Die Gegner des Christentums, vorgestellt von Voltaire, in: „Lettres sur Rabelais“ (1767), Abschnitte III-X. Erstmals übersetzt und kommentiert von Rainer Neuhaus (2024).

Lettres à S. A. MGR Le Prince de ***** sur Rabelais et sur d’autres Auteurs accusés d’avoir mal parlé de la Religion chrétienne

Die Lettres sur Rabelais erschienen 1767. Der Prinz, an den sie gerichtet sind, war Karl Wilhelm Ferdinand von Braunschweig-Lüneburg (1735-1806).
Unsere Übersetzung ist eine vorläufige Arbeitsdatei, zunächst ohne die Briefe I., II., VIII., IX., X., für die bereits eine Übersetzung (Voltaire, Kritische und Satirische Schriften, München: Winkler 1970) vorliegt.
(Stand 18.3.2024)

III. Brief: Über Vanini

Mein Herr,
um Ihre Bitte zu erfüllen, Ihnen etwas über Vanini zu berichten, kann ich nichts Besseres tun, als Sie auf den dritten Abschnitt des Artikels Atheismus im Philosophischen Wörterbuch zu verweisen; ich will zu den angemessenen Gedanken, die Sie dort finden werden, hinzufügen, dass eine Biographie Vaninis im Jahre 1717 in London gedruckt wurde. Sie ist Milord North und Crey gewidmet1. Ein französischer Flüchtling, sein Kaplan, hat sie geschrieben2. Um den Charakter dieser Person zu verstehen, genügt es zu wissen, dass er sich in seiner Geschichte auf das Zeugnis des Jesuiten Garasse3 stützt, des absurdesten und unverschämtesten Verleumders und zugleich des lächerlichsten Schriftstellers, den es je unter den Jesuiten gegeben hat. Hier sind die Worte Garasses, wie sie der Kaplan zitiert hat und wie sie wirklich in der merkwürdigen Doctrine4 dieses Jesuiten (S. 144), zu finden sind:

„Was Lucile Vanini betrifft, so war er ein Neapolitaner, ein Mann aus dem Nichts, der ganz Italien und als Pedell auch einen guten Teil Frankreichs auf der Suche nach freigiebigen Ernährern durchstreift hatte. Dieser böse Schuft, der im Jahre 1617 in die Gascogne gekommen war, begann sein Unkraut dort auszusäen. In der Annahme, Köpfe gefunden zu haben, die für seine Vorschläge empfänglich waren, beabsichtigte er, eine reiche Ernte der Gottlosigkeit einzufahren. Er schlich sich unverschämt in die Adelshäuser ein, um es sich dort so bequem zu machen, als wäre er ein Hausangestellter und als wäre er seit langem mit den Eigenheiten des  Landes bekannt; aber er traf auf Gemüter, die stärker und entschlossener in der Verteidigung der Wahrheit waren, als er es sich vorgestellt hatte“.

Was kann man von einer Biographie halten, mein Herr, die auf solchen Erzählungen aufgebaut ist? Was Sie noch mehr überraschen wird, ist, dass man bei der Verurteilung dieses unglücklichen Vanini keines seiner Bücher vorlegte, in denen der angebliche Atheismus, aufgrund dessen er verurteilt wurde, enthalten gewesen wäre. Alle Bücher dieses armen Neapolitaners waren Bücher über Theologie und Philosophie, mit behördlicher Erlaubnis gedruckt und von Doktoren der Pariser Fakultät abgesegnet. Selbst seine Dialoge, die man ihm heute zum Vorwurf macht, denen man im Übrigen bloß vorhalten kann, langweilig zu sein, wurden in französischer, lateinischer und selbst griechischer Übersetzung mit dem höchsten Lob geehrt. Unter diesen Lobreden finden wir vor allem diese Verse eines berühmten Pariser Arztes:

Vaninus, vir mente potens, sophiaeque magister, Maximus, Italiae decuss, et nova gloria gentis.
(Vaninus, ein Mann mit starkem Geist und Meister der Philosophie, der Schmuck Italiens und der neue Ruhm der Nation)

Diese beiden Verse wurden auch auf Französisch wiedergegeben:
Ehre Italiens, Nachahmer Griechenlands, Vanini macht Weisheit bekannt und geschätzt.

Aber all dieses Lob ist vergessen, und man erinnert sich nur daran, dass er bei lebendigem Leibe verbrannt wurde. Man muss zugeben, dass man die Menschen manchmal ein wenig zu leicht verbrennt, wie Jean Hus, Hieronymus von Prag, die Ratsherrin Anne Dubourg, Servetus, Antoine, Urbain Grandier, der Maréchale d’Ancre, Morin und Jean Calas; Zeugen jener zahllosen Schar von Unglücklichen, die fast alle christlichen Sekten reihenweise in den Flammen umkommen ließen: ein Schrecken, den die Perser, die Türken, die Tataren, die Inder, die Chinesen, die römische Republik und alle Völker des Altertums nicht kannten; ein Schrecken, der unter uns noch kaum beseitigt ist und unsere Kinder erröten lassen wird, weil sie von solch abscheulichen Vorfahren abstammen.

IV. Brief: Über englische Autoren

Mein Herr,
Eure Hoheit fragt, wer diejenigen sind, die die Kühnheit besaßen, sich nicht nur gegen die römische Kirche, sondern auch gegen die christliche Kirchen überhaupt auszusprechen; die Zahl ist erstaunlich, besonders in England. Einer der ersten ist Lord Herbert von Cherbury, der 1648 starb und durch seine Abhandlungen über die Religion des Laizismus und die der Heiden bekannt wurde5.

Hobbes erkannte keine andere Religion an als diejenige, der die Regierung ihre Zustimmung gab. Er wollte keine zwei Herren: Der wahre Papst sind die Gerichtshöfe. Diese Lehre erregte den ganzen Klerus. Man verschrie sie als Skandal, nach etwas Nie-Dagewesenem. Für den Skandal, das heißt, für das, was zu Fall bringt, gab es Anhaltspunkte; aber nicht für etwas Nie-Dagewesenes, denn in England war der König lange Zeit das Haupt der Kirche gewesen. Die Kaiserin von Russland war ihr Oberhaupt in einem Land, das größer war als das Römische Reich. In der römischen Republik war der Senat das Oberhaupt der Religion, und jeder römische Kaiser ein souveräner Papst.

Lord Shaftesbury6 übertraf Herbert und Hobbes an Kühnheit und Stil bei weitem. Seine Verachtung für die christliche Religion sticht allzu offensichtlich hervor.

Wollastons Natural Religion ist mit größerer Sorgfalt geschrieben; da er aber nicht die Stellung eines Lord Shaftesbury hatte, so ist dieses Buch kaum gelesen worden, außer von Philosophen7.

Von Toland

Toland8 teilte heftigere Schläge aus. Er war eine stolze, unabhängige Seele; in Armut geboren, wäre er vielleicht zu Reichtum aufgestiegen, wenn er gemäßigter gewesen wäre. Die Verfolgung irritierte ihn; er schrieb gegen die christliche Religion aus Hass und Rache.

Sein erstes Buch das den Titel Christentum ohne Geheimnis trägt, hatte er selbst etwas geheimnisvoll geschrieben, seine Kühnheit war unter einem Schleier verborgen. Er wurde verurteilt; er wurde bis nach Irland verfolgt, und alsbald war der Schleier zerrissen. Seine Werke Origines Judaicae9, Nazarenus10, sein Pantheisticon11 waren Ausdruck der Kämpfe, die er offen gegen das Christentum führte. Das Merkwürdige ist, dass, nachdem er in Irland wegen des vorsichtigsten seiner Werke unterdrückt worden war, er in England nie, auch nicht wegen der kühnsten seiner Bücher belästigt wurde.

Man warf ihm vor, sein Pantheisticon mit einem gotteslästerlichen Gebet beendet zu haben, das in der Tat in einigen Ausgaben zu finden ist: „Omnipotens et sempiterne Bacche, qui hominum corda donis tuis recreas, concede propitius ut qui hesternis poculis aegroti facti sunt, hodiernis curentur, per pocula poculorum. Amen!“12

Da es sich bei dieser Profanation aber um eine Parodie auf ein Gebet der katholischen Kirche handelte, waren die Engländer davon nicht schockiert. Außerdem wurde darauf hingewiesen, dass dieses profane Gebet gar nicht von Toland stammt; es wurde zweihundert Jahre zuvor in Frankreich von einer Gesellschaft von Trinkern erstellt und findet sich in der 1563 gedruckten Carême allégorisé. Dieser Narr von einem Jesuiten Garasse spricht davon in seiner Doctrine curieuse, Buch II, Seite 201.

Toland starb 1721 mit großem Mut. Seine letzten Worte waren: „Ich gehe schlafen.“ Es gibt noch ein paar Verse zu Ehren seines Andenkens; sie wurden nicht von Priestern der anglikanischen Kirche verfassst.

Von Locke

Der große Philosoph Locke ist zu Unrecht zu den Feinden der christlichen Religion gezählt worden. Es ist wahr, dass sein Buch Die Vernünftigkeit des Christentums13 ziemlich weit vom gewöhnlichen Glauben abweicht; aber die Religion der Primitiven, die man Zitterer nennt, die in Pennsylvanien eine so große Figur macht, ist dem gewöhnlichen Christentum noch weiter entfernt; und doch stehen sie im Ruf, Christen zu sein.

Man hat ihn beschuldigt, nicht an die Unsterblichkeit der Seele zu glauben, weil er überzeugt war, dass Gott, der absolute Herr aller Dinge, der Materie Gefühle und Gedanken geben konnte (wenn gewollt hätte). Herr von Voltaire hat ihn gegen diesen Vorwurf verteidigt. Er (Locke) bewies, dass Gott das Atom, die Monade, die er mit der Gabe des Denkens zu begünstigen geruhte, ewig bewahren kann14. Das war die Auffassung des berühmten und heiligen Priesters Gassendi15 frommer Verteidiger des Guten, das in der Lehre des Epikur stecken mag. Lesen Sie seinen berühmten Brief an Descartes16:

„Von woher kommt dieser Begriff zu Ihnen? Kommt er vom Körper her, können sie selbst nicht ohne Ausdehnung sein. Lehren Sie uns, wie es möglich ist, dass das Wesen oder die Idee eines Körpers, der ausgedehnt ist, von Ihnen aufgenommen werden kann, d.h. von einer Substanz, die nicht ausgedehnt ist.  Es ist wahr, Sie sind sich dessen bewusst, dass Sie denken, aber Sie wissen nicht, was für eine Art Substanz Sie als denkendes Wesen sind, obwohl Ihnen die Funktionsweise des Denkens bekannt ist. Der Hauptteil Ihres Wesens ist vor Ihnen verborgen, und Sie wissen nicht, was die Natur dieser Substanz ist, zu deren Operationen das Denken gehört, usw..“

Locke starb in Frieden und sagte zu Mrs. Masham17 und ihren Freunden um ihn herum: „Das Leben ist reine Eitelkeit.“

Von Bischof Taylor und von Tindal

Taylor, Bischof von Connor, ist vielleicht wegen seines Buches The Guide of the Doubters zu Unrecht zu den Ungläubigen gezählt worden.18

Aber für Dr. Tindal, den Verfasser von Das Christentum, so alt wie die Welt19, war er immer der unerschrockenste Anhänger der Naturreligion sowie des Königshauses von Hannover. Er war einer der gelehrtesten Männer in der Geschichte Englands. Er wurde für den Rest seines Lebens mit einer Pension von zweihundert Pfund Sterling geehrt. Da er die Bücher von Pope nicht schätzte, die er absolut ohne Genie und Phantasie fand und er ihm nur das Talent zugestand, Verse zu schmieden und  Gedanken anderer ins Werk zu setzen, war Pope sein unerbittlicher Feind. Tindal war überdies ein glühender Whig und Pope ein Jakobit20. Es ist kein Wunder, dass ihn Pope in seiner Dunciade21 zerriss, einem Werk, das Dryden nachahmt und voller Niedertracht und ekelhafter Bilder ist.

Von Collins

Einer der furchtbarsten Feinde der christlichen Religion war Anthony Collins22, Großschatzmeister der Grafschaft Essex, ein guter Metaphysiker und von großer Gelehrsamkeit. Es ist traurig, dass er seine tiefgründige Dialektik nur gegen das Christentum einsetzte. Dr. Clarke, ein berühmter Socinianer, Autor eines sehr guten Buches23, in dem er die Existenz Gottes beweist, gelang es nie, auf Collins‘ Bücher zufriedenstellend zu antworten und verfing sich stattdessen in Beleidigungen.

Seine philosophischen Forschungen über die Freiheit des Menschen, über die Grundlagen der christlichen Religion, über die Prophezeiungen der Bibel, über die Freiheit des Denkens sind bedauerlicherweise siegreiche Werke geblieben.

Von Woolston

Der allzu berühmte Thomas Woolston24, Magister Artium in Cambridge, zeichnete sich um das Jahr 1726 durch seine Reden gegen die Wunder Jesu Christi25 aus und erhob sein Banner so hoch, dass er seine Werke in London in seinem eigenen Hause verkaufen ließ. Drei Auflagen wurden in rascher Folge von je zehntausend Exemplaren hergestellt.

Niemand hatte sich bisher in Sachen Kühnheit und Skandal so weit vorgewagt. Er behandelt die Wunder und die Auferstehung unseres Erlösers als kindische und extravagante Geschichten. Er sagt, dass Jesus Christus, als er für seine Jünger Wasser in Wein verwandelte, dies anscheinend geschah, um ihn; da sie bereits betrunken waren, zu Punsch zu verdünnen. Die Geschichte von Gott, den der Teufel auf die Zinne des Tempels und auf einen Berg entführt hatte von dem aus alle Reiche der Erde zu sehen waren, erschien ihm als eine ungeheuerliche Gotteslästerung. Der Teufel, der in eine Herde von zweitausend Schweinen geschickt wurde, vom Feigenbaum, der vertrocknete, weil er keine Feigen getragen hatte, obwohl es nicht Feigenzeit war, die Transfiguration Jesu, und seine Kleider, die ganz weiß wurden, sein Gespräch mit Moses und Elias, kurz, seine ganze heilige Geschichte wird in einen lächerlichen Roman verwandelt. Woolston sparte nicht mit beleidigendsten und verächtlichsten Ausdrücken. Unseren Herrn Jesus Christus nennt er oft:  ein Bursche, dieser Kerl; ein Wanderer, ein Vagabund, ein Bettelmönch, ein Quacksalber.

Er rettet sich jedoch mit dem Hinweis auf den mythischen Sinn, indem er sagt, dass diese Wunder fromme Allegorien sind. Alle guten Christen haben jedoch einen Schrecken vor seinem Buch gehabt.

Eines Tages ereignete es sich, dass ihn eine Betschwester, als sie ihn auf der Straße vorbeigehen sah, ins Gesicht spuckte. Er wischte sich in aller Ruhe ab und sprach zu ihr: „Genau so haben die Juden deinen Gott behandelt“. Er starb in Frieden und sprach: “ This a pass every man must come to; dies ist ein Endpunkt, der jeden Mensch erwartet“.
Sie werden im Dictionaire portatif des Abbé Ladvocat26und in einem Nouveau Dictionnaire portatif, in dem man denselben Fehler kopiert hat, finden, dass Woolston im Jahre 1733 im Gefängnis gestorben sei. Nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein; mehrere meiner Freunde haben ihn in seinem Haus angetroffen: er starb in Freiheit und bei sich zuhause.

Von Warburton

Warburton, den Bischof von Glocester27, hat man als einen der kühnsten Ungläubigen, die je geschrieben haben angesehen, weil er Legation of Moses behauptete, nachdem er Shakespeare kommentiert hatte, dessen Komödien und manchmal sogar Tragödien von zügellosem Spott wimmeln, Gott habe sein geliebtes Volk nicht die Unsterblichkeit der Seele gelehrt. Es mag sein, dass dieser Bischof zu hart beurteilt wurde, und dass der Stolz und der satirische Geist, den man ihm vorwarf, die ganze Nation gegen ihn aufbrachte. Es ist viel gegen ihn geschrieben worden. Die ersten beiden Bände seines Werkes erscheinen nur als ein eitles Wirrwarr von falscher Gelehrsamkeit, in denen er sein Thema nicht einmal behandelt, und die überdies seinem Gegenstande widersprechen, da sie nur darauf abzielen, zu beweisen, dass alle Gesetzgeber die Unsterblichkeit der Seele zu einem Grundsatz ihrer Religionen gemacht haben, worin selbst Warburton irrt.  Denn weder Sanchoniathon der Phönizier, noch das chinesische Buch der Fünf Könige, noch Konfuzius nehmen diesen Grundsatz an.

Aber an keiner Stelle seiner vielen Ausflüchte antwortet Warburton auf die bedeutenden Beweisführungen, mit denen man ihn konfrontiert hatte. Er behauptete, alle Weisen hätten die Unsterblichkeit der Seele, die Strafen und Belohnungen nach dem Tode als Grundlage der Religion festgelegt; doch Moses spricht weder in seinem Dekalog noch in irgendeinem seiner Gesetze davon; daher war Moses nach ihrer Ansicht kein weiser Mann. Entweder wurde ihm dieses große Dogma erläutert, oder er kannte es nicht: wenn er darin unterwiesen wurde, so ist er schuldig, es nicht gelehrt zu haben; Wenn er es nicht kannte, war er unwürdig, Gesetzgeber zu sein.

Entweder Mose war von Gott inspiriert, oder er war nur ein Scharlatan: wenn Gott Mose inspirierte, konnte er ihm die Unsterblichkeit der Seele nicht verheimlichen, und wenn er ihn nicht lehrte, was alle Ägypter wussten, so hat Gott ihn und sein ganzes Volk getäuscht; wenn Sie, Herr Warburton, annehmen, dass Moses nur ein Scharlatan war, zerstören Sie das ganze mosaische Gesetz und untergraben damit die christliche Religion, die auf der mosaischen aufgebaut ist, von Grund auf. Und schließlich, wenn Sie annehmen, Gott habe Mose getäuscht, machen Sie das unendlich vollkommene Wesen zu einem Betrüger und Schurken. Wohin Sie sich auch drehen und wenden, Sie lästern.

Wenn Sie glauben, Sie könnten sich aus der Affäre ziehen, indem Sie sagen, Gott habe sein Volk direkt entgolten, indem er es sogleich für seine Abweichungen bestrafte und mit irdischen Gütern belohnte, wenn es treu war. Diese Ausflucht ist erbärmlich, denn wie viele Übertreter haben ihre Tage so  wie Salomon in Wonne verbracht! Muss man nicht den gesunden Menschenverstand oder die Scham verloren haben, um zu sagen, dass bei den Juden kein Schurke der irdischen Strafe entging? Ist nicht in der Heiligen Schrift hundertmal von der Glückseligkeit der Gottlosen die Rede?

Wir wussten schon vor Ihnen, Herr Warburton, dass weder der Dekalog noch der Levitikus die Unsterblichkeit der Seele oder ihre Spiritualität erwähnen; noch Strafen und Belohnungen in einem anderen Leben; aber von Ihnen hörte man das nicht. Was für einen Laien verzeihlich ist, ist für einen Priester nicht verzeihlich; und vor allem hätten Sie es nicht in vier langweiligen Bänden sagen sollen.

Das ist, was gegen Warburton vorgebracht wurde. Er antwortete mit abscheulichen Beleidigungen und endlich glaubte er, Recht zu haben, weil ihm sein Bistum zweitausendfünfhundert Guineen Rente einbrachte. Ganz England erklärte sich trotz seiner Guineen gegen ihn. Er hat sich durch die Bösartigkeit seines unverschämten Charakters viel mehr verhasst gemacht als durch die Absurdität seines Systems.

Von Bolingbroke

Mylord Bolingbroke28 war kühner als Warburton und von besserem Glauben. In seinen Philosophischen Werken sagt er stets, dass Atheisten viel weniger gefährlich sind als Theologen. Er argumentierte als Staatsminister, der wusste, wie viel Blut theologische Auseinandersetzungen England gekostet hatten; aber er sollte sich darauf beschränken, die Theologie zu verbieten, und nicht die christliche Religion, aus der jeder Staatsmann sehr große Vorteile für das Menschengeschlecht ziehen kann, indem er sie in ihren Schranken weist, wenn sie diese überschritten hat. Nach dem Tode des Lord Bolingbroke wurden einige seiner Werke veröffentlicht, die noch heftiger sind als seine Philosophische Sammlung; er entfaltet darin eine verhängnisvolle Beredsamkeit. Niemand hat je etwas Stärkeres geschrieben: wir sehen, dass er einen Abscheu vor der christlichen Religion hatte. Es ist traurig, dass ein so erhabenes Genie einen Baum an der Wurzel fällen wollte, den er durch Beschneiden der Zweige und Säubern seines Mooses sehr nützlich hätte machen können.

Man kann die Religion reinigen. Dieses große Werk wurde vor fast zweihundertfünfzig Jahren begonnen29; aber die Menschen werden nur nach und nach aufgeklärter. Wer hätte damals vorausgesehen, dass wir die Strahlen der Sonne analysieren, mit Donner elektrisieren und das Gesetz der universellen Gravitation entdecken würden, das dem Universum zugrunde liegt? Es ist an der Zeit, so Bolingbroke30, dass die Theologie verbannt wird, so wie die Astrologie bei Gericht, die Hexerei, die Besessenheit vom Teufel, die Wünschelrute, das universelle Allheilmittel und die Jesuiten verbannt werden. Die Theologie hat immer nur dazu gedient, Gesetze ins Gegenteil umzustoßen und die Herzen zu verderben: sie allein macht Atheisten, denn die große Zahl der Theologen, die Vernunft genug haben, um die Lächerlichkeit dieser Hirngespinste zu erkennen, wissen nicht genug, um sie durch eine gesunde Philosophie zu ersetzen. Die Theologie, sagen sie, ist nach der Bedeutung des Wortes die Wissenschaft von Gott. Nur haben die Schurken, die diese Wissenschaft entweiht haben, absurde Vorstellungen von Gott verbreitet, und daraus schließen sie, dass Gott selbt ein Hirngespinst ist, weil die Theologie eine Hirngespinst ist. Das ist genau das gleiche, wie wenn man sagt, dass man nicht Chinarinde gegen Fieber einnehmen sollte, bei Übergewicht keine Diät halten, noch bei Schlaganfall zu Ader lassen sollte, weil es schlechte Ärzte gegeben hat; es bedeutet, das man das Wissen über den Lauf der Sterne leugnen soll, weil es Astrologen gegeben hat; es sollen die offensichtlichen Wirkungen der Chemie geleugnet werden, weil Quacksalber vorgetäuscht haben, Gold herzustellen. Die Leute von Welt, die noch unwissender sind als diese kleinlichen Theologen, sagen: „Hier sind Bakkalaureaten und Lizentiaten, die nicht an Gott glauben; Warum sollten wir an ihn glauben? Das ist die verhängnisvolle Folge des theologischen Geistes. Falsche Wissenschaft macht Atheisten; wahre Wissenschaft wirft den Menschen vor Gott nieder und macht denjenigen gerecht und weise, der durch den Missbrauch der Theologie ungerecht und töricht geworden ist.

Von Thomas Chubb

Thomas Chubb31ist ein von der Natur geformter Philosoph. Die Feinheit seines Genies, die er missbrauchte, führte ihn dazu, nicht nur der Partei der Socinianer anzuhängen, die Jesus Christus nur als einen Menschen betrachten, sondern auch jener der starrsinnigen Deisten, die einen Gott anerkennen und kein Mysterium zulassen. Seine Fehler sind methodischer Natur: Er möchte alle Menschen in einer Religion vereinen, von der er glaubt, dass sie geläutert sei, weil sie einfach ist. Das Wort Christentum steht in seinen verschiedenen Werken auf jeder Seite, aber es selbst ist nicht darin enthalten. Er wagt zu glauben, dass Jesus Christus der Religion von Thomas Chubb angehöre, aber er selbst gehört nicht der Religion von Jesus Christus an. Ein fortwährender Missbrauch der Worte ist die Grundlage seiner Überzeugungskraft. Jesus Christus sagte: „Liebe Gott und deinen Nächsten“, das ist das ganze Gesetz, das ist der ganze Mensch. Chubb hält sich an diese Worte und lässt alles andere beiseite. Er hält unseren Erlöser für einen Philosophen wie Sokrates, der wie dieser getötet wurde, weil er den Aberglauben und die Priester seines Landes bekämpfte. Im Übrigen schrieb er zurückhaltend und verhüllte sich stets mit einem Schleier. Die Undeutlichkeiten, in die er sich hüllte, brachten ihm mehr Ansehen als Leser ein.

V. Brief: Über Swift

Es ist wahr, Monsieur, dass ich nicht von Swift gesprochen habe32; er verdient einen eigenen Artikel. Er ist der einzige englische Schriftsteller dieser Kategorie, der humorvoll war. Es ist eine sehr merkwürdige Sache, dass die beiden Männer, denen man am meisten vorwerfen kann, dass sie es gewagt haben, die christliche Religion lächerlich zu machen, zwei für die Seelen zuständige Priester gewesen sind. Rabelais war Pfarrer von Meudon, und Swift Dekan der Kathedrale von Dublin: beide schleuderten mehr Sarkasmen gegen das Christentum als Molière sie der Medizin verpasste, und beide lebten und starben friedlich, während andere Männer wegen einiger zweideutiger Worte verfolgt, vor Gericht gestellt und umgebracht wurden.

Manchmal zerbricht einer, wo der andere sich rettet,
Und woran der eine zugrunde geht, schützt den andren.

(Cinna, Akt II, Szene I.)33

Die Erzählung vom Fass des Dekan Swift34ist eine Imitation der Drei Ringe35 Die Fabel von diesen drei Ringen ist sehr alt: Sie stammt aus der Zeit der Kreuzzüge. Es war ein alter Mann, der, als er starb, jedem seiner drei Kinder einen Ring hinterließ; sie stritten sich, wer den Schönsten hätte; schließlich, nach langer Debatte, einigte man sich darauf, dass die drei Ringe genau gleich seien. Der gute alte Mann ist der Deismus, die drei Kinder sind die jüdische, die christliche und die muslimische Religion.

Der Autor vergaß die Religionen der Magier, der Brahmanen und viele andere; da er ein Araber war, kannte er nur diese drei Sekten. Diese Fabel führt zu jener Indifferenz, die man dem Kaiser Friedrich II. sehr vorwarf und auch seinem Kanzler de Vineis36, den man beschuldige, das Buch De Tribus Impostoribus verfasst zu haben, das, wie Sie wissen, nie existiert hat.37

Die Geschichte von den drei Ringen findet sich in einigen alten Sammlungen, der Doktor Swift hat sie durch drei Gewänder ersetzt. Die Einleitung zu diesem gottlosen Spott ist des ganzen Werkes würdig; sie zeigt einen Holzschnitt, der drei Varianten öffentlichen Sprechens darstellt: erstens das Theater von Harlekin und Gilles, dem Narren; zweitens einen Prediger, dem eine halbes Fass als Kanzel dient; drittens eine Leiter, von deren Ende aus ein Mann, der gehängt werden soll, zum Volk spricht. Ein Prediger zwischen Gilles, dem Narren, und einem Gehenkten macht keine gute Figur.

Der Hauptteil des Buches ist eine allegorische Geschichte der drei Hauptsekten, die Südeuropa trennen, die römische, die lutherische und die calvinistische; denn er spricht nicht von der griechischen Kirche, die sechsmal so viel Boden besitzt wie jede der drei anderen, und er übergeht den Mohammedanismus, der viel verbreiteter ist, als die griechische Kirche.

Die drei Brüder, denen der alte Vater drei gleichfarbige Gewänder vermachte, sind Peter, Martin und Johannes, das heißt der Papst, Luther und Calvin. Der Autor lässt seine drei Helden mehr extravagante Streiche vollbringen, als Cervantes seinen Don Quijote und Ariost seinen Roland; Dabei ist Peter der von den drei Brüdern am meisten misshandelte38. Das Buch ist sehr schlecht ins Französische übersetzt; es gelang nicht, seinen Witz, mit dem es gewürzt ist,  wiederzugeben. Dieser Witz bezieht sich oft auf Zwistigkeiten zwischen der anglikanischen Kirche und den Presbyterianern, auf Bräuche, auf Vorfälle, die in Frankreich unbekannt sind, und auf Wortspiele, die der englischen Sprache eigen sind. Zum Beispiel bedeutet das Wort, das auf Französisch eine päpstliche Bulle bedeutet, auf Englisch auch einen Bullen. Es ist eine Quelle der Zweideutigkeit und der Witze, die einem französischen Leser zwangsläufig entgehen.

Swift war weit weniger gelehrt als Rabelais; aber sein Geist ist feiner und geschmeidiger, er ist der Rabelais der guten Gesellschaft. Die Lords Oxford und Bolingbroke gaben demjenigen, der die christliche Religion verspottet hatte, die nach dem Erzbistum Dublin beste Pfründe von Irland, während Abbadie, der ein Buch zu Gunsten dieser Religion geschrieben hatte und sie mit Lob überhäufte, nur eine unglückliche kleine Dorfpfründe bekam; aber es ist zu beachten, dass beide geisteskrank gestorben sind39.

VI. Brief: Über die Deutschen

Mein Herr,
Auch in Ihrem Deutschland sind viele große Herren und Philosophen der Irreligiosität bezichtigt worden. Euer berühmter Cornelius Agrippa wurde im sechzehnten Jahrhundert nicht nur als Hexenmeister, sondern auch als Ungläubiger angesehen40. Das ist widersprüchlich: denn ein Hexenmeister glaubt an Gott, weil er es wagt, den Namen Gottes in alle seine Beschwörungen einzubauen; ein Hexenmeister glaubt an den Teufel, da er sich dem Teufel hingibt. Mit diesen beiden Verleumdungen belastet wie Apuleius41[41], hatte Agrippa das große Glück, nur ins Gefängnis zu kommen und an keinem anderen Ort als im Krankenhaus zu sterben. Er war es, der als erster sagte, dass die verbotene Frucht, von der Adam und Eva gegessen hatten, der Genuss der Liebe war, der sie sich, noch bevor sie den Hochzeitssegen von Gott empfangen hatten, hingegeben hatten42. Er war es auch, der, nachdem er die Wissenschaften gepflegt hatte, der erste war, der gegen sie schrieb. Er schimpfte über die Milch, die ihn ernährt hatte, weil er sie sehr schlecht verdaut hatte. Er starb 1535 im Krankenhaus von Grenoble.

Euren berühmten Doktor Faustus43kenne ich nur als Held in der Komödie, die man in allen Provinzen bei euch im Reich aufführt. Euer Dr. Faustus ist darin laufend in Kontakt mit dem Teufel. Er schreibt ihm Briefe, die er mittels eines Fadens durch die Luft versendet: er erhält von ihm Antworten. In jedem Akt sind Wunder zu sehen, und am Ende des Stücks wird Faustus vom Teufel geholt. Man sagt, er sei in Schwaben geboren und habe unter Maximilian I.44 gelebt. Ich glaube nicht, dass er mit Maximilian mehr Glück gehabt hat als mit seinem anderen Herrn, dem Teufel.

Auch der berühmte Erasmus wurde von den Katholiken und von den Protestanten der Irreligiosität verdächtigt, weil er sich angesichts der Übertreibungen, in die alle beide verfielen, über sie lustig machte. Wenn zwei Parteien unrecht haben, wird, wer neutral bleibt und daher Recht hat, von beiden beleidigt. Die Statue, die ihm auf dem Platz seiner Heimatstadt Rotterdam errichtet wurde, hat ihn an Luther und an der Inquisition gerächt.45

Melanchthon, Schwarze Erde46, war ungefähr wie Erasmus. Es heißt, er habe seine Ansichten über die Erbsünde und die Prädestination vierzehnmal geändert. Wie man sagt, wurde er der Proteus Deutschlands genannt. Er wäre gerne Neptun gewesen, der die verheerenden Stürme zurückhält47.

Jam coelum terramque meo sine numine, venti,
Miscere, et tantas audetis tollere moles!
(Virg., Aeneis., I, 137.48

Er war gemäßigt und tolerant. Er galt als gleichgültig. Obwohl er Protestant geworden war, riet er seiner Mutter, katholisch zu bleiben. Daher urteilte man, dass er weder das eine noch das andere gewesen sei.

Ich lasse, wenn Sie mir erlauben, die Menge der Sektierer aus, denen man vorwirft, sie schlössen sich Gruppierungen nicht deshalb an, weil sie Meinungen anhängen, sondern weil sie an Ehrgeiz oder Habgier statt an Luther und den Papst glauben. Ich will nicht von den Philosophen sprechen, denen man vorwirft, als einziges Evangelium die Natur gehabt zu haben49.

Ich komme zu Ihrem berühmten Leibniz. Fontenelle, der ihn in Paris vor der versammelten Akademie lobte50, äußert sich über seine Religion folgendermaßen: „Man wirft ihm vor, nur ein großer und starrer Anhänger des Naturrechts gewesen zu sein: seine Pastoren haben ihm dafür öffentliche und überflüssige Verweise erteilt.“

Sie werden bald sehen, Monsieur, dass Fontenelle, der so sprach, nicht minder schweren Anschuldigungen ausgesetzt war.51

Wolff, Schüler von Leibniz, war einer größeren Gefahr ausgesetzt52: Er lehrte Mathematik an der Universität Halle mit erstaunlichem Erfolg. Der Theologieprofessor Lange, der in der Einsamkeit seines Hörsaals vor  Kälte erstarrte, während Wolff fünfhundert Hörer hatte, rächte sich, indem er Wolff als Atheisten denunzierte. Der verstorbene König von Preußen, Friedrich Wilhelm, der seine Truppen besser verstand als die Streitigkeiten der Gelehrten, glaubte Lange zu leicht: er stellte Wolff vor die Wahl, entweder sein Herrschaftsgebiet in vierundzwanzig Stunden zu verlassen oder gehängt zu werden. Der Philosoph löste das Problem auf der Stelle, indem er sich nach Marburg zurückzog, wohin ihm seine Schüler folgten und wo sein Ruhm und sein Vermögen wuchsen. Die Stadt Halle verlor damals jährlich mehr als vierhunderttausend Goldtaler, die Wolff durch den Zustrom seiner Schüler eingebracht hatte. Die Einkünfte des Königs litten, und das Unrecht, das dem Philosophen angetan wurde, fiel so auf den Monarchen selbst zurück. Ihr wisst, Monsieur, mit welcher Billigkeit und Großmut der Nachfolger dieses Fürsten den Irrtum wieder gutmachte, in den man seinen Vater hineingezogen hatte53.

In dem Artikel Wolff heißt es in einem Wörterbuch, dass Karl Friedrich, der gekrönte Philosoph und Freund Wolffs, ihn zum Vizekanzler der Universität des Kurfürsten von Bayern und zum Reichsfreiherrn erhoben habe. Der König, von dem der Artikel spricht, ist in der Tat ein Philosoph, ein Gelehrter, ein sehr großes Genie und ein sehr großer Heerführer auf dem Thron; aber er heißt weder Karl, noch gibt es in seinem Herrschaftsgebiet eine Universität, die dem Kurfürsten von Bayern gehört und die Reichsfreiherrn ernennt nur der Kaiser allein. Diese kleinen Fehler, die in allen Wörterbüchern allzu häufig vorkommen, lassen sich leicht korrigieren54.

Seit dieser Zeit hat die Gedankenfreiheit in ganz Norddeutschland erstaunliche Fortschritte gemacht. Diese Freiheit ist so weit vorangetrieben worden, dass im Jahre 1766 ein Abriss der Kirchengeschichte von Fleury mit einem beredten Vorwort gedruckt werden konnte, das mit folgenden Worten beginnt:

„Die Errichtung der christlichen Religion hatte, wie alle Reiche, schwache Anfänge. Ein Jude aus der Hefe des Volkes von zweifelhafter Geburt, der die Absurditäten alter Prophezeiungen mit moralischen Anweisungen vermischt, dem Wunder zugeschrieben werden, ist der Held dieser Sekte. Zwölf Fanatiker verbreiten sie vom Osten bis nach Italien“ usw.55

Es ist betrüblich, dass der Verfasser dieses übrigens tiefgründigen und erhabenen Stückes sich von einer Kühnheit hat mitreißen lassen, die für unsere heilige Religion so verhängnisvoll ist. Nichts könnte verderblicher sein. Diese erstaunliche Druckerlaubnis hat jedoch kaum Lärm verursacht. Es bleibt zu hoffen, dass das Buch keine große Verbreitung findet. Man hat davon, nehme ich an, nur eine kleine Anzahl von Exemplaren gedruckt.

Die Rede des Kaisers Julian gegen das Christentum, die der Marquis d’Argens, Kammerherr des Königs von Preußen, in Berlin übersetzt und dem Prinzen Ferdinand von Braunschweig gewidmet hat56, wäre ein nicht minder verhängnisvoller Schlag für unsere Religion gewesen, wenn der Verfasser sich nicht bemüht hätte, die aufgestörten Geister durch gelehrte Anmerkungen zu beschwichtigen. Dem Werke ist eine weise und lehrreiche Vorrede vorangestellt, in der er (das muss man zugestehen) den großen Eigenschaften und Tugenden Julians ebenso Gerechtigkeit widerfahren lässt, wie er die verhängnisvollen Irrtümer jenes Kaisers benennt. Ich glaube, Monsieur, dass Ihnen dieses Buch nicht unbekannt ist, und dass Ihr Christentum dadurch nicht erschüttert worden ist.

VII. Brief: Über die Franzosen

Sie haben, glaube ich, sehr wohl erraten, Mylord, dass es in Frankreich mehr Menschen gibt, die der Gottlosigkeit beschuldigt werden, als wahrhaft Gottlose; so wie es viel mehr Verdachtsfälle von Vergiftungen als Giftmischer gegeben hat. Die Unruhe, die Lebhaftigkeit, die Schwatzlust, das Ungestüm der Franzosen ließen sie immer mehr Verbrechen vermuten, als begangen wurden. Das ist der Grund, warum bei Mézerai selten ein Adliger stirbt, ohne vergiftet worden zu sein57.

Der Jesuit Garasse und der Jesuit Hardouin58 vermuten überall Atheisten. Viele Mönche oder Menschen, die schlimmer als Mönche sind, sind aus Furcht vor der  Schmälerung ihrer Glaubwürdigkeit Wächter gewesen, die immerzu riefen: „Wer da? Der Feind steht vor den Toren“. Dank sei Gott, dass wir viel weniger Menschen haben, die Gott leugnen, als gesagt wird.

Von Bonaventure Des-Periers

Eines der frühesten Beispiele für eine Verfolgung durch Verbreitung von Angst und Schrecken in Frankreich war der merkwürdige Aufruhr, der fortwährend um das Cymbalum mundi gemacht wurde, ein kleines Büchlein von höchstens fünfzig Seiten59. Der Verfasser, Bonaventure Des-Periers60, lebte zu Beginn des 16. Jahrhunderts. Dieser Des-Periers war Diener von Marguerite de Valois, der Schwester von Franz I. Damals erlebte die Literatur eine Renaissance. Des-Periers wollte einige lateinische Dialoge im Stil Lukians schreiben: er verfasste vier sehr fade Dialoge61 über Prophezeiungen, über den Stein der Weisen, über ein sprechendes Pferd und über die Hunde des Aktäon. Gewiss kommt in diesem ganzen Durcheinander eines Schuljungen nicht ein einziges Wort vor, das zu den Dingen, die wir verehren sollten, auch nur die geringste oder entfernteste Beziehung hat.

Einige Ärzte ließen sich davon überzeugen, dass mit den Hunden und Pferden sie gemeint seien. Was die Pferde anbelangt, so waren sie an diese Ehre nicht gewöhnt. Die Ärzte bellten; das Werk wurde sofort nachgefragt, in die Vulgärsprache übersetzt und gedruckt; und jeder Müßiggänger fand Anspielungen darin; und die Ärzte schrien „Ketzer, Gottloser, Atheist“. Das Büchlein wurde dem Richter vorgelegt, der Buchhändler Morin ins Gefängnis geworfen, und den Verfasser versetzte man in große Angst.

Die ungerechtfertigte Verfolgung erschütterte Bonaventuras geistige Verfassung so stark, dass er sich in Margaretes Palast mit dem Schwert tötete. Alle Zungen der Prediger, alle Federn der Theologen haben sich an diesem verhängnisvollen Tod abgearbeitet. Er hat sich selbst umgebracht: darum war er schuldig; darum glaubte er nicht an Gott; folglich war sein kleines Buch, das zu lesen niemand die Geduld hatte, der Katechismus der Atheisten. Jedermann hat es gesagt, jeder hat es geglaubt: Credidi propter quod locutus sum, „Ich glaubte, weil ich sprach“62, ist das Motto der Menschen. Man wiederholt etwas Törichtes, und kraft der Wiederholung ist man davon überzeugt.

Das Buch wurde zu einer extremen Seltenheit: ein neuer Grund, es für infernalisch zu halten. Alle Verfasser literarischer Anekdoten und Wörterbücher haben es nicht versäumt, zu behaupten, dass das Cymbalum mundi ein Vorläufer Spinozas sei.

Wir haben auch ein Werk eines Ratsherrn von Bourges, namens Catherinot, das des Wappens von Bourges sehr würdig ist63. Dieser große Richter sagte: „Wir haben zwei gottlose Bücher, die ich noch nie gesehen habe: das eine, De tribus Impostoribus; das andere ist das Cymbalum mundi. Aha! Mein Freund, wenn du sie nicht gesehen hast, warum sprichst du dann über sie?

Der Minime Mersenne, jener Briefträger von Descartes, derselbe, der Vanini zwölf Apostel andichtet, sagt über Bonaventura Des-Periers: „Er ist ein Ungeheuer und ein Schuft von vollendeter Gottlosigkeit.64“ Sie werden feststellen, dass auch er das Buch nicht gelesen hat. Nur zwei Exemplare waren in Europa vorhanden, als Prosper Marchand es 1711 in Amsterdam nachdruckte. Da wurde der Schleier gelüftet: Man verschrie es nicht mehr der Gotteslästerung, des Atheismus; man verschrie es als langweilig und sprach nicht mehr darüber.

Von Theophile

So war es auch mit Theophile, der zu seiner Zeit sehr berühmt war65: er war ein junger Mann aus  guter Gesellschaft, dem es leicht fiel, mittelmäßige Verse zu schreiben, die aber einen guten Ruf hatten; sehr gebildet in Belletristik, rein lateinisch schreibend; ein Mann der Tafel wie des Kabinetts, willkommen bei den jungen Herren, die sich mit Geist schmückten, und vor allem bei dem berühmten und unglücklichen Herzog von Montmorency, der, nachdem er Schlachten gewonnen hatte, auf dem Schafott starb66.

Als er sich eines Tages mit zwei Jesuiten traf und das Gespräch auf einige Punkte der unglücklichen Philosophie seiner Zeit kam, wurde der Streit erbittert. An die Stelle von Begründungen setzten die Jesuiten Beleidigungen. Theophile war ein Dichter und ein Gascogner, genus irritabile vatum et Vasconum67.  Er verfasste ein kleines Gedicht, in dem er die Jesuiten nicht allzu gut behandelt. Hier sind drei Verse, die in ganz Frankreich umliefen:

Diese Maschine, groß und schwarz,
Mit ihrem geschmeidigen, riesigen Körper
Streckt ihre Tentakeln aus bis nach China.

Theophile selbst erinnert an sie in einem Brief in Versen, den er aus seinem Gefängnis an König Ludwig XIII. richtete. Alle Jesuiten wüteten gegen ihn. Die beiden wütendsten, Garasse und Guérin68, entehrten die Kanzel und verstießen gegen das Gesetz, indem sie ihn in ihren Predigten namentlich nannten, ihn als Atheisten und abscheulichen Menschen bezeichneten und alle ihre Frömmler gegen ihn aufhetzten.

Ein gefährlicherer Jesuit, namens Voisin, der weder schrieb noch predigte, aber bei dem Kardinal de la Rochefoucauld großes Ansehen genoss, erhob eine Strafanklage gegen Théophile und hetzte einen jungen, ausschweifenden Mann namens Sajeot gegen ihn auf, der sein Schüler gewesen war und angeblich seinen schändlichen Vergnügungen gedient hatte, was er dem Angeklagten bei der Gegenüberstellung vorwarf. Endlich erwirkte der Jesuit Voisin durch die Gunst des Jesuiten Caussin, des Beichtvaters des Königs, einen Verhaftungsbefehl gegen Theophile wegen Gottlosigkeit und Atheismus. Der Unglückliche floh, man machte ihm in Abwesenheit den Prozess und verbrannte ihn 1621 in effigie. Weit gefehlt zu  glauben, der Zorn der Jesuiten wäre damit erloschen gewesen. Voisin bezahlte einen Konnetablen-Leutnant namens Le Blanc, um ihn an seinem Rückzugsort in der Picardie zu verhaften. Unter dem Jubel des Pöbels, dem Le Blanc zurief: „Das ist ein Atheist, den wir verbrennen werden“, wurde er in Eisen gelegt und in einen Käfig gesperrt. Von dort wurde er nach Paris in die Conciergerie gebracht, wo er in den gleichen Kerker wie Ravaillac69 gesteckt wurde. Er blieb dort ein ganzes Jahr, während die Jesuiten seinen Prozess verzögerten, um Beweise gegen ihn zusammenzutragen.

Während er in Eisen lag, veröffentlichte Garasse seine Doctrine curieuse70, in der er sagt, dass Pasquier, Kardinal Wolsey, Scaliger, Luther, Calvin, Beza, der König von England, der Landgraf von Hessen und Theophile gotteslästerliche Atheisten und Karpokratiker sind71. Garasse schrieb das zu seiner Zeit, wie es der elende Ex-Jesuit Nonotte zu seiner Zeit geschrieben hat: Der Unterschied besteht darin, dass die Unverschämtheit von Garasse auf dem Ansehen beruhte, das die Jesuiten damals hatten, wohingegen die Wut des lächerlichen Nonotte die Frucht des Entsetzens und der Verachtung ist, in welche die Jesuiten in Europa verfallen sind; es ist die Schlange, die noch immer beißen will, auch wenn man sie in Stücke geschnitten hat72. Theophile wurde besonders über den Parnass satyrique befragt, eine Sammlung von Unsittlichkeiten im Stile von Petronius, Martial, Catull, Ausonius, dem Erzbischof von Benevent, La Casa, dem Bischof von Angoulême, Octavian de Saint-Gelais und Melin de Saint-Gelais, seinem Sohn, dem Aretin, Chorier, Marot, Verville, den Epigrammen Rousseaus und hundert anderen zügellosen Torheiten73. Dieses Werk stammt nicht von Theophile. Der Buchhändler hatte alles, was er konnte, von Maynard, Colletet, Frénicle, einem Magistrat, später von der Akademie der Wissenschaften und von einigen Herren des Hofes gesammelt. Es wurde nachgewiesen, dass Theophile an dieser Ausgabe, gegen die er selbst eine Beschwerde eingereicht hatte, keinen Anteil hatte. Kurz, die Jesuiten, so mächtig sie damals auch waren, konnten sich nicht damit trösten, ihn verbrennen zu lassen, und sie hatten sogar große Mühe, seine Verbannung aus Paris zu erreichen. Trotz ihrer Gegnerschaft kehrte er unter dem Schutz des Herzogs von Montmorency zurück, der ihn in seinem Palast unterbrachte. Dort starb er 1626 an dem Kummer, dem er schließlich durch eine so grausame Verfolgung erlag.

Von Des Barreaux

Der Parlamentsrat Des Barreaux74, der in seiner Jugend mit Theophile befreundet war und ihn nicht im Stich ließ, als er in Ungnade fiel, galt beständig als Atheist. Und zwar aus welchem Grund? Wegen einer Geschichte, das Abenteuer mit dem Speck-Omelett, die man über ihn erzählt. Ein junger Mann mit freizügigen Neigungen kann sehr wohl an einem Samstag in einer Kneipe etwas Fettiges essen und während es gewittert und donnert, eine Schüssel aus dem Fenster werfen und sagen: „Oha, so ein Getöse – und alles nur wegen einem Speck-Omelett!“, ohne deswegen den abscheulichen Vorwurf des Atheismus zu verdienen. Es handelt sich zweifellos um eine sehr große Respektlosigkeit, um eine Beleidigung der Kirche, in die er hineingeboren wurde; es ist ein Spott über die Institution der mageren Tage; aber es bedeutet nicht, die Existenz Gottes zu leugnen.

Was ihm diesen Ruf eintrug, war hauptsächlich die indiskrete Kühnheit Boileaus75, der in seiner Satire des femmes, die nicht seine beste ist, sagt, er habe mehr als einen Capaneus76 gesehen:

Du tonnerre dans l’air bravant les vains carreaux,
Et nous parlant de Dieu du ton de Des Barreaux.
[etwa: Vom Donner in der Luft, dem eitle Fensterscheiben trotzen,
Und spricht zu uns von Gott im Ton Des Barreaux].

Dieser Richter77 schrieb nie etwas gegen Gott. Es ist nicht statthaft, einen verdienstvollen Mann, gegen den es keine Beweise gibt, mit dem Namen eines Atheisten zu belegen: das ist unwürdig. Man hat Des Barreaux jenes berühmte Sonett untergeschoben, das wie folgt endet:


Tonne, frappe, il est temps; rends-moi guerre pour guerre.
J’adore en périssant la raison qui t’aigrit;
Mais dessus quel endroit tombera ton tonnerre,
Qui ne soit tout couvert du sang de Jésus-Christ?
[etwa : Donner, schlag, es ist Zeit; gib mir Krieg für Krieg.
Ich bete die Vernunft an, während ich zugrunde gehe, sie, die dich verbittert,
Aber auf welche Stelle wird dein Donner fallen,
Die nicht ganz von Jesu Christi Blut bedeckt wäre?]78

Es war derselbe Abt von Lavau, der dieses abscheuliche Epigramm auf das Mausoleum schrieb, das in Saint-Eustache zu Ehren Lullis errichtet worden war: Das Sonett ist nichts wert. Jesus Christus in Versen ist nicht tolerierbar; „rends-moi guerre“ ist nicht französisch; „guerre pour guerre“ ist sehr flach, und „dessus quel endroit“ ist verabscheuungswürdig. Diese Verse stammen von Abbé de Lavau79, und Des Barreaux war immer sehr ärgerlich, dass sie ihm zugeschrieben wurden.

Von La Mothe Le Vayer

Der weise La Mothe Le Vayer80, Staatsrat, Erzieher von Monsieur, des Bruders von Ludwigs XIV., und fast ein Jahr lang Hauslehrer von Ludwigs XIV. selbst, hat nicht weniger Verdächtigungen auf sich gezogen, als der wollüstige Des Barreaux. In Frankreich gab es noch wenig Philosophie. Die Abhandlung Über die Tugend der Heiden (De la vertu des païens81) und die Dialogues d’Oracius Tubero82 machten ihm Feinde. Besonders die Jansenisten, die wie der heilige Augustinus die Tugenden der großen Männer des Altertums nur für grandiose Sünden hielten, wüteten gegen ihn.
Der Gipfel der fanatischen Unverschämtheit besteht darin, zu sagen: „Niemand ist tugenhaft außer uns und unseren Freunden; Sokrates, Konfuzius, Marc Aurel, Epiktet waren Schurken, weil sie nicht unserer Religion angehörten“.
Von dieser Extravaganz sind wir heute abgekommen, aber damals war sie noch vorherrschend. In einem kuriosen Buch wird erzählt, dass eines Tages einer dieser Verrückten, als er La Mothe Le Vayer durch die Galerie des Louvre gehen sah, laut sagte: „Das dort ist ein Mann ohne Religion.“ Anstatt ihn bestrafen zu lassen, drehte sich Le Vayer zu dem Mann um und sagte: „Mein Freund, ich habe so viel Religion, dass ich nicht der deinen angehöre“.

Von Saint-Évremond

Einige Werke gegen das Christentum sind unter dem Namen Saint-Évremond83 erschienen, aber keines stammt von ihm. Nach seinem Tode glaubte man, diese gefährlichen Bücher schützen zu können, indem man sie mit seinem guten Namen verband, auch weil sich in der Tat in seinen wirklichen Werken mehrere Züge finden, die von einem von den Vorurteilen der Kindheit befreiten Geist zeugen. Andererseits dienen sein epikureisches Leben und sein philosophischer Tod all jenen als Vorwand, die seinen Namen gebrauchen, um ihren eigenen Ansichten Gewicht zu verleihen.

Wir besitzen vor allem eine Analyse der christlichen Religion84, die ihm zugeschrieben wird. Es ist ein Werk, das es darauf anlegt, die gesamte Chronologie und fast alle Fakten der Heiligen Schrift umzuwerfen. Niemand ist tiefer als der Autor der Ansicht mancher Theologen auf den Grund gegangen, dass der Astronom Phlegon von einer Finsternis gesprochen habe85, die beim Tode unseres Herrn Jesus Christus die ganze Erde bedeckt habe. Ich gebe zu, der Verfasser ist völlig im Recht gegen diejenigen, die sich auf das Zeugnis dieses Astronomen stützen wollen; aber er hat großes Unrecht, wenn er das ganze christliche System bekämpfen will, nur weil man es schlecht vertreten hat.

Im Übrigen war Saint-Évremond zu derart gelehrten Untersuchungen gar nicht in der Lage. Er war ein angenehmer und rechtschaffener Geist; aber er besaß wenig Wissen, kein Genie, und keinen sicheren Geschmack: seine Abhandlungen über die Römer86 verschafften ihm einen Ruf, den er missbrauchte, um die flachsten Komödien und die schlechtesten Verse zu schreiben, mit denen man jemals Leser ermüdet hat; heute ermüden sie nicht mehr, weil sie sie nicht mehr gelesen werden. Man kann ihn in die Reihe der liebenswürdigen und geistreichen Menschen stellen, die in der glänzenden Zeit Ludwigs XIV. erblüht sind, aber nicht in die Reihe der herausragenden. Im Übrigen sind diejenigen, die ihn als Atheisten bezeichneten, schändliche Verleumder.

Von Fontenelle

Bernard de Fontenelle87, der spätere Sekretär der Akademie der Wissenschaften, hatte eine kräftigere Erschütterung auszuhalten. Im Jahre 1686 ließ er in Bayles République des lettres einen sehr einfallsreichen Reisebericht von der Insel Borneo erscheinen: Es war eine Allegorie auf Rom und Genf mit zwei Schwestern, die Mero und Enègue hießen. Mero war eine tyrannische Zauberin; die verlangte, dass ihre Untertanen zu ihr kommen, ihre geheimsten Gedanken mitteilen und anschließend ihr ganzes Geld bei ihr abliefern sollten. Man musste Totengebeine anbeten, bevor man ihre Füße küssen durfte, und oft, wenn man zu Mittag essen wollte, ließ sie das Brot verschwinden. Endlich brachten ihre Zauberkünste und Wutausbrüche eine Menge Leute gegen sie auf, und ihre Schwester Enègue entriss ihr die Hälfte des Reiches.

Bayle hörte zunächst nichts von dem Streich, aber als der Abbé Terrasson ihn kommentierte, erregte das viel Aufsehen. Es war die Zeit, in der das Edikts von Nantes widerrufen wurde. Fontenelle lief Gefahr, in die Bastille geworfen zu werden. Er hatte die Schwäche, zu Gunsten dieses Widerrufs und für die Jesuiten eine Reihe ziemlich schlechter Verse zu schreiben. Sie wurden in eine üble Sammlung mit dem Titel Le Triomphe de la religion sous Louis le Grand aufgenommen, die 1687 bei Langlois in Paris gedruckt wurde.

Seitdem er aber mit großem Erfolg Van Dales Gelehrte Geschichte der Orakel88 auf Französisch herausgegeben hatte, verfolgten ihn die Jesuiten. Le Tellier, der Beichtvater Ludwigs XIV., brachte die Allegorie Mero und Enègue in Erinnerung und hätte ihn gern so behandelt, wie der Jesuit Voisin es mit Théophile gemacht hatte. Er verlangte einen Haftbefehl gegen ihn. Der berühmte garde des sceaux d’Argenson89, damals Polizeileutnant, rettete Fontenelle vor dem Zorn Le Telliers. Hätte man zu wählen gehabt, ob Fontenelle oder Le Tellier ein Atheist sei, so hätte der Verdacht auf den Verleumder Le Tellier fallen müssen.

Diese Anekdote wiegt schwerer als all die literarischen Bagatellen, die Abbé Trublet in einem dicken Band über Fontenelle zusammengestellt hat 90. Sie verdeutlicht, wie gefährlich die Philosophie ist, wenn ein Fanatiker oder ein Schurke oder ein Mönch, der beides zugleich ist, unglücklicherweise das Ohr eines Prinzen hat. Das ist eine Gefahr, mein Herr, der man bei Ihnen nie ausgesetzt sein wird.

Über den Abbé De Saint-Pierre

Die Mohammed-Allegorie des Abbé de Saint-Pierre91 war viel spektakulärer als die von Mero. Alle Werke dieses Abbés, von denen viele als Träumereien gelten, sind das Werk eines ehrbaren Mannes und eines engagierten Bürgers; aber alles darin ist reinster Deismus. Er wurde jedoch nicht verfolgt, denn er schrieb so, dass niemand neidisch werden konnte. Sein Stil ist nicht ansprechend; er wurde wenig gelesen. Er machte niemandem etwas vor; die ihn lasen, lachten ihn aus und schimpften ihn einen Biedermann. er wäre verloren gewesen, wenn er wie Fontenelle geschrieben hätte, besonders, als die Jesuiten noch herrschten.

Über Bayle

Doch damals stand für mehrere Jahre der unsterbliche Bayle92 auf, der erste der Dialektiker und der skeptischen Philosophen. Er hatte bereits seine Gedanken über den Kometen93, seine Antworten auf die Fragen eines Provinzialen und schließlich sein Dictionnaire de raisonnement vorgelegt94. Seine größten Feinde müssen zugeben, dass es in seinen Werken keine einzige Zeile gibt, die eine offensichtliche Blasphemie gegen die christliche Religion darstellt; aber sogar seine größten Fürsprecher geben zu, dass es in den streitbaren Artikeln zu Glaubensfragen keine einzige Seite gibt, die den Leser nicht zum Zweifel und oft zum Unglauben hinführt. Man konnte ihn nicht der Gottlosigkeit überführen, aber er machte Gottlose, indem er die Einwände gegen unsere Dogmen in ein so helles Licht stellte, dass es einem mittelmäßigen Glauben nicht möglich war, davon nicht erschüttert zu werden; und leider hat der größte Teil der Leser nur einen sehr mittelmäßigen Glauben.
In einem jener historischen Wörterbücher, in denen die Wahrheit so oft mit der Lüge vermischt ist, wird erzählt, dass der Kardinal de Polignac Bayle auf der Durchreise in Rotterdam fragte, ob er Anglikaner, Lutheraner oder Calvinist sei, und dieser darauf geantwortet habe: „Ich bin Protestant, weil  ich gegen alle Religionen protestiere.“
Erstens kam der Kardinal de Polignac nie durch Rotterdam, außer als er 1713 nach Bayles Tod den Frieden von Utrecht95 schloss. Zweitens war diesem gelehrten Prälaten nicht unbekannt, dass Bayle, in Foix als Calvinist geboren, nie in England oder Deutschland gewesen und weder Anglikaner noch Lutheraner war. Drittens war er zu höflich, um einen Mann zu fragen, welcher Religion er angehöre. Es ist wahr, dass Bayle zuweilen das gesagt hat, was man ihm als Ausspruch zuschreibt; er fügte hinzu, er sei wie Jupiter, der bei Homer die Wolken zusammenschiebt96. Er war außerdem ein Mann von geregelter und einfacher Lebensweise, ein wahrer Philosoph im vollsten Sinne des Wortes. Er starb plötzlich, nachdem er die Worte geschrieben hatte: „Das also ist sie, die Wahrheit“.
Er hatte sie sein ganzes Leben lang gesucht und überall nur Irrtümer gefunden.
Nach ihm ist man noch viel weiter gegangen. Maillet, Boulainvillier, Boulanger, Meslier, der gelehrte Fréret, der Dialektiker Dumarsais, der ungestüme La Méttrie und viele andere griffen die christliche Religion ebenso heftig an wie Porphyrios, Celsus oder Julian97.
Ich habe oft danach gefragt, was so viele moderne Schriftsteller veranlassen konnte, derartigen Hass auf das Christentum zu entfalten. Einige erwiderten, die Schriften der neuen Apologeten unserer Religion hätten sie empört; dass man nicht daran gedacht hätte, sich gegen diese Apologeten zu erheben, wenn sie mit der Mäßigung geschrieben hätten, die ihnen ihre Sache hätte einflößen müssen,; dass aber ihre Galle Galle erzeugte; dass ihr Zorn zu Zorn führte; dass die Verachtung, die sie für die Philosophen hegten, Verachtung hervorrief; so dass endlich zwischen den Verteidigern und den Feinden des Christentums das eingetreten ist, was man in allen Glaubensgemeinschaften gesehen hat: Man schrieb auf beiden Seiten mit Hitzigkeit; man vermischte Beleidigungen mit Argumenten.

Von Mademoiselle Huber

Mademoiselle Huber98 war eine Frau von großem Geist und Schwester des Abbé Huber99, der Ihrem Vater, Monsieur100, wohlbekannt war. Sie tat sich mit einem großen Metaphysiker zusammen, um 1740 das Buch Religion essentielle à l’homme zu schreiben. Man muss zugeben, dass diese Wesentliche Religion leider der reine Deismus ist, wie ihn die Noachiden101 praktizierten, bevor Gott sich herabgelassen hatte, sich in den Wüsten Sinai und Horeb ein geliebtes Volk zu schaffen und ihm besondere Gesetze zu geben. Nach Mademoiselle Huber und ihrem Freund muss die dem Menschen wesentliche Religion zeitlos sein, für alle Orte und Köpfe gelten. Alles, was ein Mysterium ist, übersteigt den Menschen und ist nicht für ihn bestimmt; das tugendhafte Handeln darf nicht mit religiösen Lehrsätzen verknüpft werden. Die für den Menschen wesentliche Religion liegt in dem, was man tun soll, und nicht in dem, was man nicht verstehen kann. Intoleranz ist für die wesentliche Religion das, was die Barbarei für die Menschheit ist, die Grausamkeit für die Sanftmut. Das ist die Kernaussage des gesamten Buches. Die Autorin ist sehr abstrakt: Sie liefert eine Abfolge von Maximen und Theoremen, die manchmal mehr Dunkelheit als Licht verbreiten. Es fällt schwer, diesem Ablauf zu folgen. Dass eine Frau wie ein Landvermesser über ein so interessantes Thema scheibt, ist erstaunlich; vielleicht wollte sie Leser abstoßen, die sie verfolgt hätten, wenn sie sie verstanden und mit Vergnügen gelesen hätten.
Weil sie Protestantin war, wurde das Buch nur von Protestanten gelesen. Ein Prediger namens Desroches102 widersprach ihm, und zwar für einen Prediger sogar recht höflich. Die protestantischen Prediger, Monsieur, müßten gegen die Deisten gemäßigter sein als die katholischen Bischöfe und Kardinäle; denn nehmen wir einen Augenblick an, Gott bewahre, dass der Deismus die Oberhand behielte, dass es nur einen einfachen Gottesdienst unter der Autorität der Gesetze und Obrigkeit gäbe, dass alles auf die Anbetung des höchsten Wesens reduziert sei, die belohnt und rächt;  so würden die protestantischen Pastoren nichts verlieren; sie würden weiterhin beauftragt sein, den öffentlichen Gebeten zum höchsten Wesen vorzustehen, und sie würden immer noch Lehrer der Moral sein; ihre Pensionen würden ihnen erhalten bleiben, oder, wenn sie sie verlieren, wird dieser Verlust sehr gering sein. Ihre Widersacher dagegen haben reiche Prälaturen; sie sind Grafen, Herzöge, Fürsten; sie haben Souveränität; und obwohl so viel Größe und Reichtum vielleicht nicht gut zu Nachfolgern der Apostel passen, werden sie es niemals dulden, dass man sie ihrer beraubt: Selbst die weltlichen Rechte, die sie erworben haben, sind heute so eng mit der Verfassung der katholischen Staaten verbunden, dass man sie ihnen nur durch heftige Erschütterungen nehmen kann..

Nun ist der Deismus eine Religion ohne Leidenschaft, die von sich aus niemals eine Revolution auslösen wird. Er ist falsch, aber er ist friedlich. Alles, was zu befürchten wäre, ist, dass der Deismus, der so allgemein verbreitet ist, unmerklich alle Gemüter dazu bringt, das Joch der Päpste zu verachten, und dass die Obrigkeit ihn bei der ersten Gelegenheit auf die Funktion reduzieren wird, für das Volk zu Gott zu beten. Aber solange er gemäßigt ist, wird er respektiert: Es ist stets nur der Missbrauch der Macht, der die Macht erschüttert. Bedenken wir, Monsieur, dass zwei- oder dreihundert Bände des Deismus niemals die Einkünfte der römisch-katholischen Päpste um einen Ecu geschmälert haben, dass aber zwei oder drei Schriften Luthers und Calvins sie um etwa fünfzig Millionen Einkünfte gebracht haben. Vor zweihundert Jahren hätte ein theologischer Streit Europa erschüttern können; der Deismus hat nie auch nur vier Menschen zusammengebracht. Man kann sogar sagen, dass diese Religion, indem sie die Geister verwirrt, die Gemüter beruhigt und die Streitigkeiten besänftigt, die eine falsch verstandene Wahrheit hervorgerufen hat. Wie dem auch sei, ich beschränke mich darauf, Eurer Hoheit einen getreuen Bericht zu geben. Es liegt an Ihnen, darüber zu urteilen.

Von Barbeyrac

Barbeyrac103 ist der einzige Kommentator, der mehr Ansehen genießt als sein Autor selbst. Er übersetzte und kommentierte Pufendorfs Sammelsurium, aber er bereicherte es mit einem Vorwort104, das allein das Buch in Schwung brachte. In dieser Vorrede geht er auf die Quellen der Moral zurück; und er hat die kühne Offenheit, zu zeigen, dass die Kirchenväter diese reine Moral nicht immer gekannt haben und sie durch seltsame Allegorien verunstalteten. So zum Beispiel, wenn sie sagen, dass der Fetzen roten Tuches, den die Schankwirtin Rahab am Fenster ausbreitet105 offensichtlich das Blut Jesu Christi sei; dass Mose, wenn er im Kampf gegen die Amalekiter seine Arme ausbreitet, das Kreuz meint106, an dem Jesus stirbt; dass die Küsse der Sulamith die Hochzeit Jesu Christi mit seiner Kirche bedeuten107; dass die große Tür der Arche Noah den menschlichen Körper bezeichnet, die kleine Tür den Anus usw. usw.

Barbeyrac konnte es aus moralischen Gründen nicht dulden, dass Augustinus zum Verfolger wurde, nachdem er Toleranz gepredigt hatte108. Er verurteilt aufs schärfste die groben Beleidigungen, die Hieronymus gegen seine Widersacher, insbesondere gegen Rufinus und Vigilantius ausstieß109. Er weist auf die Widersprüche hin, die er in der Moral der Kirchenväter bemerkt; er ist empört darüber, dass sie manchmal Hass auf das Vaterland geschürt haben, wie Tertullian, der den Christen ausdrücklich verbietet, Waffen zur Rettung des Reiches zu tragen110.

Barbeyrac hatte heftige Gegner, die ihm vorwarfen, er wolle die christliche Religion vernichten, indem er diejenigen, die sie durch unermüdliche Arbeit unterstützt hatten, lächerlich machte. Er verteidigte sich; aber er zeigt in seiner Verteidigung eine so tiefe Verachtung für die Kirchenväter; er zeigt so viel Verachtung für ihre falsche Beredsamkeit und Dialektik; er bevorzugt Konfuzius, Sokrates, Zaleukos, Cicero, den Kaiser Antoninus und Epiktet so sehr, dass es offenbar ist, dass Barbeyrac mehr der eifrige Verfechter der ewigen Gerechtigkeit und des Naturgesetzes, das Gott den Menschen gegeben hat, als der Anbeter der heiligen Mysterien des Christentums ist. Wenn er sich geirrt hat, als er glaubte, Gott sei der Vater aller Menschen, wenn er das Unglück hatte, nicht zu sehen, dass Gott nur Christen lieben kann die in Herz und Verstand unterwürfig sind, so ist sein Irrtum wenigstens ein Irrtum einer schönen Seele; und da er die Menschen liebte, ist es nicht Sache der Menschen, ihn zu beleidigen, sondern es ist an Gott, ihn zu richten. Gewiss ist er nicht zu den Atheisten zu zählen.

  1. William, Baron von  North and Grey (1678 – 1734), englischer Adliger, Offizier und Anhänger der Stuarts. ↩︎
  2. David Durand, La Vie et les sentimens de Lucilio Vanini, Rotterdam : Fritsch, 1717, 260 S.
    Durant (1680 -1763) war ein hugenottischer Flüchtling aus dem Umfeld von Pierre Bayle. Er lebte später in England und war dort Pastor der Kirche von England. ↩︎
  3. François Garasse (1585-1631) war ein fanatischer Vertreter der katholischen Gegenreformation. Seine Gegner titulierte er mit allen möglichen Tiernamen, bevorzugt als Ungeziefer. Im Fall des Ketzerprozesses gegen Vanini war er einer der Haupteinpeitscher. Sein Name rangiert in der Galerie der größten Finsterlinge der Geschichte sicher auf einem der oberen Plätze. Seine Kampfschrift La Doctrine curieuse des beaux-espr its (1624) wurde im Jahr 2009 tatsächlich neu aufgelegt – siehe dazu die Rezension in Le Monde vom 20. März 2009 ↩︎
  4. Der exakte Titel ist: Garasse, François, La doctrine curieuse des beaux esprits de ce temps, ou pretendus tels. Contenant plusieurs maximes pernicieuses à la religion, à l’estat, & aux bonnes mœurs, Paris: Chez Sebastien Chappelet, 1624 ↩︎
  5. Voltaire bezieht sich auf das Werk De religione gentilium errorumque apud eos causis (1663), in dem Edward Lord Herbert von Cherbury (1583 – 1648) fünf Grundsätze aufstellt, die in jeder Religion gleich seien: 1. Der Glaube an ein höheres Wesen/2. Die Pflicht, dieses Wesen zu verehren/3. Die Gleichsetzung der Verehrung mit moralischem Handeln/4. Die Forderung, Sünden zu bereuen und zu büßen/5. Der Glaube an göttliche Belohnung und Bestrafung. Voltaire lehnt sich sehr eng an diese Auffassung an. Offenbarungen, auf die sich das Judentum , Christentum und der Islam gründen, kommen dabei allerdings nicht vor. ↩︎
  6. Der Earl of Shaftesbury (1671-1713) war die bedeutendste Stimme der Frühaufklärung. Er lehnte die Offenbarungsbehauptung ebenso ab, wie die angebliche priesterliche Vermittlung zu Gott. Wie Cherbury nahm auch er ein natürliches moralisches Empfinden an, das allen Menschen gleichermaßen zu eigen sei. F.A. Lange, (in seiner Geschichte des Materialismus 1866) sagt über ihn: „Wo Voltaire seine Nahrung fand, ist leicht zu sehen wenn man bedenkt, dass Shaftesbury nicht nur Scheiterhaufen und Hölle, Wunder und Bannfluch, sondern auch Kanzel und Katechismus angriff.“ (S. 326) ↩︎
  7. William Wollastone 1659 – 1724), Anglikanischer Priester, Frühaufklärer. Sein Hauptwerk ist: The Religion of Nature Delineated (1722) [etwa: Die natürliche Religion im Überblick]. Er war ein Deist und vertrat die Auffassung, dass die natürliche Religion im „Streben nach Glück durch die Ausübung von Vernunft und Wahrheit“ bestehe und zwar in vollkommener Übereinstimmung mit der Natur. ↩︎
  8. John Toland (1670-1722), bedeutender irischer Aufklärer, vertrat eine pantheistische Lehre. Sein Hauptwerk ist Christianity not Mysterious (1696) [dt. Christentum ohne Geheimnis, Gießen: Töpelmann1908, 148 S.]. Es wurde 1697 in Dublin verbrannt. Er starb, völlig verarmt, 1722 in Putney. ↩︎
  9. John Toland, Origines Judaicae sive Strabonis de Moyse et religione Judaica historia, Den Haag 1709 ↩︎
  10. John Toland, Nazarenus: or Jewish, Gentile, and Mahometan Christianity, London: 1718 ↩︎
  11. John Toland: Pantheisticon : Sive formula celebrandæ Sodalitatis Socraticæ 1720; engl.: Pantheisticon: or the Form of Celebrating the Socratic-Society, London,1751 [dt.: Das Pantheistikon, Leipzig: Findel, 1897, 170 S.] ↩︎
  12. Allmächtiger und ewiger Bacchus, der Du die Herzen der Menschen mit deinen Gaben belebst, gewähre gnädig, dass diejenigen, die durch die Kelche von gestern erkrankt sind, heute durch Becher um Becher geheilt werden. Amen! ↩︎
  13. John Locke, The Reasonableness of Christianity as Deliver’d in the Scriptures, London, 1695 [dt.: Vernünftigkeit des biblischen Christentums, übers. von C. Winckler, hrsg. von Leopold Zscharnack, Gießen, Töpelmann, 1914, 140 S. ↩︎
  14. Diese ewig existierende und denkende Monade ist die Seele. Siehe: Voltaire, Sur Locke, lettres philosophiques (1733), chap. XIII  ↩︎
  15. Pierre Gassendi (1592-1655), Physiker und Philosoph, verehrte den der Kirche verhassten Epikur (s. sein Werk De vita et moribus Epicuri) an. Er betont, dass anders als es Descartes lehrt, der Mensch sich seiner Existenz nicht nur im Denken bewußt wird, sondern ebenso durch körperliche Handlungen. ↩︎
  16. Der Brief an Descartes: Voltaire bezieht sich auf Gassendis Objectiones. Das Zitat findet sich in dem 4. Einwand. Siehe in englischer Übersetzung mit den Antworten Descartes (pdf) ↩︎
  17. Damaris Cudworth Masham (1658-1708) war eine britische Philosophin und eng mit John Locke befreundet, zuletzt lebten die beiden zusammen. ↩︎
  18. Jeremy Taylor (1613-1667), Anglikanischer Bischof von Connors (Nordirland). Sein Werk Ductor Dubitantum (1660) [D.D. oder allgemeiner Gewissenslehrer, Bremen, 1705] ist eine viele tausend Seiten lange Abhandlung zur Frage, was glaubenskonformes Verhalten im Sinne des Christentums bedeute (z.B. nicht zu lügen, auch wenn es das eigene Leben kostete …). ↩︎
  19. Matthew Tindal (1657 -1733), engl. Jurist, Verfechter der freien Meinungsäußerung. Sein Werk Christianity as Old as the Creation (1739) ist so etwas wie die Bibel des Deismus, in dem er zeigt, dass alles, was am Christentum glaubhaft/bewahrenswert ist, schon lange vor diesem in diversen anderen Glaubensrichtungen existierte. Dem entsprechend lehnte er alle Offenbarungsbehauptungen ab. ↩︎
  20. Whig: Anhänger der Hannoveranischen, protestantischen Thronfolge, die nach dem Tod v. Königin Anne 1714 Georg I. auf den engl. Thron brachte; Jakobit: Anhänger der Thronfolge der katholischen Stuarts, mit Jakob II, der nach der Glorius Revolution im Exil lebte) ↩︎
  21. Alexander Pope, Dunciad (1728) ist ein satirisches Gedicht, in dem Pope mit seinen Gegnern abrechnet. ↩︎
  22. Anthony Collins (1676-1729), Jurist, sein Hauptwerk ist A Discourse Concerning Free-Thinking, 1713 in dem er sich gegen den Materie/Geist bzw. Leib-Seele Dualismus à la Descartes ausspricht. ↩︎
  23. Samuel Clarke (1675-1729), Bischof von Nordwich und Vertrauter Isaac Newtons. Auch er vertrat die Position, dass es eine natürliche Religion gebe. Clarkes Auseinandersetzung mit Collins um die Frage, ob Bewusstsein zu einem materiellen System gehören kann, dokumentiert W. Uzgalis 2020 (engl.).
    Es ist interessant, dass sich Voltaire hier auf die Seite von Collins stellt, der eine materialistische Begründung des Bewußtsein vertritt. ↩︎
  24. Thomas Woolston (1670-1733), mit seiner These, dass die Bibel nur allegorisch und nicht wörtlich zu verstehen sei, kam er in Konflikt mit der angl. Kirche und wurde 1729 wegen Gotteslästerung zu einer Geld- und Gefängnisstrafe verurteilt. Zu Woolston und Voltaire: siehe: Norman L. Torrey, Voltaire and the English Deists (New Haven, CT: Yale University Press, 1930) ↩︎
  25. Auf frz. erschien 1730 von Th. Woolston: Discours sur les Miracles de Jesu Christ –  Engl.: A Discourse On the Miracles of Our Saviour In View of the Present Controversy Between Infidels and Apostates, 1729 ↩︎
  26. Jean-Baptiste Ladvocat (1709-1765), Theologe. Sein Wörterbuch heißt: Dictionnaire historique-portatif (Paris : Didot,1752) und das erwähnte  Nouveau Dictionnaire historique (1766) stammt von Louis Mayeul Chaudon. ↩︎
  27. William Warburton (1698-1779), gab die Werke Shakespeare heraus und schrieb Divine Legation of Moses demonstrated on the Principles of a Religious Deist (5 vol. 1738–41) ↩︎
  28. Henry Saint John Bolingbroke (1678-1753), war eine der zentralen Figuren der englischen Politik, 1710 Außenminister des Landes, bedeutender Kopf der Torys, nach der Thronbesteigung von George I. 1715 des Landes verwiesen. Voltaire besuchte ihn 1722 in La Source bei Orléans. Bolingbrokes Unterstützung und Empfehlung verdankte Voltaire die offene Aufnahme während seines Exils in England (1726 -1728). Die Sammlung seiner philosophischen Werke erschien 1754: The philosophical works of the late Right Honorable Henry St. John, Oxford: Bodleian Library in five volumes. ↩︎
  29. Voltaire erinnert hier an den Humanismus, Agrippa, Melanchton, Erasmus werden im 6. Abschnitt „Über die Deutschen“ erwähnt. ↩︎
  30. Voltaire spricht hier über sein eigenes Werk L’Examen important de Milord Bolingbroke ou le tombeau du fanatisme, écrit sur la fin de 1736 (1766), das er aus Sicherheitsgründen unter dem Namen des verstorbenen Lord Bolingbroke veröffentlichte. Darin kommt er zu dem Schluss: „Ich fasse zusammen, dass jeder empfindsame Mensch, jeglicher Gutgesinnte die Sekte des Christentums mit Abscheu betrachten muss“. ↩︎
  31. Thomas Chubb (1679-1747), britischer Gelehrter und Deist, wandte sich gegen Ansicht, dass Wunder die Göttlichkeit Jesus beweisen. Sein Hauptwerk ist The true Gospel of Jesus Christ (1738).. ↩︎
  32. Während seines Exils in England hatte Voltaire persönlichen Kontakt zu Swift. Zwei kurze Briefe sind überliefert. Voltaire nennt Swift „den Rabelais Englands“. Gullivers Reisen erschien 1726 während Voltaires Aufenthalt in London, er wollte die Travels ins Französische übersetzen lassen. Deutlich wird dessen Einfluss in der Erzählung Micromegas (1752). Dazu: Christopher Tacker, Swift and Voltaire, in Hermathena No. 104, 1967, pp 51-66 (Jstor) ↩︎
  33. Die Strophe ist aus dem Drama Cinna (1643) von Corneille ↩︎
  34. Tale of a tub (1704), eingegangen in Voltaires Pot-Pourri. Der Prediger ist nicht wirklich zwischen den beiden anderen Sprechern, er scheint auf seiner Tonne gegen die beiden zu sprechen – trotzdem auf lächerliche Art. ↩︎
  35. Voltaire bezieht sich auf die dritte Novelle im Decamerone (1325) v. Bocaccio ↩︎
  36. Eine Intrige des Papstes gegen Friedrich II., die Voltaire auch in dem Artikel Atheismus des Philosophischen Taschenwörterbuchs beschreibt. ↩︎
  37. Das Buch De tribus Impostoribus, erstmals verfasst 1562, wurde 1768 von d’Holbach herausgegeben. Voltaire grenzte sich stets scharf gegen dieses Werk ab, das seiner eigenen Positionen sehr nahe kommt. ↩︎
  38. Ihm wird vor allem von Seiten seiner beiden anderen Brüdern übel mitgespielt. ↩︎
  39. Swift starb an Hydrocephalus; Jacques Abbadie (1658 -1727) war ein protestantischer Theologe, durch das Edikt von Nantes nach England vertrieben. Sein Traité de la vérité de la religion chrétienne (1684) und sein Art de se connoître soi-même (1692) wurden in mehrere Sprachen übersetzt. La défense de la Nation Britannique (1693) , gegen Pierre Bayle verfasst, verteidigt die Volkssouveränität gegen den Untertanenstaat. Da Abbadie zur Zeit von Voltaires Aufenthalt in London starb, wird Voltaire von den Todesumständen erfahren haben, über die wir sonst keine Quellen gefunden haben. ↩︎
  40. Agrippa von Nettesheim (1486-1535), bedeutender Humanist aus Köln, der  sich mutig gegen die Hexenprozesse stellte und Reuchlin gegen die inquisitorischen Talmudverbrenner verteidigte. 1530 wurde er in Brüssel inhaftiert und seine Schrift De incertitude…(1527) [dt: Die Eitelkeit und Unsicherheit der Wissenschaften, 1721] verbrannt. Zu Nettesheim und seine Stellung unter den Humanisten: Peter Priskil, Zwölf  Humanisten, Freiburg: Ahriman, 2023 Bd 2, S. 311-379 ↩︎
  41. Apuleius, gr. Philosoph des 2. Jhd., war angeklagt, sich die Gunst der reichen Witwe Prudentia durch Zauberei verschafft zu haben, war aber durch seine Verteidigungsrede freigesprochen worden (-> Apologie des Apuleius ) ↩︎
  42. In: Agrippa, Von Adel und Vorrang des weiblichen Geschlechts ↩︎
  43. Auf welches Theaterstück sich Voltaire bezieht, ist unklar, im Anschluss an Marlowes The Tragical History of Doctor Faustus von 1604 gab es auf vielen Volkstheaterbühnen Faust-Stücke. ↩︎
  44. Dass Faust aus Schwaben stammte (Knittlingen bei Heilbronn) erzählte Johann Manlius 1562 (Locorvm communium collectanea) mit Bezug auf seinen Lehrer Melanchton.
    Maximilian I (1459-1519), Kaiser des Heiligen Römischen Reiches. Im Essay sur les moeurs (CXXII), erwähnt Voltaire dessen Bestreben, selbst Papst zu werden und dass er nicht über genügend Geld verfügte, um sich das Pontifikat zu kaufen. ↩︎
  45. Die Geschichte der Statue wird hier erzählt, jedoch ohne jeden intellektuellen Aufwand. Dass die Statue 1622 aufgestellt wurde, führt man auf den Stolz der Rotterdamer und auf das Bestreben von Hugo Grotius zurück. ↩︎
  46. Philipp Melanchthon (1497-1560), hieß eigentlich Philipp Schwartzerdt. ↩︎
  47. Eigentlich nannte man Melanchthon den Praeceptor (den Lehrer) Deutschlands. Zu den aufständischen Bauern veröffentlichte 1525 er sein Gutachten „Gegen die Artikel der Bauernschaft“. ↩︎
  48. „Ohne mein göttlich Geheiß schon wagt ihr, Winde, Himmel und Erde umzustürzen und solchen Tumult zu erheben?“ Spricht Neptun und glättet die Wogen…. ↩︎
  49. Eigentlich hält man Christian Wolff für einen Vertreter der Theologia naturalis. ↩︎
  50. Fontenelle (1657-1757), französischer Philosoph und Anhänger Descartes. Seine Lobrede auf Leibniz, übersetzt v. Gottsched, erschien als Vorrede zu Leibniz´ Theodizee (1763) ↩︎
  51. Siehe dazu unten „Von Fontenelle↩︎
  52. Christian Wolff (1679-1754), Mathematikprofessor und Prorektor der Universität Halle, zu seiner Biograhie: H. J. Kertscher, Er brachte Licht und Ordnung in die Welt. Christian Wolff – eine Biographie, Halle: mdv, 2018 (s. unsere Rezension) ↩︎
  53. Voltaire hatte bereits im Philosophischen Wörterbuch (Chinesischer Katechismus) auf das Schicksal Wolffs hingewiesen. Siehe dazu unseren Kommentar . ↩︎
  54. Diese Fehler befinden sich in dem Dictionnaire historique-portatif (1752) von Jean-Baptiste Ladvocat ↩︎
  55. Fleury, Claude (1640-1723), Beichtvater von Louis XV – sein Hauptwerk ist eine 20 bändige Kirchengeschichte. Eine Zusammenfassung (Abrégé de l’Histoire ecclésiastique, Bern [Berlin]) erschien 1766 mit einem Vorwort von Friedrich II. das mit dem genannten Zitat beginnt. ↩︎
  56. Marquis d’Argens, Défense du Paganisme par l‘empereur Julien, Berlin: Voss, 1764; ein Text, den Voltaire 1768 selbst unter dem Titel Discours de l’Empereur Julien contre les chrétiens herausgab, allerdings mit geänderten Anmerkungen, die ihm eine klar antichristliche Richtung verleihen. Jean-Baptiste de Boyer, Marquis d’Argens (1703 – 1771), Jurist, Schriftsteller der Aufklärung, war ein enger Vertrauter von Friedrich II. (Zu d’Argens siehe Uni Trier) ↩︎
  57. Mézeray, François-Eudes de (1610-1683), verfasste eine dreibändige Histoire de France ↩︎
  58. Hardouin, Jean (1646-1729), Herausgeber des einflussreichen Journal de Trévoux. In seinem posthum erschienen Pamphlet Athei detecti (1733) greift er insbesondere Descartes und dessen Anhänger an. Zu Garasse s. Anmerkung 3 und 4 ↩︎
  59. https://cymbalum-mundi.com/la-cymbale-du-monde/ ↩︎
  60. des Périers, Bonaventure (1510-1544), Humanist, Schriftsteller im Kreise von Marguerite de Navarre, der Schwester des franz. Königs Franz I. Er übersetzte die Bibel auf Französisch. Zu seinem Leben und seiner Bedeutung siehe Priskil, Peter, Zwölf Humanisten, 2022, S. 444-524. ↩︎
  61. Voltaire veröffentlichte 1770 diese „sehr faden Dialoge“ selbst, enthalten im 3. Band seinern seinen Choses utiles et agréables (Berlin [Genf]: Cramer, 1770 ) in einer von ihm besorgten Ausgabe heraus. ↩︎
  62. Psalm 115, eigentlich: Ich glaubte, also sprach ich ↩︎
  63. Nicolas Catherinot (1628-1688), veröffentlichte eine kleine Broschüre über die „Kunst des Buchdrucks“, in der er den Buchdruck geißelt, weil er zur Kritik an der Kirche, dem Staat und den guten Sitten missbraucht würde. Das Wappen von Bourges enthält 3 Schafe. Zum Werk De tribus Impostoribus s. Anmerkung 37 ↩︎
  64. Mersenne, Marin (1588-1648) , war ein Mönch vom Orden der Minimiten. Er war mit Descartes gemeinsam zur Schule gegangen. Von seinem fanatischen Atheistenhass erfährt man bei Wikipedia kein Wort. In dem Artikel Atheismus des Philosophischen Taschenbuchs heißt es: „Mersenne hat den Wahnsinn so weit getrieben, drucken zu lassen, dass Vanini Neapel mit zwölf seiner Jünger verlassen habe, um alle Völker zum Atheismus zu bekehren.“(S. 49) ↩︎
  65. Theophile de Viau (1590-1626), bedeutender Poet des 16. Jahrhunderts. Seine phantasievolle Lyrik (und seine Homosexualität) machte ihn zum Hassobjekt der klerikalen Verfolger. ↩︎
  66. Henri II. de Montmorency (1595-1632), von Richelieu zum Tode verurteilt. Voltaire erzählt seine Geschichte im 176. Kapitel seines Essai sur les moeurs. ↩︎
  67. Horaz, Episteln 2.Bd., 2.Brief Vers 102, dort geht es um die Ruhmsucht der Schriftsteller, die sie reizbar macht, Theophilius ist demnach „von der überempfindlichen Rasse der Poeten“. ↩︎
  68. Zur Zeit, als diese Verse erschienen (um 1600), war die Jesuitenmission in China sehr erfolgreich, es war ihnen gelungen, Zgang zum Kaiserhof zu erlangen. François Garasse ↩︎
  69. Ravaillac, François (1587-1610) war der katholisch fanatisierte Mörder von Henry IV. Er wurde schrecklich gefoltert und von vier Pferden in Stücke gerissen. ↩︎
  70. In diesem Machwerk hetzt Garasse vornehmlich gegen Théophile de Viau  ↩︎
  71. Karpokrates von Alexandria (2.Jhdt), vertrat eine gnostische Richtung des Christentums, die Garasse fanatisch bekämpfte. ↩︎
  72. Nonotte [eigentlich Nonnotte], Jean-Adrien (1711-1793), Jesuit, verfasste eine weitverbreitete Schrift gegen Voltaire. Der Jesuitenorden war 1763 in Frankreich verboten, jedoch nicht ausgelöscht worden. ↩︎
  73. In dieser Aufzählung versammelt Voltaire satirische Autoren, die meist von der Kirche verfolgt wurden. ↩︎
  74. Des Barreaux [Jacques Vallée, seigneur des Barreaux], 1599-1673, war ein antiklerikaler Poet und Epikuräer. Zu seiner Biographie s. Wikipedia (frz) und die Biographie von Lachèvre. ↩︎
  75. Boileau-Despréaux, Nicolas (1636-1711), Schriftsteller. Seine Satyre X enthält die beiden zitierten Verse, die schwer zu übersetzen sind. Im zweiten wird Boileau als Beispiel eines Atheisten angeführt. S. Boileau, Oeuvres Poetiques . ↩︎
  76. Kapaneus, einer der sieben Helden, die gegen Theben zogen. Er glaubte nicht an Zeus und wurde deshalb vom Blitz erschlagen. ↩︎
  77. Des Barreaux war Richter am Parlament von Paris, verzichtete aber auf diese Funktion, um ein glückliches Leben zu führen. ↩︎
  78. Das Gedicht ist als “Barreaux‘s celebrated Sonnet” in der Sammlung von Pearch, G. (A collection of poems in four volumes. By several hands. Vol. III. [The second edition]. London: printed for G. Pearch, 1770) enthalten. Im Eighteenth-Century Poetry Archive wird es sorgfältig vorgestellt und ins Englische übersetzt. ↩︎
  79. De Lavau, Louis Irland (-1694), Kleriker und Mitglied der Académie française. Er verehrte Corneille und Fontenelle. Von ihm ist nichts schriftliches überliefert. ↩︎
  80. De la Mothe le Vayer, François (1588-1672), Schriftsteller und Philosoph des Skeptizismus (Pyrrhonismus). Sein Skeptizismus bedeutete auch, an der historischen Belegbarkeit der biblischen Erzählungen zu zweifeln. ↩︎
  81. De la vertu des païens, Paris: Targa, 1642, 374 p. La Motte verteidigte darin die Tugenden der sog. Heidnischen Religion. Zur Einordnung des Werkes, speziell vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit dem Jansenismus, siehe (frz) Isabelle Moreau (2104) ↩︎
  82. Das Werk hat den Titel: Quatre dialogues faits à l’imitation des Anciens, par Orasius Tubero, Frankfurt: Jean Sarius, 1506 [1633] ↩︎
  83. Saint-Évremond, eigentlich Le Marquetel, Charles (1614-1703), war Philosoph und Epikuräer, aber auch Soldat. Ab 1661 lebte er im Exil in England, wo er in der Westminster-Abbye begraben liegt. Zeitlebens hat er kein eigenes Werk veröfffentlicht. Erst ab 1960 versuchte René Ternois, seine Schriften zu klassifizieren (s.dazu den Hinweis (frz.) in der Enzyklopädia universalis (Art. Saint-Évremond ) ↩︎
  84. Der Titel lautet: Analyse de la religion und stammt von Chesneau, César, genannt Du Marsais (1676-1756), Autor der Enzyklopädie. Voltaire hielt es  « das zersetzendste Buch, das jemals über diesen Gegenstand geschrieben wurde“ (Brief an Cramer am 30.12.1761, D10239). Es erschein in Frankreich zunächst unter dem Namen Saint Evremonts. ↩︎
  85. Angeblich soll bei der Kreuzigung Jesu eine große Finsternis eingetreten sein. Phlegon († um 137) soll in seinen Olympiades für das 4. Jahr der 202. Olympiade (nach heutiger Zeitrechnung 32/33) davon gesprochen haben. Astronomischen Berechnungen zufolge war am 24. 11. 29, also im 1. Jahr der 202. Olympiade eine Sonnenfinsternis zu sehen, nicht aber im 4. Jahr. Siehe dazu bei Wikipedia: Finsternis bei der Kreuzigung Jesu Finsternis bei der Kreuzigung Jesu – Wikipedia, Voltaire schrieb im Artikel Geschichte des Christentums des Philosophischen Taschenwörterbuchs über die vielfachen Fälschungen rund um das Thema der Göttlichkeit Jesu. ↩︎
  86. Réflexions Sur Les Divers Génies Du Peuple Romain, Paris: Renouard, 1795 . Möglicherweise existierten frühere Ausgaben oder Abschriften zu Lebzeiten Voltaires. ↩︎
  87. De Fontenelle, Bernard le Bovier (1657-1757), französischer Philosoph der Frühaufklärung und Anhänger Descartes. Sein bekanntestes Werk ist: Entretiens sur la pluralité des mondes, Paris: Blageart, 1686, 359 p. [dt.: Dialogen über die Mehrheit der Welten, Berlin: Himburg, 1780, 355 S.) in dem er die astronomischen Lehren von Kopernikus, Galilei, Kepler und Descartes vorstellt, die allesamt der christlichen Annahme von der Erde als Mittelpunkt der Welt widersprechen. Es kam sofort auf die Liste der verbotenen Bücher. Trotzdem wurde Fontenelle 1691 in die Académie française und 1749 in die Preußische Akademie der Wissenschaften aufgenommen. ↩︎
  88. 1683 erschienen von Antonius van Dale, einem holländischen Arzt, zwei Werke über die Orakel. Fontenelle überarbeitete den umständlichen Text, so dass daraus eine lesbare und klar verständliche Anklage gegen den christlichen Wunderglauben wurde (Histoire des oracles, 1687). Gottsched wiederum übersetzte das Werk ins Deutsche: Bernhards von Fontenelle Historie Der Heydnischen Orackel, Leipzig: Breitkopf, 1730, 308 S. ↩︎
  89. D’Argenson, René Louis (1694 – 1757), Politiker und Schriftsteller. D’Argenson war Voltaires Klassenkamerad am Jesuitenkolleg Louis Le Grand. Er wurde später Mitglied im Staatsrat (garde des sceaux) und war der Aufklärung eng verbunden. ↩︎
  90. Trublet, Nicolas-Charles-Joseph (1697–1770), Schriftsteller. Er verfasste die Mémoires pour servir à l’histoire de la vie et des ouvrages de M. de Fontenelle, Amsterdam 1759, 1761. ↩︎
  91. Castel de Saint-Pierre, Charles Irénée (1658- 1743), Philosoph der Aufklärung, insbesondere seine Gedanken über die notwendige Etablierung staatlicher Verfassungen, die ein friedliches Zusammenleben der Völker ermöglichen, waren wegweisend. Sein Hauptwerk ist: Projet pour rendre la paix perpétuelle en Europe (1712) [dt.: Der Traktat vom ewigen Frieden (1713)].  
    Mit der Mohammed-Allegorie meint Voltaire Saint-Pierres Werk Discours contre le Mahométisme (1733), das sich unschwer als gegen das Christentum gerichtet erkennen lässt.
    Saint-Pierre war der Begründer des „club de l’entresol“, über dessen Bedeutung zur Verteidigung der Aufklärung ein eigener Artikel geschrieben werden müsste (siehe dazu: Nick Childs, A Political Academy in Paris, 1724-1731. The Entresol and its members, Oxford, Voltaire Foundation, SVEC, 2000). ↩︎
  92. Bayle, Pierre (1647-1706), als Protestant im katholischen Frankreich geboren, war er der bedeutendste Repräsentant der Frühaufklärung. Er gilt als Vertreter des Skeptizismus, wobei man bedenken sollte, dass Skeptiker zu sein in einer Zeit dogmatischer Denkkontrolle ziemlich das Gegenteil von dem ist, was man heute unter Skeptizismus versteht, das Zweifeln an der Möglichkeit, wahre und gültige Aussagen zu treffen. Noch ganz um konfessionellen Ausgleich bemüht, wurde Pierre Bayle und seine Familie dennoch Opfer der katholischen Verfolger, er musste Frankreich verlassen und lebte ab 1681 im Rotterdamer Exil. Nachdem sein Bruder Jacob im Gefängnis gestorben war – man hatte ihn stellvertretend für Pierre Bayle dort eingesperrt – schrieb er gegen die religiöse Intoleranz und verteidigte auch Atheisten, die nicht automatisch Menschen ohne Moral zu sein bräuchten. Voltaire betrachtete ihn als großes Vorbild, Bayles bedeutendes Historisch kritisches Wörterbuch (1697) stand Pate für Voltaires Dictionnaire Philosophique Portatif (1764). ↩︎
  93. Pensées diverses: écrites à un docteur de Sorbonne, à l’occasion de la comète qui parut au mois de décembre 1680, Rotterdam : Leers 1683, von Gottsched ins Deutsche übertragen : Verschiedene Gedanken über einen Kometen (1741)
    In dieser ersten, anonym erschienenen Veröffentlichung setzt Bayle das wissenschaftliche  gegen das magisch-religiöse Denken, das Zusammenhänge konstruiert, wo keine sind. Die Untersuchung der natürlichen Ursachen der Kometenerscheinung führt ihn zur Forderung religiöser Toleranz, auch als Voraussetzung wissenschaftlicher Arbeit. ↩︎
  94. Reponse aux questions d’un provincial (1704) ist eine erkenntnistheoretische Reflexion über Kriterien für die Wahrheit einer Aussage.
    Mit dem Dictionnaire raisonné meint Voltaire sicherlich das Dictionaire historique et critique, Rotterdam : Leers, 1697. II ed. 1702. [4 vol.], [dt. hrsg. von Gottsched: Historisches und kritisches Wörterbuch, 1.Teil A-B, 2.Teil C-J , 3.Teil K-P , 4. Teil Q-Z Eine Vorstellung von der Bedeutung dieses Werks vermittelt das Abstract zu einer Auswahlausgabe des Dictionnaire im Meinerverlag (2003) ↩︎
  95. Der Frieden von Utrecht (1713) beendete den Spanischen Erbfolgekrieg, der den europäischen Kontinent seit 1701 erschüttert hatte. In diesem Vertragswerk manifestiert sich ein Kräftegleichgewicht auf dem Kontinent, das für die Interessen der kommenden Weltmacht England äußerst günstig war. ↩︎
  96. Zeus teilte sich mit seinen beiden Geschwistern Poseidon und Hades die Welt: Zeus erhielt den Himmel, Poseidon die Meere und Hades die Unterwelt. Daher ist Zeus (bei Voltaire: Jupiter) der Wolkenschieber. Etwa hier im V.Gesang der Odysee: „Ha! wie fürchterlich Zeus den ganzen Himmel in Wolken hüllt…“ ↩︎
  97. Boulanger, Meslier, Fréret und La Mettrie stellt Voltaire weiter unten in eigenen Abschnitten selbst vor.
    Benoît de Maillet (1656-1738), sein Hauptwerk ist Telliamed (1720) , in dem er eine alternative Erklärung zur christlichen Sintflut- und Schöpfungslehre vorlegt und erste tastende Gedanken einer Evolutionstheorie entwickelt.
    Henri de Boulainvillier (1658-1722), war für Voltaire wegen einiger dem Deismus verbundenen Werke zur Religion (so eine Biographie Mohammeds) wichtig. Von Voltaire erschien zeitgleich mit den Lettres sur Rabelais  Le Dîner du comte de Boulainvilliers (1767), ein fiktives Gespräch zwischen Boulainviller, Fréret und dem Jansenisten Bernard Couet, in dem er ihn als Anhänger Spionzas vorstellt.
    Porphyrios (233-301), Schüler von Plotin, verfasste eine erstaunliche Kritik an den Christen und an deren Bibelglauben (Contra Christianos, Gegen die Christen).
    Celsus (2.Jhdt.), sein Werk Ἀληθὴς λόγος (Wahre Lehre), ist das erste bekannte Werk, das sich explizit gegen das Christentum richtet. Celsius sieht in im Christentum eine ernste Bedrohung für das römische Reich. Eine Sicht, die in Rudolf Bergmeiers Schatten über Europa. Der Untergang der antiken Kultur (2011) als Erklärung für den Untergang Roms fruchtbar gemacht wird.
    Flavius Claudius Julianus (331-363), römischer Kaiser, der als letzter Kaiser die römische Religion gegen das Christentum wieder aufrichten wollte. Er schrieb Gegen die Galiläer, das nur noch aus Zitaten seiner Gegner rekonstruiert werden kann. Voltaire gab 1768 den Discours de l’Empereur Julien contre les chrétiens (siehe Anmerkung 56) heraus. ↩︎
  98. Huber, Marie (1695-1753), frz. Philosophin. Ihr wichtigstes Werk ist Lettres sur la religion essentielle à l’homme, distinguée de ce qui n’en est que l’accessoire, Londres, 1756 (4 Bd). ↩︎
  99. Abbé Huber, Jean Jacques (1699-1744), Schriftsteller, war Befürworter religiöser Toleranz. Von Quentin de la Tour ist von ihm ein berühmtes Porträtbild, Montaigne lesend, erhalten. Den heute vergessenen Lebenslauf von Jean Jacques Huber rekonstruierte 1957 Paul Brazier (Teil1 1957) (Teil2 1959). ↩︎
  100. Karl I. von Braunschweig-Wolfenbüttel (1713-1780), Herzog, war der Aufklärung verbunden. ↩︎
  101. Nach jüdischer Überlieferung offerierte Gott sein Vertragsangebot zur Zeit Noahs (10. Generation nach Adam)  allen Menschen, doch nur das jüdische Volk schlug ein und wurde dadurch zum erwählten. ↩︎
  102. François Des Roches, Defense du Christianisme, ou Preservatif contre un Ouvrage intitulé Lettres Sur La Religion Essentielle à l’Homme, Genève et Lausanne: Bousquet, 1740, 367 p. Pfarrer Des Roches (1701-1769) war es auch, der Voltaire 1755 denunzierte, weil er Theaterstücke aufführte, was im Genf Calvins verboten war (Desnoiresterres, Voltaire aux Délices, p. 122. ↩︎
  103. Barbeyrac, Jean (1674-1744), Rechtshistoriker, Vertreter des Naturrechts. ↩︎
  104. Pufendorf, Samuel von (1632-1694), einflussreicher Rechtshistoriker und Naturrechtler, der in seiner Pflichtenlehre das Recht durch die Vernunft begründen wollte. Barbeyrac kommentierte und übersetzte von ihm (ins Französische)   sein De iure naturae et gentium octo (1672), dt.: Acht Bücher vom Natur- und Völcker-Rechte (1711) zu dem er das von Voltaire erwähnte Vorwort schrieb, das ihn berühmt machte, sowie Pufendorfs  De officio homminis et civis (1673), dt. : Über die Pflicht des Menschen und des Bürgers nach dem Gesetz der Natur (1994). ↩︎
  105. Josia, 2,18, Rahab, eine Prostituierte in Jericho, versteckte zwei „Männer von Israel“ und wurd durch das rote Tuch/Seil, das sie als Erkennungszeichen in ihr Fenser hängte, vom Untergang ausgenommen.   ↩︎
  106. Mose, der die Arme ausbreitet: 2. Mose,17,9-13. ↩︎
  107. Die Küsse der Sulamith, aus dem Hohenlied Salomons: Küß mich mit Küssen von Deinem Mund, denn Deine Küsse sind süßer als Wein… ↩︎
  108. Ein Vorwurf, den bereits Pierre Bayle gegen Augustinus erhob (s. seinen Artikel Augustin, Anmerkung H). ↩︎
  109. Kirchenvater Hieronymus (350-420) geriet in heftigen Streit mit Rufius von Aquileia (345-411) und Vigilantius (um 400) um die richtige christliche Lehre;  z.B. ging es um die Reliquienverehrung, die Vigilantius als Götzendienst verdammte. ↩︎
  110. Tertullian (150-220) war einer der ersten Kirchenschriftsteller. Der ganze sich später voll entfaltende Fanatismus dieser Religion war bei ihm schon angelegt. ↩︎

Priskil, Peter: „Zwölf Humanisten“, Der verdrängte Humanismus, II. Band, Freiburg: Ahriman, 2022, 616 S.; bereits 2019 erschien der 1. Band „Der verdrängte Humanismus“, 224 S.
Rezension von Rainer Neuhaus

Nach seiner Vorstellung der Karmaten als eine der ersten Gesellschaften, die ohne religiöse Bevormundung auskam (Die Karmaten, siehe die hier veröffentlichte Rezension), arbeitet der Historiker und Publizist Peter Priskil in seinem zweibändigen Werk in gewissermaßen archäologischer Feinarbeit heraus, welche Bedeutung der Humanismus und die in seinem Namen handelnden Personen für das Niederringen der christlichen Bevormundung in Europa und damit für die Aufklärung hatte. „Archäologische Feinarbeit“ ist das vor allem deshalb, weil die Suchgrabungen durch einen ungeheuren Wust von Schutt und Müll vorangetrieben werden müssen, der über die letzten Jahre leider nicht geringer wurde, sondern an Umfang und absichtlich gelegten falschen Fährten immer weiter zunahm.

„Priskil, Peter: „Zwölf Humanisten“, Der verdrängte Humanismus, II. Band, Freiburg: Ahriman, 2022, 616 S.; bereits 2019 erschien der 1. Band „Der verdrängte Humanismus“, 224 S.
Rezension von Rainer Neuhaus“
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Voltaire-Übersetzer: Wilhelm Christhelf Sigmund Mylius

Wilhelm Christhelf Sigmund Mylius, (* 2.5.1754 in Berlin – † 31.3.1827 in Berlin). Sein Vater war der Jurist Christhelf Mylius (1733 – 1777), seine Mutter Dorothea Spener. Seltsamerweise benutzt weder der Wikipediaartikel noch das Germersheimer Übersetzerlexikon die Geschichte der Familien Mylius‚ (von Johann Carl Mylius, Buttstädt 1895), die wir unserer kurzen Vorstellung hier zugrunde legen.

Wie sein Vater studierte W.C. S. Mylius zunächst Jura, begann aber nach dem Tode des Vaters mit seiner Übersetzertätigkeit. Er übersetzte aus dem Französischen (Molière, Le Sage..), aber auch aus dem Englischen und Lateinischen (ausführlich dazu der Artikel im Germersheimer Übersetzerlexikon).

Besonderen Verdienst erwarb er sich als Übersetzer (gemeinsam mit S..r und B..e [evtl. Johann Joachim Christoph Bode]) und Herausgeber der bis heute umfangreichsten, 29 bändigen Voltaire Werkausgabe in deutscher Sprache (Voltair’s, Sämmtliche Schriften. Übersetzt von Wilhelm Christhelf Sigmund Mylius u.a., 29 Bd. Berlin, (Wever [Sander]) 1786-1794.).

Voltaires Candide übersetzte Mylius 1778 – er war damals gerade einmal 24 Jahre alt. Es ist eine sehr freie Übersetzung , die sich bis in unsere Zeit gehalten hat und immer wieder nachgedruckt wurde. Hier, wie Mylius zwei unserer „Referenzstellen“ (aus der Rezension v. R. Neuhaus der Candide-Übersetzung von Tobias Roth aus d. J. 2018) ins Deutsche übertrug:

1. Voltaire: Remarquez bien que les nez ont été fait pour porter des lunettes, aussi avons-nous des lunettes.
Mylius: „Betrachtet zum Beispiel Eure Nasen. Sie wurden gemacht, um Brillen zu tragen und man trägt auch welche.“

Das wäre auch so gegangen: „Merkt Euch, daß Nasen dazu gemacht sind, Brillen zu tragen, daher trägt man auch welche.“

2. Mylius‘ Übersetzung des dritten Satzes des Candide (Il avait le jugement assez droit, avec l’esprit le plus simple; c’est, je crois, pour cette raison qu’on le nommait Candide) zeigt seht gut, wie selbstbewußt er mit dem Text umging:
„An Kopf fehlte es ihm eben nicht und doch war er offen, rund, und ohn alles Arg. Eben deswegen, glaub‘ ich, nannte man ihn – die Französische Sprache ist ja einmal die Muttersprache der teuschen Grossen – Candide, welches verdolmetscht heisst Bieder oder Freimut.“ Das würde sich heute kein Übersetzer mehr getrauen.

Mylius starb unverheiratet und in ziemlicher Armut in Berlin am 31. März 1827.

Aufstieg und Untergang der Vernunft: Hoevels, Fritz Erik, Wie unrecht hatte Marx wirklich? Bd. II, Lüge und Gewalt, Freiburg: Ahriman, 2023, 806 S., Rezension von Rainer Neuhaus

Wenn wir mit dieser Buchempfehlung eine Ausnahme von unserem Prinzip machen, nur Werke zu besprechen, die sich direkt auf Voltaire und die Aufklärung beziehen, so liegt dies an der besonderen Bedeutung dieses Buches für alle, die der Aufklärung nahe stehen.
Hoevels verlässt mit diesem zweiten seines auf drei Bände konzipierten Hauptwerkes die engere ökonomische Marxismustheorie und weitet den Horizont hin zu einer welthistorischen Analyse der Ideologieproduktion, in marxistischer Diktion also des gesellschaftlichen Überbaus.

Vergleicht man das Werk mit dem Essay sur les Moeurs et l‘Esprit des Nations von Voltaire, in dem er dem Einfluss von Religion und Kirche auf unsere Kultur nachgeht, verfolgt Hoevels ein ähnliches Ziel, insbesondere aber das eine, Übersicht zu gewinnen und zu vermitteln über die Funktionsgrundlagen der europäischen Kultur. Und wie schon Voltaire, bezieht er die außereuropäische Kulturgeschichte ein, setzt sie in Bezug zu unserer europäischen, um diese besser verstehen zu können. Denn es ist der Vergleich, der allem wissenschaftlichen Denken den Weg weist.

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Philosophisches Taschenwörterbuch: Catéchisme du Japonais – Katechismus des Japaners (Kommentare)

Über Geschmack kann man bekanntlich nicht streiten, besser: streiten schon, aber nicht entscheiden, denn er ist subjektiv und jede subjektive Vorliebe, so seltsam sie auch wäre, hat ihre Berechtigung. Der eine mag Kaviar, der andere verabscheut ihn. Auch religiöse Vorlieben sind rein subjektiv, der eine verehrt Allah, der andere Jesus, der dritte Huizilopochtli. Versteckt hinter einem Streit um die beste Küche demonstriert Voltaire, wie absurd Streitigkeiten um die beste Religion sind und wie gefährlich es ist, wenn nur eine Religion das Sagen hat. Besser, es gibt zwölf davon und einen robusten Staat, der das Toleranzgebot auf seinem Territorium durchsetzt. Wenn man doch schon über den richtigen Geschmack nicht entscheiden kann, wie erst über die Frage nach dem richtigen Gott, den noch niemand sinnlich wahrgenommen hat.

Hintergrund:
A
. England und Frankreich im 18. Jahrhundert:
England war nach dem Sturz nicht nur der katholischen Kirche (1534 d. Heinrich VIII und 1648 d. Cromwell), sondern auch aufgrund der Beschneidung der königlichen Macht durch ein starkes, aufstrebendes Bürgertum – der Vorgang ist unter dem Begriff der Glorious Revolution (1688/89) bekannt -, auf dem Weg zur führenden Weltmacht. Die Befreiung der Wissenschaft vor religiöser Bevormundung führte zu bedeutenden Entdeckungen und zur kräftigen Steigerung der Produktivität durch den daraus resultierenden technischen Fortschritt, siehe (Der Japaner), S. 141:
„…unsere Reichtümer nehmen zu, und wir haben zweihundert Liniendschunken, und sind der Schrecken unserer Nachbarn.“
Voltaire hatte die Vorzüge Englands während seines Exils 1726-1728 kennen- und schätzen gelernt. In seinen Philosophischen Briefen, die in Frankreich umgehend verboten wurden, berichtet er von den dortigen Entwicklungen. In Frankreich dagegen war die starke absolutistische Zentralmacht, weil sie von der katholischen Kirche unterstützt und vom Bürgertum verwaltet wurde, in der Lage, die alten, regional verstreuten Kräfte des Feudalismus niederzuhalten. Die schwankenden Kräfteverhältnisse zwischen den einzelnen Fraktionen bewirkte ein ständiges Auf- und Ab der religiösen und geistigen Unterdrückung im Land und führte dazu, dass Frankreich gegenüber England ins Hintertreffen geriet.

B. Veröffentlichungen im 18. Jahrhundert
– Voltaire, Lettres philosophiques von 1733, in denen er die gesellschaftlich intellektuelle Lage in England beschreibt.
– Voltaire, Essai sur les moeurs, Cramer: Genf, 1775. Im Kapitel 179 -182 behandelt Voltaire die Geschichte Englands seit Cromwell und bis Karl II.
– Rapin-Thoyras, Paul de (1661 – 1725), Jurist, Verfasser der ersten französischsprachigen Geschichte Englands, aus hugenottischer Familie. 1685, nach der Aufhebung des Edikts von Nantes, ging er ins engl. Exil. In seinem teils posthum erschienen Lebenswerk Histoire d’Angleterre, La Haye: de Rogissart, 1724 – 1735, 12 Bd., beschreibt er die unglaubliche Machtfülle der Katholika in England, die es ihr erlaubte, das Land buchstäblich auszusaugen. Das Werk wurde ins Deutsche (1758 – 1760) und ins Englische (1789) übersetzt.

Die folgenden Anmerkungen zu einzelnen Textstellen beziehen sich mit ihren Seitenangaben auf die von uns bei Reclam herausgegebene Ausgabe des Philosophischen Taschenwörterbuchs (2020):

Anmerkung 1: S. 137. Der Japaner: „Ganz und gar nicht, wir haben uns während nahezu zwei Jahrhunderten verfolgt..“). Das heißt, von Heinrich VIII 1534 bis 1688/9, der Glorious Revolution. Erst seitdem kehrte in England in religiösen Fragen relative Ruhe ein.

Anmerkung 2: (S.139 Der Japaner: „Die Quäker waren niemals von der Raserei besessen“). In Voltaires Philosophischen Briefen sind die ersten vier Kapitel den Quäkern gewidmet. Er lernte in London deren Religion kennen und verschaffte sich selbst ein Bild dieser nicht verfolgerischen Religionsgemeinschaft. Sie waren es, so lange sie selbst verfolgt wurden (1662 verboten, 1689 durch den Toleration Act wieder erlaubt) und blieben es sogar als dominante Religion in Pennsylvania.

Anmerkung 3: (S.140 Der Inder: „Es muss doch eine Küche geben, die die vorherrschende ist, nämlich die des Königs“). Voltaire stellt hier das Prinzip der englischen Staatskirche vor, der die Verfassung ein Ämterpatronat zugesteht, wenn sie sich nur für das vom Bürgertum erzwungene System der konstitutionellen Monarchie engagierte. Das war auch im 18. Jahrhundert noch ihre wichtigste Aufgabe, worin sie sich nicht von der katholischen Staatskirche in Frankreich unterschied, nur dass es sich dort um den Absolutismus handelte, aus dessen Vormundschaft sich das Bürgertum vor der Revolution noch nicht hatte befreien können.

Anmerkung 4: (S.142 Der Inder: „Japan, wo früher…“ ). Das Zitat von Louis Racine lautet im Original:
« L’Angelterre, ou jadis brilla tant de lumière/Recevant aujourd’hui toutes réligions/ N’est plus qu’un triste amas de folles visions » (Poème sur la Grace (1720). Er behauptet also, England würde keine intellektuellen Leistungen mehr hervorbringen, weil es jetzt so viele unterschiedliche Religionen dulde. Voltaire erklärt (der Japaner, ebd.), dass gerade weil es keine religiöse Unterdrückung gibt, die Wissenschaft in England floriert. Newton wäre ohne die größere religiöse Freiheit unmöglich gewesen und auch die technischen Erfindungen, die das Leben erleichtern und den Profit erhöhen, wie z.B. die Strumpfstrickmaschinen, wurden erst auf dem Boden der religiösen Toleranz möglich. Das ist nichts anderes als die Lehre Francis Bacons und John Lockes, nur umgekehrt: Meinen diese, da die Wissenschaft keine Autoritätsbeweise akzeptiert, sondern induktiv und empirisch vorgeht, dass die Kenntnisse über die Natur im Laufe der Zeit zu-, gleichzeitig aber religiöse Vorurteile und Aberglauben abnehmen, erklärt hier Voltaire, dass die Wissenschaft nur dort entsteht, wo die dogmatische geistige Alleinherrschaft der Kirche gebrochen wurde.

Philosophisches Taschenwörterbuch: Catéchisme du curé – Katechismus des Landpfarrers (Kommentare)

Fragt man heute in Polen, wo die katholische Kirche im Volk noch hohes Ansehen genießt und der Klerus nicht wie in Deutschland mit staatlich eingetriebenen Steuergeldern versorgt wird, einen Kleinbauern nach dem örtlichen Priester, hört man, dass er Landwirtschaft betreibe, für alle Feiern der Ansprechpartner sei und gute Arbeit leiste. Er wird als Mensch von eigenem Schlag betrachtet, nicht wie in Deutschland, als Beamter. Ein solcher Dorfpfarrer ist es, den Voltaire hier vorstellt und zwar nicht negativ; was er lehrt, ist vollkommen zweitrangig, denn auf sein Handeln kommt es an. Auf solche Pfarrer konnte auch die Französische Revolution setzen und ein solcher Pfarrer war auch der Abbé Meslier (1664 – 1729), ein Atheist, Seelsorger, Freund und Helfer seiner Gemeinde und Verfasser der ersten atheistischen Schrift (s. Das Testament des Abbé Meslier, Herausgegeben und eingeleitet von Günther Mensching, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1976).

Hintergrund:
A
. Die Organisation der Kirche im 18. Jahrhundert:
Die Land- oder Dorfpfarrer (die Curés) bildeten mit den Vikaren die unterste Stufe der kirchlichen Hierarchie, über ihnen standen Bischofe, Erzbischöfe, Kardinäle. In Frankreich gab es 135 Bistümer und Erzbistümer, 34.658 Pfarreien mit ca. 60.000 Pfarrern/Vikaren. Hinzu kamen noch 60.000 Mönche und 71.000 Weltpriester. Sie machten 1,8% der Bevölkerung aus und besaßen 5-6% des Bodens, die ihnen jährlich 100 Millionen livres einbrachten, dazu kamen 123 Millionen livres aus der Kirchensteuer, dem Zehnten. Die höhere Geistlichkeit rekrutierte ihre Funktionsträger ausschließlich aus dem Adel und bestimmte alleine, wie die Einnahmen an die unteren Ränge weitergegeben wurden. Am wenigsten erhielten die Landpfarrer, am meisten die einflussreichsten Adligen mit den besten Pfründen (oft die großen Städte), eine Quelle dauernder Konflikte. Der Pfarrer war verantwortlich für die Taufen, Eheschließungen und Sterbefälle seiner Gemeinde. Er kontrollierte die öffentliche Erziehung und die Wohltätigkeitsmaßnahmen. Auch die Gemeindeversammlungen waren den Pfarrern unterstellt. Ein weitere wichtige Kontroll-Funktion waren die sogenannten Monitorien, mit dem die Kirche die Bevölkerung zur Beihilfe und Denunziation aufforderte, immer wenn ein Verbrechen begangen wurde.

B. „Der gute Pfarrer“ – Veröffentlichungen
– 1762 erschien Rousseaus Émile und dort im vierten Kapitel „La Profession de foi du vicaire savoyard“ (Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars), also eines Vertreters der untersten hierarchischen Stufe des französischen Klerus, eine entschieden antichristliche Schrift, in der Rousseau die Gleichrangigkeit aller Glaubensrichtungen einfordert. Voltaire veröffentlichte sie – trotz seiner Querelen mit Rousseau – auszugsweise in seinem Sammelband „Récueil nécessaire (Genf 1766)“.
[Le Recueil nécessaire, à Leipzig, 1765, in-8o, contient : 1° Avis de l’éditeur ; 2° Analyse de la religion chrétienne (sous le nom de Dumarsais) ; 3° le Vicaire savoyard, tiré de l’Émile de Rousseau ; 4° Catéchisme de l’Honnête Homme; 5° Sermon des Cinquante; 6° Examen important, par milord Bolingbroke (c’est-à-dire par Voltaire; 8° Dialogue du Douteur et de l’Adorateur; 8° Les dernières paroles d’Épictète à son fils; 9° Idées de La Mothe Le Voyer]
– Voltaire bezieht sich außerdem auf den Abbé de Saint Pierre (1658-1743) und seine Abhandlung Observations politiques sur le célibat des prètres.
– Auch in der Enzyklopädie erschien ein Artikel „Célibat“ der den Argumenten des Abbé de Saint Pierre im wesentlichen folgt.

Lit: Sage, Pierre, Le ‚bon prêtre‘ dans la littérature française d’Adamis de Gaule au Génie due Christianisme, Genève 1951

Die folgenden Anmerkungen zu einzelnen Textstellen beziehen sich mit ihren Seitenangaben auf die von uns bei Reclam herausgegebene Ausgabe des Philosophischen Taschenwörterbuchs (2020):

Anmerkung 1: S. 144, 2. Ariston: „Verdrießt es sie nicht, keine Frau zu haben?“): Die Aufklärer waren allgemein gegen das Zölibat. Die Forderung nach Abschaffung des Zölibats verfolgte das Ziel einer Schwächung der katholischen Kirche durch Verweltlichung. Nicht nur verhindert das Zölibat das Abfließen von Lebensenergie des kirchlichen Personals in weltliche Dinge, sondern sichert der Kirche auch durch die Erbschaften ihrer ehe- und kinderlosen Priester bedeutende Einkommenszuwächse. Da Voltaire für sich selbst eine Verheiratung nie in Betracht zog, könnte es sein, dass diese Verweltlichung sein eigentliches Ziel war. Vielleicht konnte er so auch einige der Volkspriester auf die Seite der Aufklärung ziehen. In dem Artikel Catéchisme Chinois – Chinesischer Katechismus führt er, ebenfalls mit Bezug auf den Abbé de Saint-Pierre, noch die Nützlichkeit, die von den vielen Kindern solcher Priesterehen ausgehen würde, an (s. 5. Gespräch, S. 128/9).

Anmerkung 2 (S.145 Theotimus: „Die Beichte ist eine großartige Sache“): In der Ausgabe des Philosophischen Taschenwörterbuchs von 1765 nahm Voltaire einen kurzen Artikel zur Beichte auf, in dem er es anders sieht. Er weist darauf hin, dass die Beichte zunächst als ein Mittel der Kontrolle und Überwachung in der Kirche selbst eingeführt wurde. Erst später wurde sie allgemein. Weil sich durch die Beichte jeder Verbrecher Erleichterung verschafft, trägt sie eher zu deren Vermehrung als zur Vermeidung bei. Nur kleine Diebe kann man durch die Beichte etwa zur Rückgabe des Gestohlenen bewegen.

Anmerkung 3: (S.146 Theotimus: „Es gibt Rituale, bei denen die Heuschrecken, die Zauberer und die Schauspieler exkommuniziert werden“.)
– Heuschrecken:
Die Anmerkung in dem Kommentar der Voltaire-Foundation zu diesem Punkt bemerkt, dass Heuschrecken keiner Exkommunikation unterzogen wurden. Man hat stattdessen in einem speziellen Ritual den Ackerboden geweiht, um ihn vor den Heuschrecken zu schützen.
– Zauberer:
Papst Paul V. führte 1614 die Exkommunikationsrituale gegen Zauberer und Hexer ein, die dann in den Inquisitionsverfahren zur Anwendung kamen.
– Schauspieler:
-> Synode von Elvira (306): „Wenn ein Zirkuswettfahrer oder ein Pantomime zum Glauben übertreten will, muss er vorher seinem Gewerbe entsagen und darf nachher nicht mehr zu ihm zurückkehren; tut er es doch, soll er aus der Kirche ausgestoßen werden.“
-> Im Jahre 314 erklärte das Konzil von Arles die Schauspieler für exkommuniziert.
-> Das Konzil von Aachen 816 verbietet Klerikern die Teilnahme an Schauspielen.
-> Auf der Synode von Cambrai wurde 1300 bestimmt: „Kein Christ darf von der Kommunion zurückgewiesen werden, außer wer exkommuniziert ist oder wer durch notorisches Verbrechen gebrandmarkt ist, wie die öffentlichen Dirnen, die Komödianten und Spielleute.“
-> 1649 verordnete die Rituale von Châlon als Erste, dass Schauspieler nicht zur Kommunion zugelassen sind. Bis 1713 sollte, wie Jean Dubu aufzeigt (Les églises chrétiennes et le théâtre (1550-1850), Grenoble 1997), diese Intoleranz zunehmen. Nicht nur die Kommunion, sondern auch das Recht auf Bürgschaft und das Begräbnis wurde den Schauspielern verweigert. Die o. g. Angaben stammen aus Manuel Stadler Die Exkommunikation des Schauspielers zwischen dem Ende des Römischen Reiches bis ins 19. Jhdt.

Voltaire hatte selbst bittere Erfahrung mit dieser Variante der kirchlichen Misanthropie gemacht, als man seiner engen Freundin, der Pariser Schauspielerin  Adrienne Lecouvreur das Begräbnis verweigerte (siehe dazu sein bewegendes Gedicht).

Anmerkung 4 (S.147 Ariston: „Was werden Sie tun, um die Bauern daran zu hindern, sich an Fest- und Feiertagen zu betrinken?“): Die Anmerkung der Voltaire Foundation weist darauf hin, dass Voltaire die Berechnung des Abbé de Saint Pierre übernommen hat. Voltaire kam immer wieder auf dieses Thema zurück.
Was zunächst wie ein Versuch zur Beschneidung der freien Tage der armen Landbevölkerung aussieht (Voltaire war schließlich in Ferney ein Großgrundbesitzer mit bis zu 1500 „Untertanen“), versteht sich etwas anders, wenn man folgendes bedenkt:
– Die Anzahl der Feiertage variierte von Diözese zu Diözese, jeder Bischof versuchte die Loyalität seiner Gemeindemitglieder durch spezielle Feiertage (Heilige, spez. Anlässe) zu heben, was deshalb erfolgversprechend war, weil an solchen Tagen die religiöse Indoktrination mit großem Elan praktiziert wurde. Ende des 13. Jahrhunderts ist von ca. 40 – 60 Feiertagen pro Jahr auszugehen.
– Erste Kritik an den vielen Festen kam im 15. Jahrhundert von humanistischer Seite (Nicolas de Clamange, Contre l’institution des fêstes nouvelles (1413), auch bereits mit dem Argument, dass die Bauern, könnten sie arbeiten, sehr viel besser leben würden. Dies war der ökonomische Blick des Stadtbürgertums, das in harter Arbeit zu Wohlstand und Unabhängigkeit gekommen war. (siehe: L’évolution du nombre de jours chômés à la fin du Moyen Âge : enjeux spirituels et économiques, 2007).
In einem anderen Artikel (Temps de travail et fêtes religieuses au XVIIIe siècle, Jean-Yves Grenier, in: Revue historique 2012/3, n° 663, S. 609 – 641) erklärt der Autor, dass sich die Anzahl der Feiertage im Verlauf des 18. Jahrhunderts in Frankreich nahezu halbiert habe. Offenbar hatten sich die Manufakturbesitzer, Handwerker und Landbesitzer , die an der erhöhten Arbeitszeit interessiert waren, gegen die Kirche durchgesetzt.
Außer dass sie die Menschen dem kirchlichen Einfluss aussetzten, behinderten die vielen Feiertage auch sonst die ökonomischen Abläufe. So wurden zum Beispiel Transporte, ohnehin beschwerlich und langsam, plötzlich angehalten, weil in einer Region ein kirchlicher Feiertag ausgerufen worden war. Damit war die Belieferung von verderblichen Waren auf die Märkte der Städte oft schwierig, wenn nicht unmöglich.
Voltaire, richtig verstanden, argumentiert folglich gegen die Kirche,wenn er erklärt, dass weniger Feiertage den Bauern und Handwerkern ein höheres Einkommen, eine bessere Gesundheit, niedrigere Ausgaben für Alkohol bringen. Diese vertrat zu dieser Frage verständlicherweise genau das Gegenteil.

Rezension: Voltaire, Der unwissende Philosoph, aus dem Französischen von Ulrich Bossier, Nachwort von Tobias Roth, Ditzingen: Philipp Reclam Jun. (RUB 14169), 2022, 108 S.

Die unterdessen fünfte Übersetzung des Philosophe Ignorant ist eine sprachliche Aktualisierung dieser philosophischen Standortbestimmung Voltaires aus dem Jahre 1766. Wie jede Neuübersetzung krankt sie teilweise am Zwang, eine Verbesserung liefern zu müssen, ohne wirklich eine solche zu sein und ist allerdings teilweise wirklich besser als die zuletzt erschienenen.
Die Anmerkungen gehen kaum über die bereits bekannten aus den französischen Gesamtausgaben von Moland und der Voltaire Foundation hinaus, insgesamt ist die Übersetzung und sind die Anmerkungen solide.

Anders das Nachwort von Tobias Roth.  Schon der erste Satz („Jemand wie Voltaire kann uns nicht weismachen, er wisse nichts“) zeigt, dass er nicht versteht, worum es Voltaire in diesem Werk ging und gehen musste. Er fokussiert auf die Skepsis, die Voltaire ganz offensichtlich als Grundhaltung in dieser Abhandlung ins Werk setzt, lässt aber die existentielle Bedrohung, die für Voltaire aus den Terrorurteilen Sirven/de La Barre in den Jahren 1765 1766 entstand, völlig außer Acht, obwohl sie im Hintergrund der Argumentation nur allzu offensichtlich die Regie bestimmt1.

Voltaires „Wir müssen wieder bei Null anfangen“ ist nichts anderes, als eine Selbstvergewisserung angesichts dieser großen Verunsicherung in den aufgeklärten Kreisen der Jahre 1765/1766.
Wir haben dies ausführlicher in unserer Inhaltsangabe zum Unwissenden Philosophen dargestellt und wollen den Punkt deshalb hier nicht weiter ausführen.

Seltsam auch, wie Roth Voltaire zu einem Ethiker macht, dem es im Unwissenden Philosophen um eine Art Theorie der Nützlichkeit und der Gerechtigkeit ginge. In der Tat beschäftigt sich Voltaire ab Kapitel XXX mit der Moral, jedoch tut er dies in vor allem praktischer Absicht, um nämlich aus einer moralisch unanfechtbaren Position seine Gegner um so besser angreifen zu können und um wiederum seinen Anhängern zu zeigen, dass es nicht anders geht: Man muss den Kampf der Aufklärung bis zum Ende weiterführen!

Schon einmal war uns Tobias Roth negativ aufgefallen, als er sich an der Vernebelung der Tragödie Mahomet oder der Fanatismus beteiligte. Indem er in seinem Nachwort die inquisitorischen Aktivitäten im Hintergrund des Unwissenden Philosophen verschweigt, hat Tobias Roth ein zweites Beispiel dafür geliefert, dass er unter dem Einfluss antiaufklärerischer Vernebeler steht.
Man sollte ihn kein weiteres Nachwort zu einem Werk Voltaires schreiben lassen, es sei denn, das Vernebeln würde bezweckt.

  1. Nähere Angaben zur irritierten Aufnahme des Unwissenen Philosophen im Umfeld Voltaires (z.B. v. Grimm): René Pomeau, Voltaire en son temps II, p. 199 – 203 ↩︎

Le philosophe ignorant – Der unwissende Philosoph (1766)

Die erste Ausgabe des Philosophe ignorant erschien anonym im Jahr 1766. Voltaire beschäftigte sich nachweislich bereits im Winter 1765 mit dem Werk, es wurde im Jahr 1767 sechsmal nachgedruckt.

ZUM INHALT: Zweieinhalb Kotaus vor und einen halben zurück!

Im 18. Jahrhundert war die Macht der kirchlichen Ideologie bei weitem noch nicht gebrochen. Für die Aufklärung ging es darum, den Zeitgenossen die Augenbinden zu lösen, um sie die Realität klar sehen zu lassen. Das hieß, die christliche Religion aus den Köpfen zu vertreiben, um anschließend wieder bei Null aufzusetzen, was wiederum bedeutete, an allem zu zweifeln, was 1700 Jahre von dieser Geißel der Menschheit in die Köpfe gestopft worden war. Soweit zumindest war Voltaire 1764 bis zu seinem Philosophischen Wörterbuch vorangekommen. Dann aber wurde 1765 das Terrorurteil gegen die Familie Sirven ausgesprochen.

„Le philosophe ignorant – Der unwissende Philosoph (1766)“ weiterlesen

Voltaire-Übersetzer: Christlob Mylius

Christlob Mylius, (* 11.11.1722 in Reichenbach an der Pulsniz – † 6.3.1754 in London). Sein Vater war der Pfarrer Caspar Mylius, seine Mutter dessen zweite Ehefrau Marie Elisabeth geb. Ehrenhaus. Er hatte vier ältere Brüder, die alle den Christus im Namen tragen: Christlieb, Christfried, Christhelf und Christhilf.

Von ihm stammt die bisher einzige Übersetzung von Voltaires Streitschrift, der Diatribe du Docteur Akakia, 1752/3.

Nach seinem Studium in Leipzig entwickelte er sich, vielseitig interessiert und begabt, zu einem der ersten Wissenschaftsjournalisten Deutschlands. Er gab mehrere Periodika heraus, unter anderem die Zeitschrift „Der Wahrsager“, die 1749 von der preußischen Zensur nach der 20. Ausgabe (im Mai) verboten wurde (so viel zu Friedrichs Haltung zur Pressefreiheit, die er Mai 1749 dann auch entschieden einschränkte). Dazu heißt es bei Ernst Cosentius, dem bis heute besten Bericht zu Mylius Leben:

Gewissermaßen als Feuilleton zur Zeitung gab M. seit dem 2. Januar 1749 unter dem Titel: „Der Wahrsager“ wiederum eine satirisch-moralische Wochenschrift heraus, die lediglich als eine Erwerbsquelle von M. zu nennen wäre, hätten sich die Schullehrer Berlins nicht über das 7. Stück des „Wahrsagers“, in dem sie sich gezeichnet glaubten, beschwert. Dies Stück darf man eine ironische Empfehlung der La Mettrie’schen Philosophie nennen. Es gab, wie das 9. Stück, das ein satirisches Lob der Hahnreihe brachte, den Ministern Friedrich’s des Großen Anlaß, beim Könige ein neues Censur-Edict zu beantragen und den Verfasser und Verleger des „Wahrsagers“ zu verwarnen. Daß die Leser satirischer Blätter stets nach lebenden Modellen suchten, war ein alter Uebelstand. Nach Mylius’ Ankündigung zum „Wahrsager“ hatten sie vielleicht auch ein Recht dazu. Jetzt, wo M. gewarnt war, lenkte er sein Blatt in die ruhige Bahn einer wohlgesitteten Wochenschrift und wurde nicht müde zu versichern, daß er Niemanden im Bösen meine; aber Friedrich der Große verbot trotzdem den „Wahrsager“ und erließ am 11. Mai 1749 das von den Ministern vorgeschlagene Censur-Edict. Das letzte (20.) Stück des „Wahrsager“ datirt vom 15. Mai 1749.

„Voltaire-Übersetzer: Christlob Mylius“ weiterlesen

Volker Reinhardt, Voltaire, eine Biographie, Rezension (7): Der Patriarch von Ferney 1759-1766 und Voltaires Tod (8) am 30.5.1778

Es gibt 26 Voltaire-Biographien in deutscher Sprache, die meisten erzählen die Ereignisse seines Lebens, einige integrieren die Geschichte seines schriftstellerischen Schaffens – die bisher gelungenste, die von Theodore Besterman (1969), findet das Wohlwollen von Reinhardt nicht, weil sie zu sehr auf Seite Voltaires steht.
Wie dem auch sei, eine zusätzliche Voltaire-Biographie sollte, da sein Leben genau in den Zeitabschnitt fällt, der das Ende der jahrhundertelangen Adelsherrschaft durch die Französische Revolution vorbereitet, diese Ereignisse systematisch einbinden, oder sie wird zwangsläufig epigonal. Epigonal ist der Begriff, der am ehesten auf Reinhardts Arbeit zutrifft. In weiten Teilen ist sie nur eine gekürzte Wiedergabe der nicht auf Deutsch erschienenen Voltaire-Biographie von Réné Pomeau, erweitert um ausufernde Inhaltsangaben vieler einzelner Werke.


Wie soll man Voltaires zentrale Forderungen verstehen: Wissenschaftlichkeit statt Glauben, Beobachten statt Autoritätsbeweis, Anerkennung durch Verdienst anstelle von Herkunft, sowie Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit, Rechtsstaatlichkeit, wenn man ihn nicht als den Vertreter der aufstrebenden, jedoch vom Absolutismus noch abhängigen bürgerlichen Klasse begreift? Wie seinen Kampf gegen die katholische Kirche einordnen, wenn man diese nicht als Stütze der absolutistischen Aristokratie auffasst, zwar ebenfalls abhängig vom Königshaus, aber als eigenständige Kraft mit gehässig-tödlicher Eigendynamik handelnd? Die Kräfteverhältnisse sind gewiss nicht immer einfach zu verstehen; Jansenismus, Hugenotten, Feudaladel kommen mit ihren eigenen Interessen und Kämpfen hinzu. Das alles zu integrieren, ist möglicherweise eine Aufgabe, die ein Einzelner kaum bewältigen kann. Reinhardt wäre es zuzutrauen gewesen, sein Schaffenshorizont ist, wie seine Publikationen zeigen, weit genug. Aus irgendeinem Grunde verfasste er stattdessen ein Kompendium der Inhaltsangaben von zahlreichen Werken Voltaires, ergänzt durch biographische Informationen und einigen wenigen, isoliert dastehenden kulturhistorischen Erläuterungen.

„Volker Reinhardt, Voltaire, eine Biographie, Rezension (7): Der Patriarch von Ferney 1759-1766 und Voltaires Tod (8) am 30.5.1778“ weiterlesen