Philosophisches Taschenwörterbuch: Chaîne des Êtres crées – Die Kette der geschaffenen Lebewesen. (Kommentare)

Hintergrund:
Arthur O. Lovejoy, ein Philosoph aus den USA, zeigt in seinem Buch „The Great chain of being: a study of the history of an idea, Harvard, 1933, [dt.: Die große Kette der Wesen, Frankfurt/M: Suhrkamp 1985, 462 S.]“, wie sich der Gedanke von einer Kette oder Stufenleiter der (Lebe-)wesen aus der Antike bis hin zu Locke, Pope und Leibniz, Spinoza entwickelte um sich schließlich im 20. Jahrhundert ganz aus dem Bewusstsein zu verabschieden. Er sagt:
„Die Vorstellung des Kosmos als einer Kette von Wesen … fand ihre weiteste Verbreitung und Zustimmung im 18. Jahrhundert“ (S.221).
Nach Lovejoy waren Addison, King, Bolingbroke, Pope, Haller, Akenside, Thomson, Buffon, Bonnet, Goldsmith, Diderot, Lambert, Kant, Herder, Schiller, Anhänger der Vorstellung von einer ununterbrochenen Kette der Wesen, wogegen Voltaire (und in England Dr. Samuel Johnson (1709 – 1784)) den Angriff auf das ganze Gedankengebäude führten.
Platon stellt die Stufenleiter im letzten Absatz seines Timaios („Nachdem, wie gesagt, Männer entstanden waren…“) so dar, dass Gott zunächst die Männer erschuf. Aus diesen wurden dann in einem zweiten Leben Frauen, Vögel, Landtiere, Wassertiere – in absteigender Reihenfolge, je nachdem, ob sich ein Mann gut oder schlecht betragen hatte.
Vom Christentum wurde der Gedanke einer Stufenleiter, die vom einfachsten Wesen mit zunehmender Vollkommenheit immer weiter hinaufführt, gerne aufgenommen, führte sie doch direkt zum Allmächtigen selbst. Dieser christlichen Vorlage folgten auch Locke (Versuch über den menschlichen Verstand), Spinoza und Leibniz.
Alleine schon wegen dieser weitverbreiteten Hilfsfunktion für die christlichen Gottesbeweiskonstruktionen dürfte die Stufenleitertheorie für Voltaire unsympathisch gewesen sein.

Wie man sich den Übergang von der Materie zu den lebenden Wesen vorzustellen habe, war im Rahmen des Stufenleitermodells im 18. Jahrhundert Gegenstand einer intensiven Debatte um die sogenannte Spontanerzeugung. Dabei wurden erstmals auch naturwissenschaftliche Experimente zur Wahrheitsfindung herangezogen.
Antoni van Leeuwenhoeck (1632 -1723) hatte in Delft durch immer genaueren Glasschliff Lupen entwickelt, mit denen er 1674 erstmals Mikroorganismen sichtbar machen konnte. Er publizierte Zeichnungen von Bakterien, Protozoen und anderen Einzellern, was weltweit als Entdeckung des Bindeglieds zwischen der Materie und dem Lebendigen interpretiert wurde. Man fragte sich, ob diese Mini-Lebewesen direkt, „spontan“ aus der Materie entstanden sein könnten. Das ist, was als Debatte über die Spontanerzeugung die Anfänge der Mikrobiologie begründete.

Es folgen die Experimente von John Needham (1713 -1781) und Lazzaro Spallanzati (1729-1799). Needham schloss aus der Beobachtung, dass in einer Fleischbrühe, obwohl man sie so heiß gekocht hatte, dass alles Lebendige darin abgetötet worden war, trotzdem wieder Leben entsteht, dass dieses Lebendige dort spontan entstanden sein müsse.
Needhams Experiment wurde von Spallanzati widerlegt, der die Fleischbrühe ebenso wie dieser abkochte, anschließend aber luftdicht verschloss – wonach in dieser Fleischbrühe kein „spontanes“ Leben mehr entstand. Damit war bewiesen, dass die Mikroorganismen von außen in die Flüssigkeit hineingekommen sein mussten und dort nicht spontan entstanden waren.
Diderot und d’Alembert, auch d‘Holbach, vertraten interessanterweise die Position Needhams, wohl weil sie ein Argument gegen das Christentum zu liefern schien: Wenn aus der Materie spontan Leben entsteht, ist es nicht Gott, der ihr Leben und Geist eingehaucht hat.
Voltaire vertrat dagegen die (richtige) Position Spallanzatis: Aus toter Materie kann, anders als es die Bibel glauben machen will – nichts Lebendiges entstehen – und schon gar nicht spontan. Aber auch er schlussfolgert eine Art Gottesbeweis: Wenn jedes Lebewesen aus einer Keimzelle (wie der Pflanze aus einem Samenkorn) hervorgeht , stößt man am Ende der „Kette“ auf eine causa finalis, eine göttliche Endursache, die selbst keine weiteren „Verursacher“ hat (siehe Artikel Atheismus).

Trotz des eindeutigen experimentellen Gegenbeweises durch Spallanzati hielten Diderot und d’Alembert, d‘Holbach an ihrer Position fest, was zeigt, wie wenig selbst in diesen aufgeklärten Kreisen die objektive experimentelle Methode als entscheidendes Wahrheitskriterium vorgedrungen war.


Quellen:
Lovejoy, Arthur O., The Great chain of being: a study of the history of an idea, dt.: Die große Kette der Wesen, Frankfurt/M: Suhrkamp 1985, 462 S.) hat die Geschichte der Idee von einer Stufenleiter von der Antike bis ins 18. Jahrhundert nachgezeichnet.
Zur Geschichte der Spontanerzeugung: Paul de Kruif, Mikrobenjäger, Zürich: Orell Füssli 1927

Die folgenden Kommentare zu einzelnen Textstellen beziehen sich mit ihren Seitenangaben auf die von uns bei Reclam herausgegebene Ausgabe des Philosophischen Taschenwörterbuchs (2020):

Anmerkung 1 (S.88, erster Absatz: „Zoophyten”): „Es war in den Augen des 18.Jahrhunderts ein großer Augenblick in der Geschichte der Wissenschaft, als Trembley im Jahre 1739 den Süßwasserpolypen Hydra wiederentdeckte (er war vorher schon von Leeuwenhoeck beobachtet worden), ein Wesen, das sofort als das langgesuchte fehlende Glied zwischen Pflanzen und Tieren begrüßt wurde. – Aristoteles‘ nebulöse Zoophyten konnten dieser Aufgabe nicht länger gerecht werden (Lovejoy, Die große Kette, S. 280f).“ Abraham Trembley (1710 – 1784) war ein Genfer Zoologe, der sich intensiv mit dem Süsswasserpolpypen Hydra beschäftigte.

Anmerkung 2 (S.88, zweiter Absatz: „.. zwischen ihm und Gott befindet sich die Unendlichkeit”):
Der Absatz ist nicht nur eine Polemik gegen die christliche Selbstüberhöhung, sondern zeigt darüberhinaus Voltaires Abneigung, die Stufenleiter mit Werturteilen zu verknüpfen, so dass ein Wesen auf der höchsten Stufe mehr wert wäre als eines auf der unteren.

Anmerkung 3 (S.88, unten und 89 oben: „.. Wo ist also die Kette?….“):
Voltaire nimmt die Vorstellung von einer Kette wörtlich, wenn es also ein Element nicht mehr gibt, bricht die Kette auseinander. Das Argument zeigt, dass Voltaire dem Konzept einer evolutionären  Abstammungslehre nicht folgt. Daher ging es ihm auch nie darum, das Bindeglied zwischen Affen und Menschen zu suchen und womöglich eine oder mehrere Untermenschenrassen zu (er-)finden. Affen und Menschen können durchaus nebeneinander und gleichwertig exisistieren, gewisse Varietäten unter den Menschen müssen nicht der einen oder anderen über- oder untergeordnet werden.
Damit setzt er sich in Gegensatz zu Leibniz („Die Natur macht keine Sprünge“) und zu d’Alembert („Die Natur bildet ein Kontinuum, das alle Wesen wie eine Kette miteinander verbindet“ ).  

Anmerkung 4 (S.89, vierter Absatz: „Jenseits der Menschen, bringen Sie, götttlicher Platon, im Himmel einige himmlische Wesen unter…“): in Phaidros 246e-247c. In Phaidon 110-111 beschreibt Platon die Existenz einer „höheren Erde“

Anmerkung 5 (S.89 unten/90 oben: „Welche Abstufung besteht, bitte, zwischen Ihren Planeten?”):
Die kosmologischen Vorstellungen Plantons finden man z.B. im Timaios 38d (pdf).

Philosophisches Taschenwörterbuch: Chaîne des Événements – Die Kette der Ereignisse. (Kommentare)

Hintergrund:
Unter dem allmächtigen Dunkelschirm der Kirche war viele Jahrhunderte in die Köpfe eingehämmert, dass alles Leben streng bestimmt ist, dass Gottes Wille über Geburt, Tod, Armut, Reichtum des Menschen entscheidet und eigenes, individuelles Zutun, eigene Anstrengungen völlig überflüssig sind, weil ohnehin alles vom Schicksal vorherbestimmt ist in das man sich ohne zu murren fügen sollte. Man nennt diese Ideologie den theologischen Determinismus.

Mit zunehmendem Murren, durch die wachsende Anzahl von Menschen, die sich von Untertanen zu selbstbewussten Bürgern entwickelten, verlor der theologische Schicksalsglauben seine ideologische Kraft, die Erforschung der Natur und der sie wirklich bestimmenden Gesetze zeigte eine andere Wirklichkeit als die der christlichen Unterdrücker. Die Idee individueller Freiheit und Selbstbestimmung trat hervor, nicht über Nacht natürlich, aber dank Voltaire und den anderen Aufklärern stetig und unaufhaltsam, bis in der großen Französischen Revolution das neue, bürgerlich-antiklerikale Denken die Oberhand gewann.

Zunächst löste ein naturwissenschaftlicher Determinismus den theologischen ab, an die Stelle Gottes traten die Naturgesetze, die alles Leben streng bestimmten. Diese Argumentation ist am deutlichsten bei Leibniz, in seiner Lehre vom zureichenden Grund, zu finden. Voltaire und Emilie du Châtelet hingen ihr selbst, über den Umweg Christian Wolffs, eine zeitlang an.

Leibniz: Für jedes Ereignis gibt es einen zureichenden Grund, der es hervorgebracht hat und dessen Wirkung es ist. Von den Ursachen, die selbst Wirkungen anderer Ursachen sind, kommt man schließlich bis auf die Endursachen, also so ziemlich bis zu den Anfängen, zurück. Am Anfang aber steht natürlich Gott, weil er der angenommene erstursächliche Schöpfer aller Dinge und Ereignisse, Naturgesetze sei, der, sozusagen „nach bestem Wissen und Gewissen“, die beste aller möglichen Welten geschaffen habe.

Worum es Voltaire geht, lässt sich an einem Beispiel demonstrieren: „Warum wachen wir morgens auf? – Eventuell, weil wir genügend ausgeruht sind? Was hat dann aber schlussendlich das Aufwachen bewirkt? War es der einsetzende Regen, oder, bei offenem Fenster, das Zwitschern eines Vogels, das Beginnen des morgendlichen Berufverkehrs, das Schlagen einer Tür, das Eindringen eines Sonnenstrahls? Welche dieser Ursachen war aber die entscheidende? Oder genauer gefragt: Welches der Elemente eines Ursachenkomplexes ist oder war das entscheidende? Ist der bekannte Tropfen, der das Glas zum Überlaufen bringt, die Ursache für das Überlaufen, oder war es der schon seit langem, immer weiter tropfende Wasserhahn?

Die folgenden Kommentare zu einzelnen Textstellen beziehen sich mit ihren Seitenangaben auf die von uns bei Reclam herausgegebene Ausgabe des Philosophischen Taschenwörterbuchs (2020):

Anmerkung 1 (S.84, zweiter Absatz: „Das System der Notwendigkeit …wurde zu unserer Zeit … von Leibniz erfunden”: In ihren Institutions de physique (Paris 1740; dt.: ,Der Frau Marquisinn von Chastellet Naturlehre an Ihren Sohn, Renger: Halle, 1743) stellte Voltaires Lebensgefährtin Emilie du Châtelet Leibniz‘ Lehre vom zureichenden Grund vor: “Alles, was existiert, bedarf eines anderen durch das es existiert, auf das man seine Existenz zurückführen kann“ und alles Denken beruht auf dem Satz vom zureichenden Grund weil: „Niemand legt sich auf etwas mehr als auf etwas anderes fest, ohne dass es dafür einen hinreichenden Grund gäbe, der ihn annehmen lässt, dass dieses eine dem anderen vorzuziehen sei” (§ 8).
In seiner Korrespondenz mit Friedrich dem Großen, damals (1738) noch Kronprinz, überzeugt ihn Voltaire von seiner skeptischen Sicht vom Determinismus Leibniz’ und Christian Wolffs, während auf der anderen Seite Manteuffel und sein Kreis vergeblich versuchten, Friedrich für ihre Interpretation, einer Art Verschmelzung von Aufklärung und Christentum, zu gewinnen (siehe dazu: J.Bronisch, Der Kampf um Kronprinz Friedrich, Wolff gegen Voltaire, Landt: Berlin 2011, S.61 ff).
Insbesondere ist es für Voltaire klar, dass, wenn immer wieder das kleinste Ereignis eine gewaltige Wirkung hat (z.B. der Tropfen, der das Glas zum Überlaufen bringt), es mit dem zureichenden Grund nicht allzu weit her sein kann: Man kann oft genug Ereignisse nicht aus einer eindeutigen Ursache herleiten. Wenn das so ist, landet man beim immer weiter Zurückgehen der Ursachensuche auch nicht zwangsläufig bei Gott.

Anmerkung 2 (S.85, vierter Absatz: „.. aber nicht jede Ursache hat ihre Wirkung”):
Gerade wenn es einen Ursachenkomplex gibt, also mehrere Elemente, die nur gemeinsam ein Ereignis bewirkten, kann umgekehrt nicht von jedem einzelnen auf die spezielle Wirkung geschlossen werden. David Hume bearbeitete dieses Thema ausführlich und kam zu dem Schluss, dass die Vorhersagbarkeit von Ereignissen aufgrund von Erfahrungen zwar möglich ist, aber allenfalls in den Grenzen von mehr oder weniger wahrscheinlichen Annahmen (siehe dazu auch unsere Anmerkungen zum Artikel Gewissheit).

Philosophisches Taschenwörterbuch: Certain, Certitude – Gewiss, Gewissheit. (Kommentare)

Hintergrund:
Voltaire bezieht sich in seinem, in Anbetracht der Bedeutung dieser zentralen philosophischen Fragestellung nach der Gewissheit menschlicher Erkenntnis, sehr kurzen Artikel kritisch auf den 1752 im zweiten Band der Enzyklopädie erschienenen, dagegen sehr langen (26 seitigen) Artikel Gewissheit (frz.:Certitude, engl.:Certainty) des Abbé de Prades. Jean-Marie de Prades (1720-1782), der mit Diderot befreundet war, hatte in seiner Dissertation zu zeigen versucht, dass man sogar auf Grundlage der sensualistisch-empirischen Grundthese Lockes („Nichts ist im Verstand, was nicht vorher in den Sinnen gewesen wäre“), die biblische Behauptung, dass Jesus Wunder getan habe, rechtfertigen kann. Er war mit dieser Idee auf den erbitterten Widerstand der Kirche gestoßen, die keine Ruhe gab, bis man de Prades sämtliche universitären Titel aberkannt und ihn 1752 außer Landes vertrieben hatte (Friedrich der Große nahm ihn als seinen Vorleser in Berlin auf und rettete ihn vor dem sicheren Untergang).
Die Kirche lehnte den Empirismus-Sensualismus als Irrlehre ab, insbesondere, weil er den christlichen Glauben an eine vernunftbegabte, von Gott eingepflanzte Seele ablehne, die alleine den Menschen von einem Tier und von einer Maschine unterscheide. Eine Position, die sie, Descartes missbrauchend, an den französischen Universitäten als allein gültige Lehre durchgesetzt hatte.
In seinem Enzyklopädie-Artikel Certitude versucht de Prades nun eine Art Kombinationslehre von Zeugenaussagen zu liefern und behauptet, dass eine Tatsachenbehauptung um so glaubwürdiger sei, je mehr Menschen (also tout Paris) davon berichteten. Auch Erzählungen über Wundertaten erscheinen ihm als belegt, wenn nur die Berichtenden glaubwürdig waren. So kommt er – auch darin John Locke folgend – schließlich zur Einschätzung, dass die Evangelien hohe Glaubwürdigkeit beanspruchen könnten, weil viele ernsthafte Menschen zu biblischen Zeiten über das Leben Jesus berichtet hätten und widerspricht damit dem Herausgeber Diderot. Diderot hält (in seinen Pensées philosophiques) weder die Evangelien, noch Berichte über Wunder, noch Tatsachenberichte bloß deshalb für glaubwürdig, weil sie von Vielen geteilt werden. Eine höhere Anzahl von Zeugen erhöht die Glaubwürdigkeit einer Aussage nicht (siehe unten, Anmerkung 6).

John Locke An Essay Concerning Human Understanding (1689 dt.: Versuch über den menschlichen Verstand)
Zur Gewissheit der Offenbarung:
„Nehmen wir zum Beispiel an, vor einigen Generationen wäre geoffenbart worden, dass die Summe der drei Winkel eines Dreiecks gleich zwei rechten sei. Nun könnte ich der Wahrheit dieses Satzes auf Grund der Glaubwürdigkeit der Überlieferung, dass er geoffenbart worden sei, zustimmen. Diese würde mir jedoch nie eine ebenso große Gewissheit geben, wie die Erkenntnis der Wahrheit auf Grund einer Vergleichung und Messung meiner eigenen Ideen von zwei rechten Winkeln und der drei Winkel eines Dreiecks“ (Essay, Kap.4, §22).
und :
„Daher kann kein Satz als göttliche Offenbarung anerkannt werden, ..wenn er unserer klaren intuitiven Erkenntnis widerspricht“ (z.B. dass derselbe Körper nicht gleichzeitig an zwei Orten sein kann). (Essay, Kap.18, §5)
Locke setzte sich damit in diametrale Opposition zur katholischen Lehre, die bereits im 5. Laterankonzil (1512–1517) festgelegt: hatte, dass kein Satz in der Philosophie wahr sein kann, wenn er im Gegensatz zur christlichen Glaubenslehre steht. Die Kirche fügte das Werk ab 1737 ihrer Liste der verbotenen Bücher hinzu.

David Hume (1711-1764): An Enquiry Concerning Human Understanding. (1748), dt. Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand).
Zur Gewissheit von Erfahrungstatsachen:
Wenn eine Billardkugel mittig auf eine zweite trifft, wird diese sich wegbewegen, während jene zum Stehen kommt. Zwar wird man sagen, dass die Fortbewegung der zweiten mit diesem Stoß in Zusammenhang stand, aber kann man auch sagen, dass das Auftreffen der ersten die Fortbewegung der zweiten bewirkte und falls ja, wäre man berechtigt, diese Wirkung als notwendige oder das ganze gar als einen gesetzmäßigen Ursache-Wirkungszusammenhang zu bezeichnen? (Enquiry, E61)
Und außerdem: „Bei einigen Ereignissen hat es sich gezeigt, dass sie beständig in Verbindung stehen; andere zeigten sich als veränderlicher und manchmal unsere Erwartungen enttäuschend, so dass es in unserem Urteil über Tatsachen alle erdenklichen Grade der Sicherheit gibt, von der höchsten Gewissheit bis zur niedersten Art moralischer Evidenz (Enquiry, Über Wunder, E90).
Hume hatte die zweifelhafte Ehre, dass ab 1761 alle seine Werke auf die Liste der verbotenen Bücher der Catholica kamen.
Voltaire besaß die Werke Humes im Original, teilweise auch in französischer Übersetzung und stand seinen Auffassungen sehr nahe.

Die folgenden Kommentare zu einzelnen Textstellen beziehen sich mit ihren Seitenangaben auf die von uns bei Reclam herausgegebene Ausgabe des Philosophischen Taschenwörterbuchs (2020):

Anmerkung 1 (S.81, Ein falscher Taufschein: „Sie haben immer noch Gewissheit von etwas, das nicht so ist“): Schriftliche Dokumente können keine absolute Gewissheit beanspruchen, sie kommen über eine bestimmte Wahrscheinlichkeit nicht hinaus.
Voltaire bezieht sich auf Pierre Bayle, dessen historische Quellenkritik Vorbild für die Geschichtsschreibung Voltaires und für die Aufklärung insgesamt war (vgl. dazu: Sandra Richter, Öffentliche Urteilskräfte und ihr Literaturarchiv (pdf), Zeitschrift für Ideengeschichte, 2019).
Auch Voltaires eigener Taufschein enthielt im Übrigen eine falsche Geburtsangabe. War er nach eigener Aussage am 20.2.1694 geboren, so trägt sein Taufschein, dem die meisten seiner Biographen folgen, das Datum 21.11.1694.

Anmerkung 2 (S.81, dritter Absatz: „Ist die Sonne aufgegangen, ist sie untergegangen?“): Für Ptolemäus (Almagest, 140 n.u.Z.) schien es evident, dass sich die Sonne um die Erde dreht, weil sie offensichtlich im Laufe eines Tages über den Himmel wandert (geozentrisches Weltbild).
Erst Kopernikus bewies, dass das Gegenteil richtig ist. Und Newton lieferte durch die Entdeckung der Gravitationsgesetze (auf das Weltall angewendet) die mathematischen Grundlagen zur Berechnung der Planetenbewegungen. Voltaire hatte Newtons Werk zusammen mit seiner Lebensgefährtin Emilie du Châtelet in Frankreich bekannt gemacht (Elemente der Philosophie Newtons (1748), siehe hier insb. Abschnitt 3.4. „Dass die Gravitation und die Anziehung den Lauf aller Planeten lenken“).
Den Übergang vom geozentrischen zum heliozentrischen Weltbild erläutert allgemeinverständlich: https://astrokramkiste.de/heliozentrisches-weltbild.

Anmerkung 3 (S.81, vierter Absatz: „Die Zauberei, das Wahrsagen…sind die sicherste Sache der Welt gewesen“): Voltaire bezieht sich auf David Humes Enquiry (Kapitel X, „Über Wunder“).

Anmerkung 4 (S.82, zweiter Absatz: „…doch die mathematische Gewissheit ist unwandelbar und ewig“):
John Locke: „Alle mathematischen Ausführungen über die Umwandlung eines Kreises oder Kegelschnittes in ein Viereck oder über andere Theile der Mathematik beziehen sich nicht auf das Dasein dieser Gestalten, vielmehr bleiben ihre Beweise, die nur von ihren Vorstellungen bedingt sind, unverändert gültig, mag ein Kreis oder Viereck in der Welt bestehen oder nicht“ (Essay, Kap.4 Von der Wirklichkeit des Wissens, §8).
Und auch Hume unterscheidet die Aussagen in der Geometrie (Satz des Euklid), Algebra und Arithmetik, die durch bloße Denktätigkeit geprüft werden können, deren Gewissheit unabhängig davon bestehen bleibt, „ob im Weltall etwas existiert“ von Tatsachen- oder Existenzbehauptungen. Eine Tatsache kann sein oder nicht sein, auch das Gegenteil kann stimmen, ohne dass es zu einem Widerspruch käme. So ist diese Art von Aussagen stets mehr oder weniger wahrscheinlich. Aussagen in der Geometrie können dagegen absolute Gewissheit beanspruchen (Enquiry, E41).

Anmerkung 5 (S.82, dritter Absatz: „Ich existiere, ich denke, ich empfinde Schmerz“):
John Locke: „Die Gewissheit der inneren Wahrnehmung ist der geometrischen ebenbürtig.
Denn nichts kann offenbarer für uns sein als das eigene Dasein. Ich denke, ich überlege, ich fühle Lust oder Schmerz; kann all dies offenbarer für mich sein als das eigene Dasein? Selbst wenn ich alles Andere bezweifle, so lässt mich dieses Zweifeln mein eigenes Dasein wahrnehmen und daran nicht zweifeln. Denn wenn ich Schmerz empfinde, so habe ich offenbar eine ebenso sichere Wahrnehmung von meinem eigenen Dasein, wie von dem gefühlten Schmerz; und wenn ich weiß, dass ich zweifle, so habe ich eine ebenso sichere Wahrnehmung von dem zweifelnden Dinge, als von dem Gedanken, den ich Zweifel nenne. So lehrt uns die Erfahrung, dass wir ein anschauliches Wissen von unserm eigenen Dasein haben, und eine innere untrügliche Wahrnehmung, dass wir sind. Bei jedem einzelnen Fühlen, Denken oder Überlegen sind wir uns des eigenen Seins bewusst, und hier fehlt uns nichts an der höchsten Gewissheit“. (Essay, Kap.4 Von der Wirklichkeit des Wissens, §3).

Anmerkung 6 (S.82, vierter Absatz:„Mit der Gewissheit, die durch Augenschein übermittelt wird… ist es nicht dasselbe“):
Voltaire folgt hier John Locke und David Hume die sich mit der Gewissheit von Aussagen über die Außenwelt beschäftigten. Sie können mehr oder minder wahrscheinlich sein. Nach Hume sind Berichte über Wunder abzuweisen, wenn sie den mit höchster Wahrscheinlichkeit versehenen menschlichen Grunderfahrungen widersprechen -und das tun sie in aller Regel.
Voltaire widerspricht damit explizit auch de Prades, der in seinem Enzyklopädie-Essay den Anhängern des Skeptizismus zurief: „Ihr erkennt die Existenz der Stadt Rom an, an der Ihr nicht zweifeln könnt“ und damit bewiesen zu haben glaubte, dass auch Aussagen über die Außenwelt absolute Gewissheit beanspruchen könnten.
Diderot hatte zur Bedeutung der großen Zahl von Zeugen geschrieben (Pensées philosophiques (XLVI )): „Ein ganzes Volk, werden Sie sagen, ist Zeuge dieser Tatsache und Sie wagen es, sie zu leugnen? Ja, ich traue es mich, solange sie mir nicht durch die Autorität von jemandem bestätigt wird, der nicht zu Ihrer Partei gehört, und ich nicht weiß, dass dieser jemand unfähig zu Fanatismus und Verführung war. Mehr noch: Wenn mir ein Autor von ausgewiesener Unparteilichkeit erzählt, dass sich in der Mitte einer Stadt ein Abgrund auftat; dass die Götter, die zu diesem Ereignis befragt wurden, antworteten, dass er sich wieder schließen werde, wenn man das Wertvollste, was man besitzt, hineinwirft; dass ein tapferer Ritter sich selbst hineinstürzte und dass sich dadurch das Orakel erfüllte: Ich werde ihm viel weniger glauben, als wenn er einfach gesagt hätte, dass sich ein Abgrund auftat und man viel Zeit und Arbeit verwendete, um ihn wieder zu füllen. Je weniger wahrscheinlich eine Tatsache ist, desto mehr verliert das Zeugnis der Geschichte an Gewicht. Ich würde ohne weiteres einem einzigen ehrlichen Mann glauben, der mir mitteilt, dass Seine Majestät soeben einen vollständigen Sieg über die Alliierten errungen hat; aber wenn mir ganz Paris versichern würde, dass in Passy ein Toter wieder zum Leben erwacht ist, würde ich das nicht glauben. Ob ein Historiker uns etwas aufdrängt oder ein ganzes Volk sich irrt, macht es nicht zum Wunder“ (dt., übers. Correspondance Voltaire).

Anmerkung 7 (S.83, erster Absatz: „Man hat in der Enzyklopädie eine sehr amüsante Geschichte abgedruckt“):  Voltaire verweist am Ende seines Artikels explizit auf den Adressaten seiner Ausführungen zum Thema Gewissheit. Dass er de Prades sehr schonend kritisiert, mag man der Tatsache zuschreiben, dass dieser als Opfer der katholischen Kirche 1752 nach Preußen geflüchtet war und nicht mehr in sein Heimatland zurückkehren durfte.

Anmerkung 8 (S.83, letzter Absatz:„Der andere Autor… schreibt gegen sich selbst und wollte auch lachen“): Dieser andere Autor ist Diderot, der als Herausgeber der Enzyklopädie den Artikel Gewissheit von de Prades in seiner Vor- und Nachbemerkung zustimmend, überschwänglich positiv kommentiert, obwohl de Prades Argumentation der seinigen diametral entgegengesetzt ist. Voltaire interpretiert dies als ironische Scharade Diderots.

Philosophisches Taschenwörterbuch: Bien. Souverain Bien – Das Gute. Das Höchste Gut (Kommentare)

Hintergrund:
Thomas Hobbes (1588 -1679) stellt sich der Idee vom „Guten an sich“ entgegen. Nach ihm liegt das Gute im Begehren und er stellt fest, dass wir nach immer weiterem „Guten“ begehren. Das Ende des Begehrens wäre gleichbedeutend mit dem Tod (Vom Menschen XI.15). Für John Locke (1632 – 1704) ist das Gute ganz einfach das, was Lust erregt (Versuch über den menschlichen Verstand II,21 §42 ff). Ähnlich ist auch der kleine Essay von Voltaires langjähriger Lebensgefährtin Emilie du Châtelet „Rede über das Glück“ zu verstehen, der bis heute nichts von seiner lebendigen Überzeugungskraft verloren hat: Glück wird darin nicht ethisch moralisch überhöht, sondern als Moment erstrebenswerten Wohlgefühls verstanden, von dem wir möglichst viele erleben sollten, um unser Leben angenehm zu machen. Emilie du Châtelet war auch die Erstübersetzerin der Bienenfabel von Manedeville, in der er behauptet, dass persönliche Tugend (Genügsamkeit, Friedfertigkeit) für den Fortschritt und die Prosperität der Gesellschaft weniger förderlich seien als zum Beispiel Luxus und Verschwendung.

Ganz anders die Philosophen der Antike, die sich mit dem, was als das höchste Gut anzusehen sei, auseinandersetzten. Was Menschen erstreben, was sie erreichen wollen, kann man als „das Gute“ bezeichnen. Es gibt Güter, die man nicht um ihrer selbst willen erstrebt, sondern um ein weiteres, höheres zu erreichen. Reichtum zum Beispiel wäre solch ein Gut, mit dem man sich anderes sichern will, etwa Wohlstand oder persönliche Unabhängigkeit. Welches ist aber dann das höchste aller Güter, das „summum bonum“? Und: ist es für alle das gleiche, oder ist es für jeden etwas anders?
Platon meint, Gerechtigkeit und Schönheit wären höchste Güter, denn sie erstrebe man um ihrer selbst willen und behauptet, dass wir die Idee eines absolut Guten in uns tragen, nach dem wir unser Handeln ausrichten. Die Vorstellung vom Höchsten Gut sei wie die Sonne, die alles erleuchtet, sie sei die Antriebskraft allen menschlichen Handelns (Politeia Kapitel VI).

An diese Vorstellung Platons vom höchsten Gut brauchte das Christentum nur seinen Gott anzuheften, als ein „summum bonum“, dem man zustrebt, das alles Handeln bestimmt und dem man schlussendlich im Jenseits begegnet. Ähnlich formulierte es Augustinus (De civitate Dei, [dt. Vom Gottesstaat], XIX).

In seinen kurzen Artikeln De la chimère du souverain bien und auch in Le songe de Platon aus dem Jahr 1756 kritisiert Voltaire die Ideenlehre Platons, weil in ihr Vorstellungen für Realität ausgegeben werden, die nur in Platons Theorie exisitieren.

Abschließend sei auf den Artikel „Bien“ des Abbé Claude Yvon in Diderot’s Enzyklopädie hingewiesen, der in der Tugend das höchste Gut erblickt und behauptet, dass einem das tugendhafte Leben post mortem im Paradies vergütet würde.

Die folgenden Kommentare zu einzelnen Textstellen beziehen sich mit ihren Seitenangaben auf die von uns bei Reclam herausgegebene Ausgabe des Philosophischen Taschenwörterbuchs (2020):

Anmerkung 1 (S.68, zweiter Abschnitt: „[Das höchste Gut] .. uns ergötzt und unfähig macht noch etwas anderes zu empfinden“) Wie Voltaire an anderer Stelle schrieb : „Die Philosophie verspricht das Glück, aber die Sinne verschaffen es“ (carnets), so hält er sich auch hier an das sinnliche Empfinden: Das Gute ist mit der Lust verwandt, das Böse mit dem Schmerz.

Anmerkung 2 (S.68, dritter Abschnitt: Fabel von Kantor] .Die Fabel positioniert das Gute in die Nähe dessen, was Lust erregt und stammt ursprünglich von Sextus Empiricus (Kap. 3, ), wird aber auch in dem Enzyklopädieartikel (s.o.) wiedergegeben.

Anmerkung 3 (S.69, Voltaire lehnt die Auffassung von der Tugend als dem höchsten Gut ab. Tugendhaft zu sein, besteht für ihn allein darin, dem Nächsten Gutes zu tun (-> Artikel Vertu – Tugend).

Philosophisches Taschenwörterbuch: Bêtes – Tiere (Kommentare)

Hintergrund:
Um sich nicht gegen die Kirche richten zu müssen, für die Tiere seelenlos und dem Menschen untertan sind, kritisiert Voltaire den auch unter Aufklärern hochgeschätzten Descartes.
Descartes spricht im 5. Abschnitt seines Discours sur la méthode 1637 (s. Werke VIII, n. Julius Kirchmann S. 65: Abhandlung über die Methode) den Tieren ab, über Vernunft zu verfügen und betrachtet sie als nach einem fixen Bauplan verfertigte, maschinengleiche Lebewesen. Gott schuf sie in einer Perfektion, wie sie von Menschen nicht hergestellt werden könnten. Indem er aber die Vernunft (eine denkende Seele) für die Menschen reservierte, hob er sie aus dem Tierreich heraus und ermöglichte ihnen, sich ihre Lebensweise aus eigenem Antrieb (Willen) frei zu gestalten. Tiere dagegen folgen ihrem angelegten Bau- und Funktionsplan, aus dem sie nicht ausbrechen können.
Auch antworten Menschen auf äußere Ereignisse in ganz differenzierter Weise, während Tiere darauf immer in der genau festgelegter Weise reagieren:

«Car, au lieu que la raison est un instrument universel, qui peut servir en toutes sortes de rencontres, ces organes ont besoin de quelque particulière disposition pour chaque action particulière ; d’où vient qu’il est moralement impossible qu’il y en ait assez de divers en une machine, pour la faire agir en toutes les occurrences de la vie, de même façon que notre raison nous fait agir».

Descartes, Discours

Auch die den Tieren fehlende Sprache sieht Descartes in diesem Zusammenhang: selbst die einfältigsten, oder gar geistig behinderten Menschen können Wörter kombinieren, um ihre Gedanken mitzuteilen. Selbst Taubstumme erfinden zu diesem Zweck Zeichen. Tiere vermögen solches – wozu man nur wenig Vernunft benötigte – nicht; was zeigt, dass sie gar nicht über Vernunft verfügen.

Das Besondere des Menschen ist also, dass er über Denkvermögen verfügt. Es muss geschaffen worden sein, da es niemals aus der Materie hervorgegangen sein kann. Descartes geht davon aus, dass dieses Geschaffene eine denkende Seele ist, die Gott der Materie eingepflanzt hat. Es folgt der bemerkenswerte Hinweis, dass Gottesleugner, indem sie meinen, Tiere hätten eine Seele, die von der gleichen Natur wie die der Menschen sei, auch annehmen müssten, dass Menschen wie Tiere nach dem Tode nichts zu fürchten oder zu hoffen haben. Dies sei ein Irrtum, der schwache Geister mehr als alles andere vom Pfad der Tugend ableite.

Zunehmend wurde im 18. Jhdt. die strikte Trennung zwischen Mensch und Tier abgelehnt, mehr noch, der Mensch geriet nun auch als ein Mängelwesen in den Blick, das, verglichen mit den Tieren, oft sehr viel schlechter an die Umweltbedingungen angepasst ist (Herder: „Als nacktes, instinkloses Tier betrachtet, ist der Mensch das elendeste der Wesen“, Abhandlung über den Ursprung der Sprache). Das ist aber gerade der Grund für die Höherentwicklung: Wer von Natur aus Mangel leidet, entwickelt Verstandeskräfte, um ihn zu beheben.

Zur Debatte über das Wesen der Tiere im 18 Jhdt. (eine gute Übersicht gibt Ulrich Richtmeyer in La Mettrie, Die Tiere sind mehr als Maschinen, 2021):

o kurzer Artikel „Bêstes“ aus dem Jahr 1747 im Journal de Trévoux der Jesuiten („Tiere sind ohne Vernunft“, berichtet über die Antike, die den Tieren die Fähigkeit zu Denken attestiert und referiert zeitgenössische Veröffentlichungen zum Thema).
o Paradies, Ignace-Gaston, Discours de la connaissance de bêtes (1672), nimmt an, dass Tiere über Intelligenz und Gefühle verfügen, aber wir über sie nicht genug wissen und lehnt die Maschinenthese ab
o Racine, Louis, Première épître sur l’âme des bêtes, lehnt die Maschinenthese Descartes ab
o La Mettrie, L’Homme machine 1747 (dt. Der Mensch eine Maschine, 1875) indem er Mensch und Tier betrachtet, als seien sie Maschinen, fokussiert er auf die körperlichen Vorgänge, die sich qualitativ fast gar nicht unterscheiden. Damit brachte er die religiöse Umgebung gegen sich auf und musste aus Frankreich und Holland fliehen)
o La Mettrie, Julien Offray de, Die Tiere sind mehr als Menschen, hrsg. Ulrich Richtmeyer Berlin: Kadmos, 2021
o Bayle, Pierre, Artikel Rorarius im Dictionnaire historique et critique. v. 1697 (dt. Rorarius‚ im Historisch kritischen Wörterbuch, 1744),
Der Artikel bezieht sich auf das Werk Quod animalia bruta (1654) von Hieronymus’ Rosarius, kath. Nuntius in Ungarn, der Tieren Vernunft zusprach und meinte, sie würden sich ihrer sogar besser bedienen als die Menschen.
o Reimarus, Hermann Samuel, Allgemeine Betrachtungen über die Triebe der Tiere, 1762. In seinem der Aufklärung verbundenen Ansatz wandelt er auf den Spuren von La Mettrie, indem er Tiere und Menschen, der christlichen Lehre ganz entgegengesetzt, als wesensgleich betrachtet.

Philosophisches Taschenwörterbuch: Beau, Beauté – Schön, Schönheit (Kommentare)

Hintergrund:
Voltaires Artikel Schönheit scheint aus dem religionskritischen Rahmen des Philosophischen Taschenwörterbuchs herauszufallen. Zum Beispiel hätte das Schöne als Antithese zu einem Christentum entwickelt werden können, das die Menschheit jahrhundertelang mit eintönigen Ikonen und monotoner Musik langweilte. Davon ist in dem Artikel nicht die Rede. Auch nicht von Leibniz, der seiner Vorstellung von Gottes Schöpfung als der „besten aller möglichen Welten“ die von der „vollkommensten Schönheit, die möglich ist“, zur Seite stellte (GP VII,74, 76).

Stattdessen geht es ausschließlich darum, die Idee vom Absolut Schönen, wie sie seit Platon (Phaidros, Hippias maior, Symposium) herumspukt, ad absurdum zu führen. In der Renaissance perfektionierte die sogenannte Neuplatonische Schule Platons Idee vom Absolut Schönen zu einem Stufenmodell, auf dem man vom irdisch Schönen zum Absolut Schönen gelangt, und weiter auf allerhöchster Stufe zum Christengott selbst (Es war nicht von ihnen beabsichtigt, aber vielleicht entstand so eine Art ideologischer Schutz, unter dem – christlich verbrämt – Meisterwerke wie die Michelangelos, etwa der nackte David mit seinem schönen Po, entstehen konnten, ohne dass Papst und Sittenwächter etwas dagegen unternehmen konnten. Dass Michelangelo seine Kunstwerke mit religiösem Antrieb schuf, zeigt D. Krunic in Michelangelo Buonarotti – Seine Dichtungen).
Diese religiöse Überhöhung des Schönen und ihre philosophische Rechtfertigung ist es, gegen die Voltaire seinen kurzen Artikel schreibt.
Was wir als schön bezeichnen, ist bereits auf der „untersten Stufe“ relativ, wie kann es da sein, dass auf höherer Ebene, wenn es um Kunstwerke geht, ein alle Kulturkreise übersteigender Begriff des Schönen existierte? Weil relativ ist, was wir als schön empfinden; kann es eine allen Menschen gemeinsame Idee des Schönen nicht geben und schon gar nicht das religiös aufgeladene Absolut Schöne.

Die Debatte, was das ist, das wir als das Schöne bezeichnen, worauf also unser ästhetisches Urteil gründet, gewann im 18. Jahrhundert deutlich an Fahrt. Voltaire beschäftigte sich, anders als Diderot, nicht systematisch mit dem Thema, wenn er auch zur Schönheit in der Dichtkunst einiges verfasst hatte (etwa: Essai sur la poésie épique, 1732). Er hatte aber den Eindruck, dass sich die Argumente der Philosophen im Kreise drehen (wie bei Hutcheson: Schön ist, was gefällt, es gefällt weil es Lust erregt. Lust erregt es, weil wir einen inneren Sinn für das Schöne haben…).

Im 18. Jhdt zum Thema erschienen:
– Crousaz, Jean-Pierre de, Traité du beau, Amsterdam: François l‘Honoré 1715, 302 S.
– André, Yves Marie, Essai sur le beau 1741
– Hutcheson, Francis, Original of our Ideas of Beauty and Virtue (dt. Über den Ursprung unserer Ideen von Schönheit und Tugend) London, 1726.
– Diderot, Denis, Beau, in: Encyclopédie, Bd 2, 1752, S. 169–181, siehe: The Encyclopedia of Diderot & D’Alembert, Collaboration Translation Project engl./frz.
– Dubos, Jean Baptiste, Réflexions critiques sur la poésie et la peinture, Paris 1719 dt.: Kritische Betrachtungen über die Poesie und Mahlerey, Kopenhagen : Mumm, (1760 -1761), 3 Bd. 461 S., 526 S., 287 S.
– Hume, David, Of the standard of Taste, dt.: Von der Grundregel des Geschmacks, in: Vier Abhandlungen, Quedlinburg und Leipzig, bey Andreas Franz Biesterfeld, priviligirten Buchhändler, 1759.
– Batteux, Charles, Les beaux-arts réduits à un même principe, Paris 1746, dt.; Einleitung in die Schönen Wissenschaften, Dritte und verbesserte Auflage, Leipzig: Weidmanns Erben und Reich, 1760, 4 Bd.

Die folgenden Kommentare zu einzelnen Textstellen beziehen sich mit ihren Seitenangaben auf die von uns bei Reclam herausgegebene Ausgabe des Philosophischen Taschenwörterbuchs (2020):

Anmerkung 1  (S.63, erster Satz: „Fragen Sie eine Kröte, was Schönheit ist…“): Hinter dieser scheinbar so launigen Einleitung steckt die wichtige Erkenntnis, dass, was wir (visuell) als schön empfinden, wesentlich durch die Proportionen und Beschaffenheiten unseres Körpers bestimmt wird. Montesquieu (lettres persanes) formuliert es, allgemeiner, so: „Wir beurteilen die Dinge immer nur durch einen insgeheimen Rückbezug auf uns selbst“.

Anmerkung 2 (S.63, zweiter Absatz: „Wenden Sie sich schließlich an die Philosophen, sie werden Ihnen mit verworrenem Geschwätz antworten..“): Voltaire hält es nicht für notwendig, sich hier mit den Gedanken und Theorien der Philosophen auseinanderzusetzen. Das tat Diderot ausführlich in seinem Artikel Beau der Enzyklopädie, wo er sich insbesondere mit Francis Hutcheson (1694 – 1758) beschäftigt, der von einem angeborenen Sinn für das Schöne ausgeht.

Anmerkung 3 (S.63, dritter Absatz: „welch ein schönes Medikament…“): Voltaire zeigt, dass die Zweckmäßigkeit oder Nützlichkeit nicht, wie Shaftesbury glaubt, der Grund für unser Empfinden des Schönen sein kann. Diderot, der Shaftesburys Text (Inquiry concerning Virtue and Merit, in: Characteristicks of Men, Manners, Opinions, Times, London, 1711 ) ins Französisch übersetzt hatte (Principes de la philosophie morale; ou Essai de M. S*** sur le mérite et la vertu, Amsterdam: Zachaerie Chatelain, 1745, 297 S.) gibt dessen Auffassung so wieder: „Dass es nur ein Schönes gibt, dessen Grundlage die Nützlichkeit ist: So ist alles, was so organisiert ist, dass es am vollkommensten die Wirkung hervorbringt, die man beabsichtigt hat, das Allerschönste“ (Artikel Beau). Voltaire bezieht sich offenbar darauf und zeigt in seiner komischen Zuspitzung mit dem „schönen Medikament“, dass diese Erklärung absurd ist. Schade, dass er Immanuel Kants Kritik der Urteilskraft (1790) nicht mehr lesen konnte, es wäre interessant gewesen zu erfahren, was er zu einer Theorie gesagt hätte, die das Schöne einerseits in seinem Sinne extrem subjektiviert, andererseits aber mit seiner Diskurstheorie wieder voll und ganz in die Gemeinschaft der Menschen integriert.

Anmerkung 4 (S.63, dritter Absatz: „Er gab zu, dass die Tragödie in ihm diese beiden Gefühle wachgerufen hatte…“): Voltaire folgt hier dem empirisch-experimentellen Ansatz von J.B. Dubos, nachdem man bei der Untersuchung des Schönen mit dem beginnen soll, was wir unmittelbar subjektiv als schön empfinden, um erst dann, darauf aufbauend, zu eventuellen Verallgemeinerungen fortzuschreiten.

Philosophisches Taschenwörterbuch:
Baptême – Taufe (Kommentare)

Die Taufe steht in der Reihe der sieben Sakramente am Anfang, soll sie doch die Tür zur Aufnahme in die christliche Gemeinde darstellen. Nicht erstaunlich, dass Voltaire sich diesem Thema widmete. Er war schon zu seiner Zeit im englischen Exil (1726-1728) in Kontakt mit Mitgliedern der Londoner Quäkergemeinde gekommen und berichtet über deren Ablehnung der Taufe, da sie ja Christen und keine Juden seien, im ersten seiner Englischen Briefe („Mein lieber Herr, sagte ich, sind Sie getauft?“)
Dass es sieben Sakramente gibt (Taufe, Firmung, Abendmahl, Buße, Krankensalbung, Weihe und Ehe), ist seit dem 16. Jhdt., dem Konzil von Trient in der katholischen Glaubenslehre fest eingemeisselt. Die Taufe ist nicht nur eine Aufnahme, durch sie soll auch die Erbschuld getilgt werden, die Adam durch sein Apfelessen auf die ganze menschliche Gattung geladen hat.
Die Aufnahme von Kindern in die Religionsgemeinschaft, bevor diese überhaupt selbständig denken können, war der Aufklärung ein Gräuel und wurde – wie andere Initiationsriten auch – eher als ein Gewaltakt denn als eine Gnade aufgefasst. Das Konstrukt der Erbschuld/Erbsünde wurde als Instrument der katholischen Kirche gesehen, mit der die Infame versuchte, ihren Schäflein irrationale Angst und Schuldgefühle einzuflößen, so etwa ironisch Rousseau (Mémoire à M. de Mably): „[Die Erbsünde] für die wir sehr gerecht für Fehler bestraft werden, die wir nie begangen haben“ und ablehnend (Lettre à Christophe de Beaumont): „Das Grundprinzip aller Moral […] ist, dass der Mensch ein von Natur aus gutes Wesen ist; dass es keine ursprüngliche Perversität im menschlichen Herzen gibt“. In der Ausgabe des Philosophischen Wörterbuchs von 1767 fügte Voltaire einen extra Artikel zur Erbsünde („péché originel“) hinzu. Darin beschreibt er die Eiertänze der christlichen Kirchen bei der Einführung und Begründung ihrer Erbsündenerzählung. Er hütete sich, diese zu kritisch zu bewerten und beschränkte sich darauf, wie bei dem vorliegenden Artikel Baptême auch, das groteske Wirrwarr von sich widersprechenden Regeln, in das sich die christlichen Theologen verwickelten und verwickeln, darzustellen.

Die folgenden Kommentare zu einzelnen Textstellen beziehen sich mit ihren Seitenangaben auf die von uns bei Reclam herausgegebene Ausgabe des Philosophischen Taschenwörterbuchs (2020):

Anmerkung 1 (Seite 690 „Johannes taufte im Jordan“.): Johannes der Täufer predigte die „Taufe aus Reue“ zur Vergebung der Sünden und tauft im Jordan (Markus, I, 4-5, ebenso Matthäus III, 6; Lukas III, 3). Er taufte Jesus (Matthäus III, 13-15; Markus, I, 9; Lukas III, 21). Ohne jemals selbst zu taufen, empfiehlt Jesus seinen Jüngern, „im Namen des Vater, des Sohnes und des heiligen Geistes“ zu taufen (Matthäus XXVIII, 19; Markus, XVI, 15-16).

Anmerkung 2 (S. 61, 2,Absatz, Kaiser Konstantin, den Taufe von allem reinigte): Kontantin war der Mörder seines Schwiegervaters Maximinian, seines Schwiegersohnes Licinius, seines ältesten Sohnes Cris-pus, seiner Frau Fausta.

Anmerkung 3 (S61, „Man befragte den heiligen Cyprian“): Thascius Caecilius C., Rhetor in Karthago, wurde 246 Christ, 248 Bischof. Während der Verfolgung durch Decius 250 leitete er die Gemeinde von einem Versteck aus. Er starb 258 unter Valerianus I. den Märtyrertod.

Anmerkung 4 (S. 62 Mitte: „Waren jene, die in der ersten Woche starben, verdammt“):Dies bezieht sich auf Augustinus, der die ungetauften Kinder wegen der Erbsünde in die Hölle kommen ließ (Briefe, 215).

Anmerkung 5 (S. 62 Mitte, der Limbus, eine Art Vorhölle): 2005 entschied eine vatikanische Kommission, dass die Seelen nicht getaufter, gestorbener kleiner Kinder doch direkt in das Paradies kommen.

Philosophisches Taschenwörterbuch:
Athée, Athéisme – Atheist, Atheismus (Kommentare)

Hintergrund:
Wer im 18. Jahrhundert die Meinung vertrat, dass es keinen Gott gäbe, zog dadurch nicht nur die Existenzberechtigung der Kirche in Zweifel, sondern auch die Legitimität des Königs, der Monarchie, die ihre Macht direkt ‚von oben‘ erhalten zu haben behauptete. Die Kirche verbreitete diese Erzählung gerne, um so mehr, als ihr im Gegenzug wertvolle Vorteile (Steuerbefreiung) und Pfründe, Staatsposten zuflossen. Jeder, den Kirche und Monarchie des Atheismus beschuldigten, war gefährdet, jeder, der offen atheistische Positionen vertrat, war in Lebensgefahr. Diderot wurde wegen Atheismusverdacht drei Monate ins Gefängnis geworfen, dem Chevalier de la Barre wurde wegen Atheismus – man wagt es kaum zu glauben – vom weltlichen Arm der Kirche die Zunge herausgeschnitten. Anschließend wurde er öffentlich verbrannt und mit ihm Voltaires Dictionnaire philosophique portatif, das der junge de la Barre besessen hatte. Erst die Französische Revolution machte mit der Adels- und Klerusherrschaft endgültig Schluss.
Die erste offen atheistische Schrift der Neuzeit, Jean Mesliers Testament, konnte ab 1729 nur als Manuskript zirkulieren und wurde erstmals 1762 von Voltaire in einem entschärften Auszug: Extraits des sentiments de Jean Meslier publiziert. Ganz aufgeweckte Geister unserer Tage wollen ihm daraus einen Vorwurf machen, dass er nur eine entschärfte Kurzversion zu veröffentlichen wagte. Das aufsehenerregende Werk L’homme machine von La Mettrie erschien 1748 anonym und zwang seinen Autor trotz versuchter Geheimhaltung ins Ausland zu fliehen (er fand bei Friedrich dem Großen in Berlin Schutz) und des Baron d’Holbachs Système de la Nature, auf La Mettrie aufbauend, konnte 1770 nur anonym erscheinen. Da man den anonymen Autor dem Kreis der Philosophen zuordnete, sah sich Voltaire gezwungen sich mit seiner Réponse au système de la nature umgehend davon zu distanzieren. Über diese Zusammenhänge informiert unterhaltsam und noch immer aktuell Fritz Mauthner in seiner Geschichte des Atheismus (S.63 ff).
Es ist eindeutig, dass Voltaire in den offen atheistischen Schriften eine große Gefahr für sich selbst und für die Sache der Aufklärung überhaupt sah. In seinem Aufsatz zum Thema Voltaire contre le Système de la nature (Cahiers Voltaire 20, 2021, S. 9 – 38) zeigt Gerhardt Stenger (Université Nantes) jedoch anhand der Anmerkungen, die Voltaire in seinem Exemplar von d’Holbachs Système de la Nature notiert hat, dass seine öffentliche Kritik eindeutig taktisch und nur in sehr geringem Maß Ausdruck seiner eigenen Meinung war (das persönliche Exemplar Voltaires ist in der Bibliothek von St. Petersburg – Katharian der Großen sei Dank – bis heute erhalten geblieben).
Die Aufnahme eines Artikels Atheismus in das Philosophische Taschenwörterbuch war vor diesem Hintergrund ein Wagnis. denn natürlich stürzten sich alle Schnüffler und Denunzianten darauf, um Voltaire daraus einen Strick zu drehen. Der aber nutzte die Gelegenheit, um genau sie, die fanatischen Verfolger und Meuchelmörder, an den Pranger zu stellen. Dass er sich das trauen konnte, lag an seiner ökonomischen Unabhängigkeit und an der Lage seines Wohnsitzes Ferney: Im Notfall hätte er über die Schweizer Grenze ins preußische Neuendorf entkommen können.

Die folgenden Kommentare zu einzelnen Textstellen beziehen sich mit ihren Seitenangaben auf die von uns bei Reclam herausgegebene Ausgabe des Philosophischen Taschenwörterbuchs (2020):

Anmerkung 1 (S.49 Mitte „[Aristophanes] würden wir nicht erlauben, seine Farcen auf dem Jahrmarkt von Saint Laurent aufzuführen“: Im Osten von Paris wurde seit Mitte des 15. Jhdts. von August bis September der große Jahrmarkt von St. Laurent abgehalten mit vielen Gauklern, Bänkelsängern, Theaterleuten.

Anmerkung 2 (S.50 Mitte „Die Römer haben keinen einzigen Philosophen wegen seiner Ansichten verfolgt“: Die Aussage Voltaires bezieht sich auf religiöse Ansichten. Dazu er bereits in seinem sein Werk Traité sur la Tolérance ein Kapitel verfasst: Waren die Römer tolerant?

Anmerkung 3 (S.50 Mitte „Sowie Kaiser Friedrich Streit mit dem Papst hat, bezichtigt man ihn Atheist zu sein…): ‚Atheist‘ war der Kampfbegriff der Kirche gegen Oppositionelle. Den Kampf Friedrich II. gegen den Papst schildert Voltaire im 52. Kapitel seines Essai sur les moeurs (Über den Geist und die Sitten der Nationen).

Anmerkung 4 (S.50 Mitte [Kaiser Friedrich II und Petrus de Vinea]): Im Jahr 1239 exkommunizierte Papst Gregor IX Kaiser Friedrich. Voltaire beschreibt die Auseinandersetzung in seinen Annales de l’Empire; Petrus de Vinea wurde als Berater, Schreiber., Sekretär von Friedrich II hochgeschätzt, dann aber grausam bestraft. Wie es zu dem Zerwürfnis kam, rekonstruiert Kantorowicz in seiner monumentalen Friedrich Biographie

Anmerkung 5 (S.47 Das Konzil von Laodikeia 360 zählte die Apokalypse nicht zu den kanonischen Schriften): Laodikeia ist eine antike Stadt in Phrygien, 6 km nördlich des heutigen Denizli (Türkei) und 10 km südlich von Hierapolis, am Fluss Lykos (heute Çürüksu cayi), einem Nebenfluss des Mäander, gelegen. Es gab dort eine frühe christliche Gemeinde. Die Stadt gehörte zu den sieben von Johannes in der Offenbarung genannten. Erst durch das dritte Konzil von Karthago 397 wurde die Apokalypse offiziell in die Reihe der kanonischen Schriften aufgenommen.

Anmerkung 6 (S.50 unten, Michel de l’Hopital und das Zitat ‚Homo ductus sed verus atheos‘ aus dem Commentarium rerum Gallicarum [Anm. Voltaires]): 1568 zog sich der ultraorthodoxe Bischof von Metz, François de Beaucaire de Péguillon (1514-1591), von seinem Amt zurück, um eine Geschichte Frankreichs der letzten hundert Jahre zu schreiben. 1625, nach dem Tod de Péguillons unter dem Titel “Rerum gallicarum commentarii“ veröffentlicht, enthält das Werk zahlreiche Zeugnisse seiner Verfolgungsbereitschaft gegen die Hugenotten (die er als Häretiker und Atheisten ansieht) und seines ausgeprägten machtpolitischen Instinkts. Ganz im Gegensatz dazu war Michel d’Hospital, oder auch Hôpital, (1505-1573) ein Mann des Ausgleichs und der Toleranz, der während seiner Kanzlerschaft dafür sorgte, dass alle Ketzerprozesse gegen Hugenotten eingestellt wurden. Zu den französischen Religionskriegen (1562 -1598) und Voltaires Sicht siehe Kap. 170 in seinem Essai sur les moeurs (Über die Sitten).

Anmerkung 7 (S 50 unten, Der Jesuit Garasse): François Garasse (1585-1631) war ein fanatischer Vertreter der katholischen Gegenreformation. Seine Gegner titulierte er mit allen möglichen Tiernamen, bevorzugt als Ungeziefer. Im Fall des Ketzerprozesses gegen Vanini war er einer der Haupteinpeitscher. Sein Name rangiert in der Galerie der größten Finsterlinge der Geschichte sicher auf einem der oberen Plätze. Seine Kampfschrift La Doctrine curieuse des beaux-esprits de ce temps ou prétendus tels (1624) wurde im Jahr 2009 tatsächlich neu aufgelegt – siehe dazu die Renzension in Le Monde vom 20. März 2009

Anmerkung 8 (S.51 oben, „Er bezeichnete Théodor de Bèze als einen Atheisten“): Zwar hat Garasse den bedeutenden calvinistischen Theologen nicht als Atheisten bezeichnet, aber als armseligen Idioten , als Dieb eines Silberlöffels, als Häretiker – aus einem einzigen Grunde: de Bèze war vom Katholizismus zum Calvinismus konvertiert und in Genf zum Stellvertreter Calvins und nach dessen Tod 1564 zu dessen Nachfolger geworden. Zur Biographie de Bèze siehe Meyers Konversationslexikon 1885-1889.

Anmerkung 9 (S.51, Vanini): Es ist vor allem Voltaire zu verdanken, dass durch die Aufnahme in das philosophische Taschenwörterbuch die Biographie und der Ketzerprozess gegen Lucilio Vanini (1585 – 1619) der Vergessenheit entrissen wurde. Er ist immer wieder auf den Fall zurückgekommen, in seinen Briefen (D923,D980,D950), in seiner Schrift Sur les contradictions du monde (1742) und im dritten Brief ‚Sur Vanini‘ seiner Lettres à S.A.Mgr. le prince de *** (1767).
Zu Vaninis Leben und Werk siehe unsere Extraseite Voltaire und Vanini.

Anmerkung 10 (S.52, dass Gott eine Kette von Wesen geschaffen hat): Die goldene Kette, die vom Himmel herab zur Erde reicht, ist ein Bild aus dem 8. Gesang der Illias, um die Allmacht Zeus‘ zu zeigen. Platon in seinem Theaitos interpretiert das Bild als Ausdruck des Umlaufs der Planeten um die Sonne.

Anmerkung 11 (S.52 Mitte, „Dieser Francon oder Franconi..“): Der Historiker Gabriel-Barthélemie Gramond (auch Grammont, wie von Voltaire, genannt – sein Vater war der Vorsitzende des Toulouser Gerichts und somit für das Terrorurteil gegen Vanini verantwortlich) behauptete in seinem Historiarum Galliæ ab excessu Henrici 4. libri 18, Francon sei aufrichtig und von vornehmer Herkunft gewesen. Aus seinem Bericht speist sich bis heute, was man über den Prozess weiß. Veyssière de la Croze übersetzte 1733 einiges daraus ins Französische und veröffentlichte es in seiner Dissertation sur l’Athéisme et sur les Athées modernes (in: Entretiens sur divers sujéts d’histoire, S.250 – ) in der er Vanini verteidigt (etwa S.374f). Voltaire verwendete die Abhandlung La Crozes zur Abfassung seines Artikels. Zu Veyssière de la Croze (1661-1739), Philosophieprofessor in Berlin und Erzieher von Wilhelmine von Bayreuth, mit der Voltaire befreundet war, existiert ein kurzer Wikipediaartikel.

Anmerkung 12 (S.53 Mitte, indem man „irgendeinen unschuldigen Ausdruck verdrehte“): Vanini hatte in seinem Dialog (s.Anm 16) einen Atheisten zu Wort kommen lassen. Dessen Äußerungen und Argumente legte ihm nun insbesondere Garasse (s. Anm.7) zur Last.

Anmerkung 13 (S.54 oben, „Vor Pater Mersenne hatte niemand einen so haarsträubenden Unsinn
geäußert“): Der Minimitenpater Mersenne (L’impitiés des déistes, athées et libertins 1624) hatte Vanini beschuldigt, ein Kinderschänder (!) zu sein, außerdem behauptete er, Vanini hätte beabsichtigt, das Christentum zu zerstören.

Anmerkung 14 (S.54 oben, [Mersennes haarsträubender Unsinn] hat historische Lexika verpestet): Etwa den Artikel Vanini in: Le Grand dictionnaire historique 1740 von Moreri.

Anmerkung 15 (S.54 2.Absatz, Pierre Bayle spricht von Vanini als Atheisten): In seinen Pensées sur les comètes widmet Bayle einen Abschnitt dem Schicksal Vaninis, dessen Standhaftigkeit vor Gericht er als Beweis dafür nimmt, dass Atheisten ein Gefühl der Ehrbarkeit besitzen können (§182). Dass eine Gesellschaft aus Atheisten lebensfähig wäre, scheint ihm durchaus möglich, weil auch die Gesellschaft von Gottesgläubigen vor allem durch weltliche Strafen reguliert wird und Christen nur zu oft gegen ihre religiösen Vorschriften handeln. (§161, §172)

Anmerkung 16 (S.54 2.Absatz, Vanini „war in seinen Schriften wie im Leben ein Freigeist“):In seinen Dialogen, enthalten in: De natura arcanis berichtet Vanini seinem Gesprächspartner, was er mit einem Atheisten diskutiert hat – hier zeigt er sich in der Tat als ein aufgeschlossener und toleranter Mensch – als Freigeist eben. Die Dialoge hat Rousselot 1842 ins Französische übersetzt.

Anmerkung 17 (S.54 3.Absatz, Philateles): das ist Peter Friedrich Arpe . Seine Verteidigungsrede Apologia pro Vanino erschien 1712 in Latein und wurde nie ins Deutsche übersetzt. Zu Arpe siehe Artikel in Wikipedia.

Anmerkung 18 (S.54 4.Absatz, Hardouin): Ob Jean Hardouin (1646-1729), der in allem und jedem Atheisten sah, der Autor der Athei detecti war, ist nicht gesichert. Zu Hardouin kann man den englischen Wikipediaartikel lesen (‚Although Hardouin has been called „pathological“, he was only an extreme example of a general critical trend of his time‘) – der deutsche ist ungeniessbar rechtfertigend.

Anmerkung 19 (S.55 2.Absatz, dass die Erlasse der chinesischen Kaiser Predigten sind): Voltaire bezieht sich auf du Halde, Descriptions de la Chine Paris 1725, der in seinem 3. Bd über die Verehrung eines höchsten Wesens bei den Chinesesn berichtet dt.: Ausführliche Beschreibung des Chinesischen Reichs und der grossen Tartarey: Aus dem Französischen mit Fleiß übersetzet, nebst vielen Kupfern Bd. 3, § 33-35 Rostock : Koppe, (1749).

Anmerkung 20 (S.57 unten, Spinoza): Ob Spinoza Atheist war, darf bezweifelt werden, er war eher ein Pantheist. Voltaire jedenfalls folgte Pierre Bayle in der Ansicht, dass er ein Atheist gewesen sei. Zu dem Thema siehe die ausführliche Rezension des Buches Czelinski-Uesbeck, Michael: Der tugendhafte Atheist. Studien zur Vorgeschichte der Spinoza-Renaissance in Deutschland 2007 in der Zeitschrift Information für Philosophie des Meiner Verlags.

Anmerkung 21 (S.57 unten, die Brüder de Witt): Johan de Witt (1625-1672) war als Mitglied des holländischen Rates Regierungschef aller Provinzen der Niederlande. Unter ihm wurde die Monarchie abgeschafft zugunsten einer republikanischen Staatsordnung. Er wird als unbestechlich und tolerant geschildert. Unter seiner Führung konnte Baruch des Spinoza in den Niederlande seine Werke publizieren und war vor Verfolgung geschützt, so wie viele aus Frankreich geflohene Hugenotten. Als unter Wilhelm III. von Oranien die Monarchie wieder Oberwasser bekam, hetzte sie einen blutrünstigen Mob gegen Johan de Witt und seinen Bruder Cornelis, zog deren Bewachung gezielt zurück und lieferte die beiden schutzlos der Meute aus, die sie buchstäblich in Stücke riss. Einige behaupten, man habe ihre Körperteile sogar verspeist. Alexandre Dumas verarbeitete die Ereignisse in seinem Roman Die schwarze Tulpe.

Philosophisches Taschenwörterbuch:
Apocalypse – Apokalypse (Kommentare)

Hintergrund:
Die Offenbarung des Johannes, auch „Apokalypse“ genannt, ist das letzte Buch im Neuen Testament. Ihr Verfasser, Johannes von Patmos, lebte irgendwann um 100 n.u.Z. und phantasiert, was am Ende der Welt wohl geschehen könnte. Er entwickelt Straf- und Schuldphantasien, deren Herkunft aus den tiefen seines Sexuallebens nur zu offensichtlich ist. Wenn es eines Beleges für die von Beginn an vehement sexual- und menschenfeindliche Haltung des Christentums bedürfte, so lieferte ihn unzweifelhaft die Apokalypse des Johannes.

Die folgenden Kommentare zu einzelnen Textstellen beziehen sich mit ihren Seitenangaben auf die von uns bei Reclam herausgegebene Ausgabe des Philosophischen Taschenwörterbuchs (2020):

Anmerkung 1 (S.44 „..in seinem [Justinus der Märtyrer] Dialog mit dem Juden Tryphon „): ein frühchristlich-apologetisches Werk, gegen die Juden gerichtet. Darin ordnet Justinus die Apokalypse fälschlicherweise Johannes dem Täufer zu, der in Ephesus lebte. In seiner 1770 gedruckten, aber bereits Jahre zuvor als Manuskript zirkulierenden Schrift „Discours historique sur l’Apocalypse“ belegt der Genfer Universalgelehrte Firmin Abauzit (1679 – 1767) die Geschichte der fehlerhaften Zuordnung der Apokalypse. Voltaire referiert in weiten Teilen seines Artikels den Text Abauzits. Abauzit stammte aus einer wohlhabenden hugenottischen Familie aus dem französischen Uzès. Sein Lebenslauf ist es wert, immer wieder gelesen zu werden – als mahnendes Beispiel dafür, was religiöser Fanatismus, wenn er staatlicherseits losgelassen wird, anrichtet.

Anmerkung 2 (S.45 Die Seelen der Ägypter): Zu dem Totenkult im alten Ägypten ausführlich Jan Assmann, Tod und Jenseits im Alten Ägypten, München: C.H.Beck, 2001

Anmerkung 3 (S.45 bei Vergil):Aeneis VI,748:
„Bis langwieriger Tag, nach vollendetem Ringe der Zeiten,/ All‘ anklebende Makel getilgt und völlig gekläret/ Stellt den ätherischen Sinn, und die Glut urlauterer Heitre./ Diese, nachdem sie den Kreis durch tausende Jahre gerollet,/ Ruft zum lethäischen Fluß ein Gott in großem Gewimmel:“

Anmerkung 4 (S.46 Tertullian):Quintus Septimius Florens Tertullianus oder kurz Tertullian (* um 150; † um 230) war ein früher christlicher Schriftsteller. Sein Beiname Tertullianus bedeutet in etwa: „Dreimal im Käfig“. Er verfasste mehrere Schriften vor allem gegen Juden und Gnostiker, legte sich aber auch mit christlichen Abweichlern an. Er wurde viel gelesen, im Mittelalter schwindet die Kenntnis von ihm.

Anmerkung 5 (S.47 Kerinthos):Kerinthos oder Cerinthus (1 Jh. n. Chr.) lehnte die Jungfrauengeburt Jesu ab und ebenfalls seinen göttlichen Charakter mit der Geburt. Den soll er erst mit der Taufe erhalten haben. K. war ein Anhänger der Vorstellung des 1000-jährigen wiederauferstandenen Jerusalems und meinte, die jüdischen Vorschriften müssten auch für die Christen gelten.

Anmerkung 6 (S.47 Das Konzil von Laodikeia 360 zählte die Apokalypse nicht zu den kanonischen Schriften): Laodikeia ist eine antike Stadt in Phrygien, 6 km nördlich des heutigen Denizli (Türkei) und 10 km südlich von Hierapolis, am Fluss Lykos (heute Çürüksu cayi), einem Nebenfluss des Mäander gelegen. Es gab dort eine frühe christliche Gemeinde. Die Stadt gehörte zu den sieben von Johannes in der Offenbarung genannten. Erst durch das dritte Konzil von Karthago 397 wurde die Apokalypse offiziell anerkannt.

Philosophisches Taschenwörterbuch:
Apis – der Stier (Kommentare)

Hintergrund:
Dass sich Voltaire im Artikel Apis über Ägypten ähnlich wie an anderer Stelle über die Juden äußert, ist ein wichtiger Hinweis darauf, gegen wen seine teilweise drastischen Werturteile (Ägypten, ein erbärmliches Volk, feige, ein Volk elender Sklaven…) wirklich gerichtet sind:
Zahlreiche zeitgenössische Vertreter des Christentums (Bossuet, Calmet, Mairan..) suchten ihre Wurzeln nämlich im alten Ägypten, das sie nicht hoch genug rühmen (Voltaire: „Man hat die Ägypter hoch gerühmt“) und loben konnten, deren Weisheit und deren Kulturdenkmäler über alles gingen, usw. Nach der von ihnen verbreiteten – christlichen – Entwicklungslehre war Adam als erster Mensch im vollen Besitz alles Wissens, das sich dann im Laufe der Zeit auf verschiedene Kanäle verteilte, bis es sich im Christentum wieder vereinte (siehe dazu: Assmann,Jan, Altägypten und Christentum (in: Marlies Gielen, Joachim Kügler (Hg.), Liebe, Macht und Religion. 2003, S.32-33).
Voltaire greift, indem er den Mythos vom altehrwürdigen Ägypten aufs Korn nimmt, die altehrwürdige Herkunft des Christentums an – wie bei der Kritik an alter jüdischer Geschichte und Religion auch.

Die folgenden Kommentare zu einzelnen Textstellen beziehen sich mit ihren Seitenangaben auf die von uns bei Reclam herausgegebene Ausgabe des Philosophischen Taschenwörterbuchs (2020):

Anmerkung 1 (S.43 Tat Kamyses gut daran..?): nach Herodot, Historien III.27 f.

Anmerkung 2 (S.44 Nur die Unbedachtsamkeit der christlichen Kreuzfahrer übertraf die Feigheit der Ägypter..): Während des 7.Kreuzzugs wurde das Heer Ludwig IX 1250 in Mansourah geschlagen: wenn also die Ägypter schon feige und verächtlich sind, was sind dann erst die Christen…?

Anmerkung 3 (S.44 Körper, die ihre Seelen nach tausend Jahren wiederbeleben sollten.): Voltaire berichtet nach Herodot, Historien II.116, auch, was die menschenverschlingenden Arbeiten an den Pyramiden betrifft..