Volker Reinhardt, Voltaire, eine Biographie, Rezension (7): Der Patriarch von Ferney 1759-1766 und Voltaires Tod (8) am 30.5.1778

Es gibt 26 Voltaire-Biographien in deutscher Sprache, die meisten erzählen die Ereignisse seines Lebens, einige integrieren die Geschichte seines schriftstellerischen Schaffens – die bisher gelungenste, die von Theodore Besterman (1969), findet das Wohlwollen von Reinhardt nicht, weil sie zu sehr auf Seite Voltaires steht.
Wie dem auch sei, eine zusätzliche Voltaire-Biographie sollte, da sein Leben genau in den Zeitabschnitt fällt, der das Ende der jahrhundertelangen Adelsherrschaft durch die Französische Revolution vorbereitet, diese Ereignisse systematisch einbinden, oder sie wird zwangsläufig epigonal. Epigonal ist der Begriff, der am ehesten auf Reinhardts Arbeit zutrifft. In weiten Teilen ist sie nur eine gekürzte Wiedergabe der nicht auf Deutsch erschienenen Voltaire-Biographie von Réné Pomeau, erweitert um ausufernde Inhaltsangaben vieler einzelner Werke.


Wie soll man Voltaires zentrale Forderungen verstehen: Wissenschaftlichkeit statt Glauben, Beobachten statt Autoritätsbeweis, Anerkennung durch Verdienst anstelle von Herkunft, sowie Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit, Rechtsstaatlichkeit, wenn man ihn nicht als den Vertreter der aufstrebenden, jedoch vom Absolutismus noch abhängigen bürgerlichen Klasse begreift? Wie seinen Kampf gegen die katholische Kirche einordnen, wenn man diese nicht als Stütze der absolutistischen Aristokratie auffasst, zwar ebenfalls abhängig vom Königshaus, aber als eigenständige Kraft mit gehässig-tödlicher Eigendynamik handelnd? Die Kräfteverhältnisse sind gewiss nicht immer einfach zu verstehen; Jansenismus, Hugenotten, Feudaladel kommen mit ihren eigenen Interessen und Kämpfen hinzu. Das alles zu integrieren, ist möglicherweise eine Aufgabe, die ein Einzelner kaum bewältigen kann. Reinhardt wäre es zuzutrauen gewesen, sein Schaffenshorizont ist, wie seine Publikationen zeigen, weit genug. Aus irgendeinem Grunde verfasste er stattdessen ein Kompendium der Inhaltsangaben von zahlreichen Werken Voltaires, ergänzt durch biographische Informationen und einigen wenigen, isoliert dastehenden kulturhistorischen Erläuterungen.

Besser hätte er getan, sich auf die Zeit, in der Voltaire in Genf, dann in Ferney lebte, zu beschränken. Aber Reinhardt schildert, obwohl er in der Schweiz lebt, nicht einmal die Ereignisse in Genf vor dem Hintergrund der sich dort verändernden Kräfteverhältnisse. Wenn sein Buch schon „Die Abenteuer der Freiheit“ im Titel trägt, warum stellt er nicht die Freiheitskämpfe der Nichtpatrizier Genfs vor, vor allem der Natifs (die in Genf Geborenen ohne Bürgerrechte), die doch genau in die Zeit fallen, in der Voltaire dort gelebt und die er unterstützt hat. Warum reduziert er Voltaires Unterstützung der Natifs auf dessen angebliche gekränkte Eitelkeit („der verschmähte Friedensstifter“, S. 486) und macht gleichzeitig Rousseau madig, in dessen contrat social er gar keinen Vorschlag für einen allumfassenden Gesellschaftsvertrag sieht, sondern nur eine Adresse an die reichen Genfer Altbürger.

In die Ferneyer Zeit (ab 1760) fallen jene Ereignisse, denen Voltaire europaweit seinen Ruf als entschiedener Gegner der Kirche und ihrer Inquisition verdankt. Es sind die Fälle Jean Calas, Michel Sirven und Chevalier de la Barre. Sie alle müssen vor dem Hintergrund zunehmender Spannungen in der französischen Gesellschaft gesehen werden, die zu einer Verfolgung der Opposition führten, vor allem der religiösen (Protestanten, Hugenotten), aber auch der Enzyklopädisten, Philosophen, Atheisten, ja, sogar auch der Jesuiten.

Welches waren die wichtigsten Parteien in diesem Kräftespiel, einem Spiel auf Leben und Tod, die Reinhardt in seinem Buch nicht vorstellt?
  • Zunächst die wichtigste, die absolutistische Zentralgewalt. Sie hatte bereits Anfang des 16. Jahrhunderts die adligen Lokalpotentaten der mittelalterlichen Feudalgesellschaft weitgehend entmachtet und zwang sie, sich ihrer übergeordneten Zentralgewalt zu unterwerfen, nahm ihnen die Rechtsprechung (teilweise), die Steuergesetzgebung und die Militärhoheit ab. Die Papstkirche wurde in Abhängigkeit gebracht, und um seine Herrschaft zu organisieren, zog der Absolutismus geeignete bürgerliche Fachleute an den Hof, aus dem sich der sogenannte Amtsadel (Noblesse de robe) entwickelte, aus deren Mitte wiederum die Philosophie der Aufklärung viele ihre Anhänger rekrutierte.
  • Die katholische Kirche, die im Feudalismus als einzige überregionale Organisation ein europaweites Informationsmonopol besaß, das ihr eine enorme Macht verlieh, sogar die, einzelne Feudalherren in den Untergang zu treiben. Vor allem aber sicherte sie die Adelsherrschaft gegenüber dem Volk ab, tat im Absolutismus zwar dasselbe, musste sich aber mehr oder weniger den Interessen der absolutistischen Zentralgewalt fügen, sogar auch dann, wenn es gegen ihre Erzfeinde, die Anhänger der Aufklärung ging.
  • Das Bürgertum, teils in eigenem Interesse als Kaufleute, Handwerker, Manufakturbetreiber, oder als Finanzspezialisten tätig, teils aber als Bürger mit Adelstitel (Nobellese de robe) als die wirklichen Organisatoren der Verwaltung im Interesse des Absolutismus.
  • Die ehemaligen Machthaber aus dem Feudaladel, jetzt oft verarmte Landadlige, aber mit Wurzeln in der Landbevölkerung, die sie bei Bedarf durchaus mobilisieren konnten. Sie versuchten, ihre Nachkommen und Parteigänger in der absolutistischen Verwaltung, in der Kirche, vor allem aber in den wichtigen Parlamenten, den Gerichtshöfen, unterzubringen und dadurch an Einfluss zu gewinnen und waren an allem interessiert und beteiligt, was die Monarchie schwächte.
  • Die Jesuiten als papsttreuer Orden in der katholischen Kirche, der den Absolutismus als eigene Machtbasis schätzte und über seine Beichtväter beim König einflussreich war. Die Jesuiten waren im Machtapparat selbst die eigentlichen Gegenspieler des Bürgertums, durch die Kontrolle und zum Vorteil des Hofes nicht stark genug, um jenes zu besiegen, so dass diese beiden, in zweiter Reihe stehenden Kräfte gegeneinander ausgespielt werden konnten.
  • Die Jansenisten, eine dem Pietismus ähnliche Strömung in der katholischen Kirche, für die der Mensch seit dem Sündenfall im Paradies verderbt war, sein Leben vorherbestimmt ohne einen freien Willen, jedoch zu Ordnung und Enthaltsamkeit verpflichtet – eigentlich eine bürgerliche Bewegung, waren sie durch die Gegnerschaft der Jesuiten auf die Unterstützung von außerhalb der Kirche agierenden Kräften angewiesen, die sie meist in den Kreisen des Feudaladels fanden.
  • Die Protestanten (Hugenotten) die sich wie die europäischen antikatholischen Strömungen Calvins und Luthers aus dem Bürgertum entwickelt hatten und, vor allem an der Peripherie mit dem Feudaladel verbündet, zu einer Gefahr für die Monarchie wurden. Als aber ihre Anführer geschlagen waren (dafür mag stellvertretend der Untergang in La Rochelle 1628 stehen), standen sie, die hugenottischen Handwerker, Kleinkaufleute, Intellektuellen, alleine da und wanderten in Scharen aus. Eine zweite Auswanderungswelle ereignete sich noch unter Ludwig XIV., nach der Aufhebung des Ediktes von Nantes im Jahr 1685. Danach konnten sie keine eigene Dynamik mehr entfalten, fungierten stattdessen als bevorzugte Objekte des erzkatholischen Hasses.
Warum gab Voltaire seinen Wohnsitz in Genf auf, warum wurde ihm dort die Luft zu dünn?

Reinhardt flüchtet sich zu der banalen Auskunft, Voltaire hätte eben mehrere Fluchtwege haben wollen.
Wie war es wirklich?
Voltaire kam nach Genf, erhielt die seltene Genehmigung, als Nichtbürger ein Haus (zwar außerhalb der Stadtmauer und nur über einen Strohmann) zu erwerben, was er der Fürsprache einiger einflussreicher Pastoren um Jean Vernet und der Patrizierfamilie Tronchin zu verdanken hatte. Es war selbstverständlich die Gegnerschaft zur katholischen Kirche, die sie in Voltaire einen Bündnisgenossen sehen ließen und (bei den Tronchins) das viele Geld, das sie verwalten durften.
Voltaire renovierte das Anwesen mit hohen Kosten zu einer ansehnlichen Villa mit einem kleinen Park, zu seinem liebsten Ort, wo er sich endlich Ruhe erhoffte. Aber kaum drei Jahre später verlässt er „Les Délices“ und verkauft es mit großem Verlust, nur weil er mehrere Fluchtwege wollte?

Als Voltaire ein Theater aufbaute, das Theaterspielen verteidigte, als die Genfer Herrschaft bemerkte, dass Voltaire und seine Nichte ein Liebespaar waren (ein Punkt, über den Reinhardt verschämt hinwegsieht), dass Voltaire die Vorsehung und das Christentum ganz generell und mit ihm auch die anderen Offenbarungsreligionen ablehnte (z.B. am Gedicht über das Erdbeben von Lissabon), wurde ihre Einstellung zunehmend kühler. Sie verboten die Teilnahme an Voltaires Theateraufführungen.
Als dann auch noch Auszüge aus seinem freizügigen, satirischen Werk La Pucelle, in dem er sich über die Jungfrau von Orléans belustigt, herauskamen und er im Essay sur les moeurs das Schicksal von Michel Servet, den Calvin am 27.10.1553 als Ketzer verbrennen ließ, ausführlich thematisierte, war es mit der Freundschaft vollends vorbei. Der Klerus und das Patriziat entzogen ihm ihre Gunst.

All dies spielte sich vor dem Hintergrund eines Konflikts in der Genfer Gesellschaft ab, der sich zunehmend verschärfte: die Patrizier-Oligarchie Genfs wollte den sogenannten Natifs, den in Genf Geborenen, die fast die Hälfte der Bevölkerung ausmachten und oft Ansehen und Besitz erworben hatten, keinerlei Bürgerrechte zugestehen und sie nicht an der Ausübung der politischen Macht mitwirken lassen. Entsprechend explosiv war die politische Lage. Der Genfer Rat schreckte nicht vor Verhaftungen und sogar Exekutionen der politischen Gegner zurück, auch nicht davor, ausländisches Militär zur Unterdrückung der eigenen Bürger zu Hilfe zu rufen. Im Historischen Lexikon der Schweiz (online) heißt es dazu:

Eine Besonderheit der Genfer Ereignisse, die deren Breitenwirkung verstärkte, war die Einflussnahme von Persönlichkeiten wie d’Alembert (Artikel „Genf“ in der Encyclopédie, 1757), Rousseau und Voltaire, welche die Natifs unterstützten. Die Geschichtsschreibung sah denn auch im Genf des 18. Jh. nachgerade ein „Laboratorium der Revolution“ bzw. „einen Resonanzkasten“ der aufklärerischen Ideen.

Weil Rousseau sich gegen die Vorrechte der Patrizier stellte, verbrannte man in Genf seinen Émile und den Contrat social und weil Voltaires Dictionnaire philosophique portatif das Christentum kritisiert, auch dieses Werk. Diese Zuspitzung der Lage, die Voltaires Umzug weniger als klugen Schachzug denn als unvermeidbare, rechtzeitige Flucht aussehen lässt, erwähnt Reinhardt nicht.

Wie waren die Kräfteverhältnisse in Frankreich, 25 Jahre vor der Revolution?

Bereits in den letzten Regierungsjahren Ludwig XIV., vor allem aber unter Louis XV erlebte die absolutistische Monarchie durch Misserfolge in den kriegerischen Konflikten mit England, durch ihre anhaltende Verschwendungslust und ausuferndes Spekulantentum eine Krise, die zu großer Unzufriedenheit im Volk führte, vor allem bei den bürgerlichen Amtsträgern, Handwerkern, Händlern und Manufakturbesitzern. Viele von ihnen hatten sich innerlich von der Monarchie entfernt, glaubten nicht mehr an das gottgesandte Königtum und nicht an die Prädestinationslehre. Für sie musste die Staatsführung durch Ergebnisse überzeugen, die zu ihren Interessen passten – oder sie verlor ihre Unterstützung. Das liest sich bei Reinhardt so (S.438), dass die Verteuerung des Brotes „…apokalyptische Ängste“ heraufbeschworen habe. Und wenn das Volk behauptete, dass der König, „statt seine heiligste Pflicht, für das ungefährdete Überleben der kleinen Leute zu sorgen“, mit den Reichen und Mächtigen das Mehl verknappe, um sich auf Kosten der Armen zu bereichern, bezeichnet Reinhardt dies als Verschwörungstheorie. Ja, man glaubt es kaum, aber so steht es da: „Verschwörungstheorie“.

Der gegen das Königshaus agierende Feudaladel hatte in der innerkirchlichen, gegen die Jesuiten eingestellten Opposition der Jansenisten neue Parteigänger gefunden, mit denen er in den sogenannten Parlamenten, den Gerichtshöfen Frankreichs, die antimonarchische Stimmung anheizte. Das war der Grund, warum die Jesuiten durch die päpstliche Bulle Unigenitus 1713 die Jansenisten als Häretiker verurteilen ließen und eine neue Runde in dem Machtkampf Krone – Feudaladel eröffneten.

Voltaire berichtet in seiner Histoire du Parlement de Paris ausführlich über den Konflikt zwischen der königlichen Zentralgewalt und den Parlamenten: sobald die jesuitisch geführte, königstreue Kirche gegen die Jansenisten vorging, schlugen die Parlamente Alarm, und zwar unter zunehmender Sympathie des Volkes. Sobald die Parlamente einen Erlass gegen die Interessen des Klerus verabschiedeten, gab es entschiedene Gegenwehr der Jesuiten, die versuchten, den König auf ihre Seite ziehen.
Diese schwierige Machtkonstellation ist der Ausgangspunkt, ohne den man die Ereignisse der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und Voltaires Handeln in dieser Zeit einfach nicht versteht.

Die Inquisition erhebt ihr Haupt

Reinhardt stellt selbst die Frage: welches die Gründe für das „gespenstische Wiederaufflackern religiöser Unduldsamkeit“ in der Mitte des 18. Jahrhunderts waren: (S. 438). Er führt die neue „Unduldsamkeit“, wie er es nennt, auf die Schwächung der Monarchie zurück, die als Gegenmaßnahme, um die ihr verlorengegangene „sakrale Weihe“ wiederzuerlangen, die Protestanten als Ketzer ausgerufen habe. Scheiterhaufen, Zunge ausreißen, Rädern um der sakralen Weihe willen? Mit dieser Sündenbocktheorie macht es sich Reinhardt wirklich sehr einfach – und nimmt einen der Hauptakteure, die Kirche, aus dem Spiel.

Sicher war die absolutistische Monarchie (vor allem finanziell) geschwächt, aber sie hatte die Protestanten besiegt und kontrollierte mehr oder weniger die Kirche und das Bürgertum an ihrer Seite. Als jedoch gegen Ende des 17. Jahrhunderts Ludwig XIV. unter dem Einfluss der Mme de Maintenon und seines jesuitischen Beichtvaters zum Frömmler wurde, war es zu einem Machtzuwachs des Klerus gekommen. Die Kirche nutzte diesen sofort aus und machte sich an die Verfolgung der übrig gebliebenen Hugenotten, der Jansenisten und des fortschrittlichen, der Aufklärung verbundenen Bürgertums.

Insbesondere die Protestanten waren ihre bevorzugten Opfer, stellten sie doch die Autorität der Kirche bereits durch ihre bloße Existenz in Frage und hatten keine Machtbasis. Gerade diese Schwäche machte sie zu den idealen Zielobjekten klerikaler Folterknechte; an Ihnen konnte man durch abschreckende Grausamkeit Exempel zelebrieren, ohne Gegenwehr zu befürchten. Seit der Révocation, der Aufhebung des Toleranzedikts von Nantes im Jahr 1685, durch Verfolgung und Konvertierungsdruck, waren die Protestanten stark dezimiert, waren von über 1 Mio. auf 200 Tsd. Mitglieder zurückgegangen.

Die Aufklärung in höchster Gefahr

Nur Voltaire begriff, was auf dem Spiel stand, wenn man die Kirche hier gewähren ließ. Was Ludwig XIV erreicht hatte, die Unterordnung des Klerus unter die Zentralmacht, ihre kulturelle Eindämmung, drohte sich umzukehren, außerdem konnte es zu einer vielleicht noch gefährlicheren Gegenreaktion kommen, so dass es die Kräfte rund um den Feudaladel, die in den Parlamenten saßen, im Verbund mit den Jansenisten wieder an die Macht geschafft hätten – in beiden Fällen drohte alles, was die Aufklärung bisher erreicht hatte, unterzugehen.

Voltaire also erkannte diese Gefahr und versuchte, die Kirche durch koordinierte Gegenwehr auf ihren Platz zurückzudrängen, und gleichzeitig der feudalen/jansenistischen Gegenreaktion den Wind aus den Segeln zu nehmen. Eine Herkulesaufgabe, selbst wenn man berücksichtigt, dass er inzwischen ein funktionierendes Netzwerk von Anhängern und Unterstützern, z.B. in den Freimaurerlogen, aufgebaut hatte.

Das selbstherrliche Handeln des Klerus kam ihm möglicherweise zu Hilfe, denn es führte zum Verbot des Jesuitenordens in Frankreich, Portugal und Spanien. Nachdem die Bulle Unigenitus sie als Häretiker verdammt hatte, wollten die Jesuiten den Jansenisten die katholischen Sterbesakramente verweigern. Dagegen wendete sich energisch und erstaunlich selbstbewusst das Parlament (immerhin das höchste Gericht) von Paris. Durch die Auflösung und Verhaftung der Richter zeigte ihnen das Königshaus zwar ihre Grenzen auf, doch die Gegenseite war bereits zu stark geworden: die Auflösung des Parlaments und die Verhaftungen mussten zurückgenommen und das Parlament wieder in seine Rechte eingesetzt werden; stattdessen wurde nun der Jesuitenorden (1764) verboten, das labile Gleichgewicht drohte zugunsten des alten, reaktionären Feudaladels zu kippen.

Terrorprozess gegen den Chevalier de la Barre und Voltaires Gegenwehr

Noch von der inquisitorisch auftrumpfenden Staatskirche 1763 eröffnet, wurde der Prozess gegen den Chevalier de la Barre vom zurückgerufenen Parlament mit keinem anderen Ergebnis beendet: Zunge herausschneiden, Scheiterhaufen, das Dictionnaire philosophique portatif von Voltaire gleich mitverdammt und mitverbrannt. An diesem Prozess lässt sich ablesen, wie einig sich Kirche und Parlament waren, sobald es gegen Religionskritiker und die Aufklärung ging und was drohte, wenn man nur einer Seite freie Hand ließ.

Vor diesem Hintergrund führte Voltaire seinen am Ende erfolgreichen Kampf gegen die niederträchtige Kirche und die Offenbarungsreligionen selbst, den er mit seinem Engagement für die Familie Calas, dem Traité sur la Tolérance (1762), seiner zentralen antireligiösen Kampfschrift, dem Philosophische Taschenwörterbuch (1764), eröffnet hatte. Viele andere Schriften folgten nach. Er war sich der Tatsache bewusst, dass ein langer Weg zu beschreiten war, um seinen Schlachtruf „Ecrasez l’Infâme“ zum Ziel zu führen.

Das und nichts anderes ist das Geheimnis von Voltaires antiklerikalen und antichristlichen Kampagnen in den letzten 20 Jahren seines Lebens. Reinhardt ist das nicht unbekannt, er schreibt richtig, (S. 478), dass die Französische Revolution bereits 1766 begonnen habe, aber er schafft es nicht, diese Erkenntnis organisch in die Biographie Voltaires einzubinden und statt die wichtigsten Parteien der französischen vorrevolutionären Zeit vorzustellen, redet er verwaschen von der „Zivilgesellschaft“ (S. 533).
Wenn er Voltaire, der sich in diesem Kampf mit hohem persönlichen Einsatz und mit zahlreichen Schriften engagierte, wiederholt als einen „investigativen Journalisten“ apostrophiert, hat er ganz offensichtlich nicht verstanden, dass es bei dieser Auseinandersetzung um Leben und Tod ging. Nur ganz nebenbei: Voltaire war nicht der „homme de Calas“ (der Mann der Familie Calas) , wie es auf S. 446 heißt, sondern „l’homme aux Calas“, also der, der den Calas zur Seite stand, der im Übrigen nicht unbeträchtliche Geldsummen aus seinem Privatvermögen aufwandte, um die Rechtsanwälte, Fahrten, Unterkünfte, Dokumentenabschriften dieses Prozesses zu finanzieren – auch davon erfährt man bei Reinhardt kein Wort.

Voltaires Tod und die Infame, die niederträchtige Kirche

Voltaire starb am 30. Mai 1778 im Alter von 84 Jahren in Paris, das er viele Jahre nicht mehr hatte betreten dürfen. Sein Leichnam musste heimlich aus der Stadt geschafft werden, denn die Kirche wollte ein ordentliches Begräbnis ihres gefährlichen Gegners verhindern.
Sein Leichnam war einbalsamiert und heimlich in einer sechsspännigen Kutsche aus Paris nach Sellières geschafft worden, um ihn dem Zugriff des Klerus zu entziehen, der ihn auf dem Weg nach Ferney vermutete, abfangen und auf den Schindanger werfen lassen wollte. In der Kapelle dieser Abtei wurde Voltaire am 2. Juni 1778, drei Tage nach seinem Tod, gegen den ausdrücklichen Willen des Bischofs von Troyes bestattet.

Dass Reinhard seinen Lesern diese letzte Niederträchtigkeit der Kirche verschweigt, gehört zu den Tiefpunkten seiner Biographie.