unten, Kapitel 12.
  • Sakman, P, Voltaire als Kritiker der Bibel und des Christentums, In: Zeitschrift für wissenschaftliche Theologie, Bd. 40, H.3,4 1906 Der evangelische Theologe und Philosophieprofessor Paul Sakmann (1864 – 1936) sagt: “ Ein Inventar soll hier aufgenommen werden von dem Arsenal der Waffen, denen sich Voltaire in seinem weltgeschichtlichen Kampf bedient hat“. Die ätzende Art und Weise, wie er das allerdings tut, zeigt den eingefleischten Antivoltairianer im Gewande eines angeblich objektiven Berichterstatters, so meint er etwa: „Für die religionsgeschichtliche Bedeutung der Propheten sind Voltaire die Augen ganz verschlossen. Manchmal urteilt er über sie im Stil vulgärsten Antiklerikalismus: Der erste Wahrsager, der erste Prophet war der erste Schurke, dem ein Dummer in die Hände fiel“.(346)
  • Sepp, Arvi, Voltaire versus Rousseau, Die französische Aufklärung in den Tagebüchern Victor Klemperers des Dritten Reiches, in: Deutsche Chronik 56/57, Würzburg : Königshausen & Neumann, 2008, S.301 – 324 Arvi Sepp zeigt in diesem interessanten Aufsatz, wie V. Klemperer in Rousseau den ideologischen Vorläufer des Faschismus sah und Voltaire für ihn der klare Gegner und in der Nazizeit Bezugspunkt für sein geistiges Überleben gewesen ist.
  • Stern, Selma, Der preußische Staat und die Juden, Bd 3, Die Zeit Friedrichs des Großen, Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo Baeck Instituts, 24/1,Tübingen:Mohr, 1971. In diesem Werk bringt die Mitbegründerin des Leo Baeck Instituts, Selma Stern, eine zwar nicht wohlwollende, etwas tendenziöse, aber gleichwohl gute Zusammenfassung der Ergebnisse von Voltaires Kritik des historischen Judentums: Voltaires Kampf gegen die Bibel, schreibt sie, sei „der im Zeitalter der Aufklärung merkwürdige Versuch, das Volk des Alten Testaments als Plagiatoren und Nachahmer fremder Kulturen zu entlarven, die Unwürdigkeit der biblischen Erzählungen nachzuweisen, den Anspruch der Juden auf die Einzigartigkeit ihrer Religion zu erschüttern, ihnen jede wissenschaftliche, menschliche, künstlerische und politische Fähigkeit abzusprechen, ihre Unsittlichkeit und ihren Fanatismus, ihre Blut- und Habgier, ihre Verschlagenheit und Treulosigkeit zu enthüllen, ja ihre Religion selbst als unmoralisch und materialistisch abzulehnen. Wenn Voltaire dabei von der Absicht geleitet wurde, durch die Widerlegung des Judentums das Christentum zu widerlegen, durch die Offenbarung der biblischen Fälschungen seinen Mitmenschen die Augen über den Wert oder Unwert der jüdischen Religion, der Mutter der christlichen Religion, zu öffnen. (…) Und wenn Voltaire die Juden der Gegenwart ebenso ablehnte wie die Juden des Altertums, so deshalb, weil ihr Glaube an ihre Auserwähltheit, ihre nationale und religiöse Absonderung, ihr starres Festhalten an alten, längst überholten Bräuchen, ihre mystische Gebundenheit an den Gott der Offenbarung ihm, dem Aufklärer, dem Weltbürger, als reaktionär und mittelalterlich erschien und geeignet, den allgemeinen Entwicklungsprozeß der Völker aufzuhalten oder zu gefährden,..(S.8 – 9)

Kritik an Léon Poliakov: Geschichte des Antisemitismus

Wenn man sich mit den Ursachen des Holocaust beschäftigt, also mit der Frage, wie es dazu kommen konnte, daß hunderttausende Juden in den Konzentrationslagern der Nazis ausgehungert, erschossen, vergast und verbrannt wurden, ist es naheliegend, sich mit den geistesgeschichtlichen Wurzeln des Antisemitismus zu beschäftigen, was Léon Poliakov in seiner ‚Geschichte des Antisemitismus’ auch getan hat. Unweigerlich stößt er dabei auf die unheilige Geschichte des Christentums mit seinen jahrhundertelang aufgebauten, gehegten, von allen Kanzeln verkündeten antijüdischen Einstellungen, ganz gleich, ob es sich um das Christentum Ostroms oder Westroms oder um die abtrünnigen Protestanten handelt. Er hat dazu umfangreiches Material zusammengestellt und besonders in dem Kapitel, wo er vom Entstehen der jüdischen Gemeinden im Polen des 13. Jahrhunderts, einer erst seit relativ kurzer Zeit christianisierten Gesellschaft, berichtet, wird die enge Verbindung zwischen Judenhass und christlichem Fanatismus deutlich. Dabei hätte sich der Gedanke einstellen müssen, daß der Hass gegen die Juden, wie er im Nazireich kulminierte, auf den alten religiös bedingten Hass des Christentums gegen die Juden zurückgeht und daß Antisemitismus auf religiösem Fanatismus gründet. Poliakov hätte sich dazu mit der Psychologie der Religion und des religiösen Fanatismus beschäftigen müssen – schließlich war er psychologischen Einsichten gegenüber aufgeschlossen – und wäre zu der Erkenntnis gelangt, daß alle monotheistischen Religionen zum Fanatismus neigen. Eine auf paranoider Grundlage aufgebaute und mit Macht versehene Organisation wird aus psychologischen Gründen nicht eher ruhen, bis sie nicht alle an ihrem Gottesglauben Zweifelnden integriert oder ausgerottet hat. Diese Schlussfolgerung zu ziehen, hat Poliakov unterlassen, er hat sich stattdessen vom angeblichen Antichristentum der Nazis blenden lassen. Wohl aus diesem Grunde kam er auf den Gedanken, in der geistesgeschichtlichen Strömung der Aufklärung, die der christlichen Religion im 18. Jahrhundert den Kampf angesagt und sie dabei entscheidend geschwächt hatte, eine zweite Wurzel des Antisemitismus anzunehmen und leider ist ihm in dieser Argumentation auch Jacob Katz gefolgt (s.o). Poliakov trug diverse unschöne, judenfeindliche Äußerungen aus den Schriften der Aufklärung zusammen, wobei er allerdings ihre Aussagen aus religionskritischen Texten, die sich mit der jüdischen Religion und ihrer Geschichte befassen, mit verallgemeinernden, abwertenden und ungerechtfertigten Äußerungen gegen Juden zusammenwirft. Er hat auch verkannt, daß in dieser Zeit Kritik an der Kirche lebensgefährlich war und sich Bibelkritik, wenn sie nicht auf dem Scheiterhaufen enden sollte, hinter den der Kirche entlehnten antijüdischen Äußerungen zu verstecken suchte. Ob solche Äußerungen dann auf eine antisemitische Haltung des jeweiligen Autors zurückgehen, oder ob sie vielleicht ein Überrest aus der antisemitischen Tradition des Christentums sind oder auf den Versuch, sich vor Verfolgung zu schützen, zurückzuführen sind, bedarf einer sorgfältigen und im Einzelfall nicht einfach durchzuführenden Textanalyse, die eine möglichst genaue Kenntnis des Werkes und der Biographie des betreffenden Autors erfordert. Was Voltaire betrifft, muss man zu dem Schluß kommen, daß Poliakov seinen Antisemitismusvorwurf leichtfertig, vermischt mit völlig unzulänglichen psychologischen Hilfskonstruktionen, vorgebracht hat. Über seine missglückten biographisch-persönlichen Erklärungsansätze (Geiz, latente Homosexualität etc.) hinaus bringt er keinerlei inhaltliche Begründung, weshalb gerade die Geistesströmung der Aufklärung und besonders Voltaire mit ihrer Forderung nach religiöser Toleranz und ihrer antichristlichen, wissenschaftsfreundlichen Haltung zum Antisemitismus geführt haben soll. Sicher hat ihre Ablehnung der Offenbarungsreligionen mit ihren Kirchen und Priesterschaften auch vor der jüdischen Religion nicht Halt gemacht, aber inhaltlich zu begründen, welcher Weg von hier aus zu der antiwissenschaftlichen, irrationalen und menschenfeindlichen Naziideologie führen soll, ist uns Poliakov in jeder Hinsicht schuldig geblieben. Das wäre angesichts des hohen Anspruchs Poliakovs zwar bedauerlich, aber weiter nicht schlimm, wenn nicht gerade dieser äußerst schwache Argumentationsstrang zur Exkulpation des Christentums und ihrer Organisationen herangezogen würde. Da alles antisemitisch war, so lautet diese üble Strategie, haben alle gleichermaßen Schuld und man kann das Buch schließen, denn der Ursachen und Täter sind gar viele. Wenn sich dann, wie es heute geschieht, die gleichen Kirchen, die für den Antisemitismus historisch die Verantwortung tragen, das Andenken an die Opfer des Holocaust unwidersprochen ans Revers heften, ist diese perfide Strategie an ihr erfolgreiches Ende gekommen und der Zusammenhang zwischen monotheistischer Religion und Fanatismus scheinbar vergessen. Daher ist zu befürchten, daß die Feinde der Aufklärung jetzt ihre Zeit gekommen sehen, um die Behauptung von der antisemitischen Tradition der Aufklärung zu nutzen und daß sie diese mit altem Ziel und neuem Elan unter die Leute tragen werden.

Voltaire: Die Predigt des Rabbi Akib

Der Text Voltaires bezieht sich auf ein Autodafé in Lissabon, das bis jetzt allerdings nicht nachgewiesen wurde. Er hat es auch in seinem Gedicht über das Erdbeben in Lissabon erwähnt – wir bringen den Text in einer freien Übersetzung auf Französisch und Deutsch. Die Predigt des Rabbi Akib lesen