Volker Reinhardt, Voltaire, eine Biographie, Rezension (6): Zwischenspiel im Elsass und in Genf 1753-1758

In dem Kapitel zu Voltaires Aufenthalten in Colmar, am Genfer See und in Genf selbst überspringt Reinhardt die Ereignisse dort, um mehr Raum für die Beschäftigung mit dem Erdbeben von Lissabon zu bekommen. Seine Biographie verlagert sich dadurch zunehmend weg von den gesellschaftspolitischen Hintergründen hin zur Werkpräsentation und -analyse, was sich schon in den Kapiteln davor andeutete.
Der Abschnitt über Voltaires Gedicht über das Erdbeben von Lissabon (S.371-382), in dem am 23.11.1755 zehntausende Menschen umkamen, kann als zentrales Kapitel der Biographie angesehen werden. Es enthält eine bemerkenswerte Analyse des Autors, die zeigt, von welch entscheidender Auswirkung die Katastrophe auf Voltaires Denken war.

Von diesem diesem Zeitpunkt an war für Voltaire die Anschauung eines gütigen, allmächtigen Gottes, dem er eventuell noch angehangen hatte, erledigt. Zum Atheisten/Materialisten wurden er deshalb trotzdem nicht, stattdessen vertrat Voltaire den philosophischen Standpunkt eines radikalen Skeptikers, der allerdings die Religion und den Glauben an einen strafenden und belohnenden Gott für das Volk aufrechterhalten wollte, um es von Aufständen abzuhalten und vor Hoffnungslosigkeit zu schützen.
Diese Analyse ist bestechend und bietet einen Ausweg aus der ungelösten Debatte, ob nun Voltaire eher Atheist/Agnostiker (Besterman) war oder aber ein vehementer Vertreter des Deismus/Theismus (Pomeau).
Auch ordnet er das Gedicht in die zeitgeschichtlichen ideologischen Debatten ein und zeigt, wie Voltaire gegen den Klerus, der  in dem Erdbeben eine Strafe Gottes sah, gegen Leibniz und Pope mit ihrer Behauptung von der besten aller möglichen Welten (Alles ist gut), gegen Rousseau, der darin eine Folge des Luxus und eine Folge (Strafe?) der menschlichen Entfernung von einer naturnahen Lebensweise sah und schließlich gegen die Janseninsten, die in dem schicksalhaften Geschehen eine Chance für die Religion sahen, den Menschen Trost und Hoffnung zu spenden.
Im folgenden bringt Reinhardt den Unterschied zwischen Rousseau und Voltaire auf den Punkt, indem er Gefühl – Verstand, Romantik – Aufklärung auf die Frage bezieht, ob der menschliche Wille frei sei oder nicht. In seinem Dialog zwischen einem Brahmanen und einem Jesuiten findet Voltaire zwar keine endgültige Antwort, es ist ihm aber völlig klar, dass der Verstand die Gefühle leiten muss und dass in dieser Aufgabe auch die individuelle Verantwortung des Menschen ankert.
„Frei sein heißt, das zu machen, was man will und nicht, das zu wollen, was man will (S. 386)“.


Colmar, Prangins, aber auch Lausanne sind deshalb wichtige Zwischenaufenthalte, weil sich hier das europaweite unterstützende Netz von Anhängern der Aufklärung, das Voltaire jahrelang aufgebaut hatte, lebensrettend zeigte.
Das Theaterspielen in Lausanne zum Beispiel, aber auch in Les Délices, war kein bloßes Steckenpferd Voltaires, es war dazu geeignet die Gemeinschaftsbande der Aufklärer zu festigen und zu erweitern.
Dieses nicht gesehen zu haben, ist unser wichtigster Kritikpunkt an Reinhardt in diesem Kapitel.
Wer sich ein wenig mit der Genfer Familie Tronchin befasst (Henry Tronchin, Le Conseiller Francois Tronchin et ses amis Voltaire, Diderot, Grimm etc., Paris 1895), wird über Reinhardts Einschätzungen nur den Kopf schütteln und über Voltaires Beziehung zur Genfer Geistlichkeit (ausführlich Graham Gargett, Jacob Vernet, Geneva and the ‚philosophes‘ 1994) die eine sehr wesentliche Rolle bei Voltaires Zugang zur Genfer Gesellschaft spielte, ist Reinhardt einfach hinweggegangen, der Name des bedeutenden Genfer Theologen Vernet kommt ebensowenig vor, wie die der anderen „aufgeklärten“ Pastoren wie Jacob Vernes und Polier de Bottens.