Philosophisches Taschenwörterbuch:
Apis – der Stier (Kommentare)

Hintergrund:
Dass sich Voltaire im Artikel Apis über Ägypten ähnlich wie an anderer Stelle über die Juden äußert, ist ein wichtiger Hinweis darauf, gegen wen seine teilweise drastischen Werturteile (Ägypten, ein erbärmliches Volk, feige, ein Volk elender Sklaven…) wirklich gerichtet sind:
Zahlreiche zeitgenössische Vertreter des Christentums (Bossuet, Calmet, Mairan..) suchten ihre Wurzeln nämlich im alten Ägypten, das sie nicht hoch genug rühmen (Voltaire: „Man hat die Ägypter hoch gerühmt“) und loben konnten, deren Weisheit und deren Kulturdenkmäler über alles gingen, usw. Nach der von ihnen verbreiteten – christlichen – Entwicklungslehre war Adam als erster Mensch im vollen Besitz alles Wissens, das sich dann im Laufe der Zeit auf verschiedene Kanäle verteilte, bis es sich im Christentum wieder vereinte (siehe dazu: Assmann,Jan, Altägypten und Christentum (in: Marlies Gielen, Joachim Kügler (Hg.), Liebe, Macht und Religion. 2003, S.32-33).
Voltaire greift, indem er den Mythos vom altehrwürdigen Ägypten aufs Korn nimmt, die altehrwürdige Herkunft des Christentums an – wie bei der Kritik an alter jüdischer Geschichte und Religion auch.

Die folgenden Kommentare zu einzelnen Textstellen beziehen sich mit ihren Seitenangaben auf die von uns bei Reclam herausgegebene Ausgabe des Philosophischen Taschenwörterbuchs (2020):

Anmerkung 1 (S.43 Tat Kamyses gut daran..?): nach Herodot, Historien III.27 f.

Anmerkung 2 (S.44 Nur die Unbedachtsamkeit der christlichen Kreuzfahrer übertraf die Feigheit der Ägypter..): Während des 7.Kreuzzugs wurde das Heer Ludwig IX 1250 in Mansourah geschlagen: wenn also die Ägypter schon feige und verächtlich sind, was sind dann erst die Christen…?

Anmerkung 3 (S.44 Körper, die ihre Seelen nach tausend Jahren wiederbeleben sollten.): Voltaire berichtet nach Herodot, Historien II.116, auch, was die menschenverschlingenden Arbeiten an den Pyramiden betrifft..

Philosophisches Taschenwörterbuch:
Ange – Engel (Kommentare)

Warum Voltaire den Artikel Ange – Engel in sein Philosophisches Taschenwörterbuch aufgenommen hat, ist einleuchtend: die inspirierenden Engel, Engelsboten, Schutzengel, sind ein zentrales Konzept der Kirche zur Verankerung ihrer Religion im kindlichen Volksglauben. D’Holbach in seinem nur 4 Jahre nach Voltaires Dictionnaire – und durchaus in Anspielung auf Voltaire – erschienenen Büchlein Theologie portative sagt es so: „Engel. Briefträger des himmlischen Kabinetts, die Gott zu seinen Lieblingen schickt. Ohne die Engel wäre Gott gezwungen, seine Besorgungen selbst zu erledigen“ und zum Thema Schutzengel: „Jeder Christ hat den Vorteil, einen Schutzengel zu haben, der ihn daran hindert, größere Dummheiten zu machen, auch wenn dies dem freien Willen abträglich ist “. Immerhin ein komplett phantastisches Modell, das auszugestalten besonderes die Kirchenväter und die Scholastik erhebliche Energie aufgewendet haben und an dem die Kirche andauernd weitergebaut hat. Zu Voltaires Zeit beschäftigte das kirchliche Engelskonzept u.a. den Benediktiner Dom Calmet (Dictionnaire historique…de la Bible 1730 1.Bd. S.202-207, in englischer Übersetzung 1830) und in mehreren Artikel das einflussreiche Wörterbuch „Dictionnaire de Trévoux“ der Jesuiten.

Die folgenden Kommentare zu einzelnen Textstellen beziehen sich mit ihren Seitenangaben auf die von uns bei Reclam herausgegebene Ausgabe des Philosophischen Taschenwörterbuchs (2020):

Anmerkung 1 (Seite 38 „Der heilige Augustinus hat in seinem 109. Brief…“.): Der Brief über die körperliche Natur der Engel ist nicht der 109. Brief, sondern der 95. an Paulinus und Therasia, online in der „Bibliothek der Kirchenväter“ erschienen.

Anmerkung 2 (S. 38 unten, Papst Gregor II): es war Gregor I. Seine vierzig Predigten (Homiliae in evangelia, 592) wurden auf Deutsch übersetzt: Des Hl. Papstes Gregor des Grossen 40 Homilien über die Evangelien, aus dem Lateinischen übertragen von der Abtei St. Gabriel zu Bertholdstein: Volksliturgisches Apostolat: 1931. (nicht digital verfügbar)

Anmerkung 3 (S. 39, Thomas von Aquin): Sein Hauptwerk, die Summa theologica, ist um 1265 erschienen. Seine Grübeleien über die guten und die bösen Engel kann man in der 113. und die über die Schutzengel in der 114. Frage nachlesen: in der Bibliothek der Kirchenväter“ auf deutsch online erschienen.

Anmerkung 4 (S. 39 Schlußsatz: „Man weiß nicht genau, wo sich die Engel aufhalten […] Gott wollte nicht, dass wir darüber etwas wissen“). Der Benediktinermönch Chaudon in seinem Dictionnaire anti-philosophique, Pour servir de Commentaire et de Correctif au Dictionnaire Philosophique et aux autres Livres, qui ont paru de nos jours contre le Christianisme, Avignon, 1767, antwortet darauf in exemplarischer Weise folgendermaßen (S.17-19): „Auch wenn einige Theologen Fragen über die Zahl, die Ordnung, das Wesen, die Fähigkeiten der Engel oder über deren Aufenthaltort auf lächerliche Weise beantwortet haben, […] dürfen das die Ungläubigen trotzdem nicht zum Anlass nehmen, die Religion zu verunglimpfen, denn sie ist immer im Recht, auch wenn einige Wenige sie manchmal mit falschen Ideen unterrichten.“

Philosophisches Taschenwörterbuch:
Anthropophages – Menschenfresser (Kommentare)

Hintergrund:
Wieso ein Artikel Anthropophages – Menschenfresser im philosophischen Wörterbuch? Das Christentum behauptete stets, zivilisierter als seine Vorgänger- und Konkurrenzreligionen zu sein. Diese wären Menschenfresser gewesen, eine Gewohnheit, mit der die jüdische, dann die christliche Religion abgeschlossen hätten. Insbesondere gegenüber den kolonisierten Völkern Lateinamerikas begründete sich der zivilisatotorische Verfolgungsdrang auf dieses ‚Argument‘ (siehe den Atlas Theatrum Orbis Terrarum von 1573, in dem Lateinamerika als Land von Anthropophages-Menschenfressern erscheint, symbolisiert durch eine weibliche Kannibalin mit abgeschlagenem Männerkopf).
Andererseits kann das christliche Abendmahl als ritualisierter Kannibalismus betrachtet werden, seine zentrale Stellung in der Liturgie verweist auf die Bedeutung des Themas und zumindest in den Anfängen des Christentums trug es nicht wenig dazu bei, den Christen selbst Menschenfresserei nachzusagen (Kachala, Ivan, Anklage und Verteidigung, Die apologetischen Intentionen des lukanischen Doppelwerks…, Regensburg: Pustet, 2020, S.58-59). Voltaire wird die Vorwürfe gekannt haben.
Warum Voltaire in seinem Artikel von den Christen nicht spricht, dürfte klar sein: Das heilige Abendmahl anzugreifem, wäre sein sicherer Untergang gewesen, infolgedessen richtet sich sein Angriff auf die alttestamentarischen Belegstellen für Kannibalismus bei den Juden, in deren Tradition wiederum das Christentum steht. Eigentlich überflüssig zu erwähnen, dass dies vor der Shoah geschrieben wurde und danach so nicht mehr hätte geschrieben werden können. Wenn durch die Inquisition die Kritik am Christentum lebensgefährlich war und sich Voltaire und andere stattdessen auf die Vorläuferreligion konzentrierten, konnten sie davon ausgehen, dass ihre Leser wußten, wen sie meinten, wenn sie das jüdische Volk oder die jüdische Religion kritisierten.

Die folgenden Kommentare zu einzelnen Textstellen beziehen sich mit ihren Seitenangaben auf die von uns bei Reclam herausgegebene Ausgabe des Philosophischen Taschenwörterbuchs (2020):

Anmerkung 1 (S.40, „1725 brachte man vier Wilde vom Mississippi nach Fontainebleau“): Am 5.9.1725 heiratete der 15 jährige Ludwig XV die sieben Jahre ältere Maria Leszczynska von Polen. Voltaire war bei diesem Fest zugegen. Seine Tragödie Mariamne und die Komödie l’Indiscret wurden im Begleitprogramm der Hochzeitsfeierlichkeiten gespielt (Brief Voltaires v. 17.10.1725 an Thiériot). Tatsächlich besuchten in diesem Jahr vier Ureinwohner (ein Oto, ein Osage, ein Illinois und eine Prinzessin der Missouri) Frankreich und wurden in Fontainebleau von Louis XV empfangen (Harvard,Vidal, Cécile,Gilles, Histoire de l’Amérique française, Paris, Flammarion, 2019). Frankreich wollte sich ihre militärische Unterstützung sichern.

Anmerkung 2 (S.41 unten: „Was ist wohl das größere Verbrechen,…“): In der Bibel, Richter, 11. 34-40 opfert Jephta seine Tochter, um ein Gelübde zu erfüllen, das er Gott gegeben hatte (siehe auch den Artikel Jephta). In seiner Erzählung „Der Hurone“ zeigt Voltaire die moralische Überlegenheit der Ureinwohner und ihrer Religion dem Christentum gegenüber.

Anmerkung 3 (S.42. „Und in der Tat, warum sollten die Juden keine Menschenfresser gewesen sein?“): – Dies ist vor allem ein Schlag gegen das – nicht erwähnte -Christentum, das im Alten Testament ein heiliges Buch sieht, Grundlage seiner Religion – und so hätte der Satz ohne Verfolgung geendet: ist die christliche Religion die abscheulichste unter allen Religionen.“ Voltaire richtet sein Verdikt hier gegen die Juden, sagt es anderer Stelle aber so: „So stelle ich fest, dass jeder vernünftige, jeder anständige Mensch die christliche Sekte verabscheuen muss“ (L’examen important du Milord Bolingbroke, Wichtige Untersuchung des Lord B., Voltaire, Kritische und satirische Schriften, München: Winkler, 1970, S.370).

Philosophisches Taschenwörterbuch:
Abraham (Kommentare)

Hintergrund:
Der Artikel Abraham geht auf eine Skizze zurück, die Voltaire schon 1752 in Berlin anfertigte. Seine Hauptquellen sind Pierre Bayle bzw. Dom Calmet. Beide veröffentlichten in ihren Wörterbüchern jeweils einen Artikel ‚Abraham‘, die Voltaire sehr gut kannte. In der späteren Ausgabe seines Philosophischen Wörterbuchs von 1767 hatte der Artikel fast die doppelte Länge. Voltaire baute insbesondere die Überlegungen zur Herkunft Abrahams und zur Beziehung der jüdischen Religion zu ihren Konkurrenzreligionen deutlich aus.
Noch heute sind sich die Archäologen über die Abstammung der Juden nicht einig. I.Finkelstein/N.Silberman (Keine Posaunen vor Jericho, München: Beck 2002) meinen, „Die meisten Israeliten kamen nicht von außen nach Kanaan“ (S.135). Die Erzählung von Abraham, seiner Reise und seiner Herkunft diente den Priestern, um zu zeigen, „dass die Ursprünge des Volkes Israel mitten im Herzen der zivilisierten Welt lagen“ (S.334). Demnach hat Voltaire Recht, wenn er bezweifelt, dass Abraham eine hochkultivierte, fruchtbare Region aufgab, um sich im kargen Land Kanaan in Sichem anzusiedeln. Es verhielt sich umgekehrt: die Menschen in Kanaan schufen sich mit der Abrahamerzählung eine ehrwürdige, kulturell bedeutende Herkunft.
Die folgenden Kommentare zu einzelnen Textstellen beziehen sich mit ihren Seitenangaben auf die von uns bei Reclam herausgegebene Ausgabe des Philosophischen Taschenwörterbuchs (2020):

Anmerkung 1 (Seite 15 (1.Satz), „Wie Thot bei den Ägyptern…“.): Voltaire grenzt sich von den Verteidigern des Christentums ab, die behaupten, die anderen Religionen hätten das meiste von den Juden übernommen. Für ihn haben alle mit gleichem Recht ihren eigenen Gründervater, eher jedoch haben die Juden das meiste von den anderen übernommen. Das erläutert Voltaire in seinen Zusätzen von 1767 noch ausführlicher.

Anmerkung 2 (S. 16 unten, „Warum verließ er [Abraham] die fruchtbaren Ufer des Euphrat.. für eine so steinige Gegend wie die von Sichem?“):
Sichem oder Shechem ist ein Ort am Ostrand der heutigen palästinensischen Stadt Nablus. Voltaire schließt aus der bereits im 18. Jahrhundert steinigen, kargen Beschaffenheit des Landstrichs um Sichem, dass es zu Abrahams Zeit, evtl. 4000 Jahre zuvor, dort ebenso karg aussah. Diesen Schluss hielt etwa der Benediktinermönch Chaudon in seinem Dictionnaire anti-philosophique, Pour servir de Commentaire et de Correctif au Dictionnaire Philosophique et aux autres Livres, qui ont paru de nos jours contre le Christianisme, Avignon, 1767 nicht für zulässig. Nach seiner Meinung hätte Sichem früher, zur Zeit Abrahams, ja durchaus eine blühende Landschaft sein können.
Laut archäologischen Funden in neuerer Zeit war die Region um Sichem Nomadenland, wohl für Schafe und Ziegen geeignet und während dreier Perioden dünn besiedelt: 3500 – 2200 v.u.Z. , 2000-1550 v.u.Z. (nomadische Herdenschutzdörfer), 1150 – 900 v.u.Z. (Finkelstein, S.130). Die Abrahamerzählung könnte in der ersten oder zweiten Siedlungsperiode spielen. Erst in der dritten Periode breitete sich die Besiedlung aus, die Bevölkerung wuchs, Weinanbau und andere landwirtschaftliche Aktivitäten lassen sich nachweisen.

Anlässlich der Pestepidemie in Italien: Gerüchte, lächerliche Gegenmaßnahmen und Übertreibungen, Panik und Aberglaube.
Neujahrsbrief Voltaires an Katharina II. von Russland

                                                                           Zu Ferney, 1. Januar 1772
Madame,
ich wünsche Eurer Kaiserlichen Majestät für das Jahr 1772 nicht Vermehrung des Ruhms, denn dieser ist größer nicht möglich, sondern eine Vermehrung der Nasenstüber für Moustapha und seine Wesire, einige neue Siege, dass Ihr Hauptquartier in Adrianopel (heute Edirne, westlich von Istanbul) liegen möge und den Frieden.*

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Neujahrsbrief Voltaires an Katharina II. von Russland“
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Protestbrief an das Kassationsgericht in Toulouse das in der Sache „Wegen Abhängens von Präsidentenporträts“ verhandelt.

18 Personen wurden in Frankreich wegen Abhängens von Staatspräsidentenporträts angeklagt und im September 2021 zum Teil wegen „gemeinschaftlich begangenen Raubes“ zu Geldstrafen bis zu 400 € verurteilt. in Toulouse, vor dem Kassationshof (Cour d`appel), dem höchsten Gericht Frankreichs, findet jetzt eine erneute Verhandlung statt, weil die erstinstanzliche Verurteilung im Berufungsverfahren keinen Bestand hatte.
Das Gericht soll letztlich entscheiden, ob das Abhängen eines Präsidententporträts ein Raub ist, oder eben eine Meinungsäußerung.

Wir haben einen Protestbrief geschrieben und das Gericht aufgefordert, die Angeklagten freizusprechen.

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Saudi Arabien: Ali Mohammed An-Nimr nach 10 Jahren Haft im Oktober 2021 freigelassen

Ali Mohammed an-Nimr ist ein Neffe des schiitischen Geistlichen Sheik Nimr Al-Nimr, der 2014 zum Tode verurteilt und am 2. Januar 2016 in Saudi Arabien hingerichtet wurde, weil er für die schiitische Minderheit (10%) in Saudi Arabien mehr Rechte einforderte.

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Rezension: Die Sammlung der Fünf Katechismen mit dem Titel Voltaire, Gegen den Herrschaftsanspruch der Religionen, übersetzt und benachwortet von Tobias Roth, Berlin: Das kulturelle Gedächtnis, 2021, 140 S.

Unter dem etwas altertümelnden Titel veröffentlicht der Herausgeber und Übersetzer die fünf Katechismen Voltaires, beginnend mit dem Katechismus des Gärtners. In einer ersten Anmerkung meint Roth in dem Gärtner Karpos den Greis aus Candide zu erkennen. Außer dass beide mit Obst handeln, haben wir eine weitere Gemeinsamkeit nicht entdecken können. Dass es in diesem Katechismus aber um das universell gültige Prinzip der Gerechtigkeit, die Relativität der Macht, vor allem aber um die Würde des einzelnen Menschen, des Individuums, geht, erwähnt der Herausgeber nicht, auch nicht in seinem Nachwort. Stattdessen, meint Roth, gehe es in den Katechismen um „Dinge, die nicht verhandelbar sind“. Welche Dinge wären dies? Roth nennt die Toleranz, die Glaubensfreiheit und sonderbarerweise auch die Unwissenheit. Hier stoßen wir auf das Verwaschene, Undeutliche, das leider auch in der Übersetzung selbst immer wieder vorkommt.

Zum Beispiel übersetzt Roth am Ende des zweiten Gesprächs im chinesischen Katechismus das französische „Cu Su: Alors il faudra vous étouffer“ mit  „Nun, dann müsste man Euch unterbinden“  Zwar kann man das „étouffer“ nicht nur mit „ersticken“, sondern auch mit „unterdrücken“ übersetzen – wenn Roth aber mit seinem „unterbinden“ sagen wollte, dass man Ku „zum Schweigen bringen müsste“, hätte er das ja so sagen können. Ein weiteres Beispiel: Am Ende desselben zweiten Dialogs äußert Kou Zweifel an der Existenz eines Lebens nach dem Tod und will von Cu Su wissen, wie er sich dazu stellt. Roth übersetzt das „Je vous en défie“ Cu Sus mit „Dann biete ich euch die Stirn“, was ja wohl im Deutschen eine energische Entgegnung bedeutet. Anders, wenn, wie üblich, „defier qn.“  mit „jemanden herausfordern“ übersetzt wird, dann kommt die Antwort Cu Sus sinngemäß einer Aufforderung zu einer ausführlichen Begründung seiner Meinung gleich.  Und daher fängt auch das Dritte Gespräch folgendermaßen an: „Kou: Vous me pousser“, was man im Deutschen mit „in die Enge treiben“ übersetzen würde. Da jedoch Roth mit dem Stirnbieten endet, muss er das Gespräch auch entsprechend eröffnen: „Ihr fordert mich heraus, Cu Su“. Nun wäre diese eigenwillige Übersetzung nicht weiter schlimm, wenn sie nicht davon ablenken würde, dass es sich bei der Frage, ob es ein Leben nach dem Tod gibt, um ein ernsthaftes religiöses Thema handelt, das Voltaire mit Argumenten und nicht mit Druck oder Streit behandelt wissen will. Kou antwortet Cu Su daher auch mit einem ausführlichen, argumentierenden Beitrag, dem Höhepunkt des Dialogs, in dem er einer atheistischen Position  sehr nahekommt und am Ende bezweifelt, dass es eine Seele gibt, die weiterleben kann. 

Unsere Hauptkritik gilt jedoch dem Nachwort Roths, insbesondere, dass er einen Punkt, der jedem Leser sofort auffallen müsste, vollkommen übersieht, nämlich wie wichtig es Voltaire immer wieder ist, zu zeigen, dass ein Einzelner der Macht die Stirn bieten kann, wenn er Kenntnisse und Grundsätze besitzt. Und nicht das Beharren auf die skeptizistische Unwissenheit ist dabei entscheidend, sondern das Wissen, das man sich durch Beobachtung und  Logik angeeignet hat. So wie es am Ende des „unwissenden Philosophen“ heißt:

„Doch das Ungeheuer lebt noch: wer nach der Wahrheit forscht, läuft Gefahr, verfolgt zu werden. … Ich für meinen Teil glaube, dass sich die Wahrheit hinter diesen Ungeheuern nicht verstecken darf, genauso wenig, wie man sich der Nahrung enthalten darf aus Angst, vergiftet zu werden“.

Weil Roth die Bedeutung des autonomen Subjekts bei Voltaire offenbar nicht versteht, oder nicht verstehen will, kommt er zu Sätzen wie diesem: „Der Begriff der honnêté taucht in den Katechismen immer wieder auf und kann entsprechend kaum auf einen Nenner gebracht werden“, weshalb er den Titel des „Catéchisme de l’honnête homme“ auch mit „Katechismus des weltläufigen Mannes“ übersetzt.

Doch, er kann auf einen Nenner gebracht werden: Ein Mensch mit Würde, ein ehrenhafter Mensch, lässt seine Überzeugungen und Grundsätze nicht fallen, nur weil die Gegenseite mächtiger ist. Er hat einen unverhandelbaren Bestand an einigem Wissen und eine klare Überzeugung davon, dass er individuelle Rechte besitzt.

Und ein ehrenhafter Mensch ist durchaus auch der Überzeugung, dass die Welt für ihn da ist, das er ein Recht auf ein gutes Leben hat, eine Haltung, die Roth als „narzisstisches Phantasma“ denunzieren zu müssen meint, denn sie, so Roth, „erschwert die Arbeit des Umweltschutzes extrem“ (S. 137).
Was für ein „Argument“!

Voltaire und Lucilio Vanini, am 9.2.1619 von der katholischen Inquisition verbrannt

Lucilio Vanini (1585, Taurisano – 9. Februar 1619 in Toulouse), italienischer Theologe und Naturphilosoph, wurde am 9. Februar 1619 von der katholischen Inquisition in Toulouse bestialisch hingerichtet. Sein Verbrechen: Er vertrat eine pantheistische Naturphilosophie. derzufolge Gott in und durch die Natur wirkt, sich in den materiellen und geistigen Dingen der Welt manifestiert. Eine Lehre, die von der Kirche als atheistisch und blasphemisch verurteilt wurde.

Die Verurteilung Vaninis ist für Voltaire ein Jusitzmord, ein Beispiel der grausamen Verfolgungsbereitschaft des Christentums überhaupt. Er widmet Vanini und seinem schrecklichen Schicksal eine längere Passage in dem Artikel ‚Athée-Atheisme‘ des Philosophischen Taschenwörterbuchs, ein ganzes Kapitel in seinen Briefen über Rabelais und kommt in seiner Korrespondenz immer wieder auf diesen Fall zu sprechen. Vanini gehört für ihn zum Kreis der „Märtyrer der Aufklärung“, deren Namen er immer wieder erwähnt. In seinen Äußerungen zu Vanini unterläßt es Voltaire niemals, darauf hinzuweisen, dass er kein Atheist war, dass man ihn nicht deshalb, sondern wegen eines konstruierten Vorwurfs verurteilte, vielleicht wegen einer Intrige, oder weil er zuhause eine lebende Kröte im Aquarium hielt. Man sieht: Voltaire wollte aus Sicherheitsgründen mit den Lehren Vaninis, denen er teilweise sehr nahestand, nicht zu sehr in Verbindung gebracht werden.

Wer war Lucilio Vanini?

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Philosophisches Taschenwörterbuch: Religion (Kommentare)

Hintergrund:
Als das philosophische Wörterbuch 1764 erschien, lebte Voltaire seit 6 Jahren in Ferney, an der Grenze zur Schweiz. Seine anfänglichen Hoffnungen auf die Genfer calvinistische Bürgerschaft hatten sich verflüchtigt. Nachdem in der Enzyklopädie (1757) der Artikel „Genève“ erschienen war, den Voltaire mitverfasst hatte, waren seine früheren Freunde auf Distanz gegangen und Voltaire zu ihnen. Zunehmend lehnte er alle Offenbarungsreligionen ab, unter ihnen ganz besonders die des Christentums. Auch durch das Terrorurteil gegen Jean Calas 1762 und die lange Auseinandersetzung um die Annullierung des Urteils verstärkte sich Voltaires antiklerikale Haltung. Seine Schriften Traité sur la Tolérance und Le sermon des cinquante legen davon ein beredtes Zeugnis ab. Es ergab sich daraus die Frage, welche Religion es sein sollte, wenn nicht die Offenbarungsreligionen. Wenn es keine Offenbarung gibt, worauf könnte sich eine Religion dann berufen? Dies sind die Fragen, auf die der Artikel Religion eine Antworten geben soll. Voltaire widmete sich dem Thema ergänzend in seinem 1765 erschienenen Werk La Philosophie de l’histoire.

Die folgenden Kommentare zu einzelnen Textstellen beziehen sich mit ihren Seitenangaben auf die von uns bei Reclam herausgegebene Ausgabe des Philosophischen Taschenwörterbuchs (2020):

Anmerkung 1 (Seite 340, „Erste Frage“): Warburton, der spätere Bischof von Gloucester behandelte indirekt ein Dogma, mit dem sich auch Voltaire befasste: dass eine Gesellschaft, die nicht an eine Belohnung/Bestrafung nach dem Tod glaubt, dem Untergang geweiht sei. Das war natürlich gegen den Atheismus gerichtet. Pierre Bayle widerlegte die Behauptung bereits 1680 in seinem Werk Lettre sur la comète („Brief über den Kometen“).
Warburton fand es störend, dass nicht nur Atheisten, sondern auch die Juden zur Zeit Moses nicht an eine Auferstehung ins Himmelreich glaubten, jedenfalls wurde über solches im Alten Testament nicht berichtet. Er löste das Problem, indem er Mose – und den Juden als Gottes Volk – eine besondere Nähe zu Gott zusprach, so dass diesen das Himmelreich ohnehin verbürgt war und sie sich mit Belohnung und Strafen gar nicht erst zu beschäftigen brauchten. Mit diesem Taschenspielertrick beginnt der Artikel ‚Religion‘.

Anmerkung 2 (Seite 342, „Die Namen der Gottheit“):
– Kneph: „Der seine Zeit vollendet hat“. Urform des Amun in Darstellung einer Schlange. Kematef (Km-3.t=f). Die Namen sind meist in gräzisierter Form überliefert, das Problem ist, dass die ägyptische Schrift keine Vokale kannte, also kennt man sie nur durch Transkription und Transliteration. In der Ägyptologie wird zwischen die Konsonanten ein „e“ eingefügt.
– Adonai: Man kennt es als Umschreibung „Mein Herr“ für Gott aus dem Alten Testament (s. Bibel Lexikon Gott, 6., 7.: 5.Mose 9,26 etc.). Es kommt als Adon, Adonai und Adonim (Plural) dort vor. Die Sprachen waren sich sehr ähnlich, mit der phönizischen Schrift wurden vom 11. bis 5. Jh. v.u.Z. mehrere Sprachen auch aufgeschrieben. Die althebräische Schrift ist eine Variante der phönizischen. Aus der phönizischen entstanden die aramäische Schrift, die griechische und die südarabische Schrift, sie ist die Grundlage der alphabetischen Schriften, untergegangen im Lauf der Spätantike.
– Baal, Bel war im Altertum eine Bezeichnung für verschiedene Gottheiten im syrischen und levantinischen Raum.
– Melech hebräisch Sing. bedeutet König, kommt im Alten Testament vor (1. Chronik, 8,35; 9,41 Nachfahren Sauls). Moloch (hebr. Molech) ist die biblische Bezeichnung für Brandopfer. Erst mit dem Aufschreiben der Bücher Mose wurde das Wort zum Gottesnamen umgedeutet.
– Papaios, skytischer Name des Zeus.
– Manco Cápac war der erste mythische Herrscher der Inkas. Er soll der Sohn des Sonnengottes Inti gewesen sein, der ihn mit seiner Schwester auf die Erde schickte, um dort die Welt zu verbessern. Sie sollen auf der Sonneninsel im Titicacasee die Erde erreicht haben und gründeten dann mit einem goldenen Stab, den ihnen ihr Vater mitgegeben hatte, die Stadt Cusco, die später als der Beginn des Inkareiches angesehen wurde.
– Vitzliputzli ist die deutsche Form von Huitzilopochtli oder Uitzilopochtli („Kolibri des Südens“ oder „Der des Südens“ oder „Kolibri der linken Seite/Hand“) war in der aztekischen Mythologie der Kriegs- und Sonnengott und Schutzpatron der Stadt Tenochtitlán. Er wurde als Kolibri dargestellt und ihm wurden Gefangene aus den Auseinandersetzungen mit den Nachbarvölkern geopfert.
– Zebaoth bezieht sich immer auf Jhwh, den Gott Israels. Die Bezeichnung geht vermutlich auf das ägyptische Wort „Thronender“ zurück, wurde aber von hebräischen Ohren von saba‘, Plural seba‘ot (Heerscharen, Heeresmacht) abgeleitet, also der Herr der Heerscharen. Es gibt im Alten Testament 285 Stellen, wo er so genannt wird, doch noch nicht in den Büchern Mose, wie auch in den Büchern Josua und Richter.

Anmerkung 3 (Seite 345, Ergänzung zu Anm. 233 „Juvenal“):
Nach Juvenal geschah dieser Kannibalismus in Oberägypten, wo die beiden Orte, Tentyra, (h. Dendera) und das nicht sehr weit entfernte Omboi miteinander verfeindet waren. Die Auseinandersetzung der Dendyriten mit den Ombiten soll während eines Festes in Koptos stattgefunden haben. Das Zeichen der Dendyriten war das Krokodil. In Omboi wurde Seth (Esel, Falke) verehrt. Die Stadt verlor in der Spätzeit Ägyptens wegen der Verfemung von Seth an Bedeutung, während Koptos noch erhalten ist. Es ging um den Gegensatz der Niltalbewohner zu den Wüstenstämmen, die sich dort niederließen. (Kleiner Pauly)

Anmerkung 4 (Seite 346, „Platon“):
Voltaire veröffentlichten 1765 zwei Texte über Platon in den Nouveaux Mélanges. In dem einen, Du Timée à Platon, zeigt er, dass die ersten Christen ihre Lehren von Plato übernommen haben und in Dieu et les hommes (1769), dass Plato der wahre Begründer der christlichen Metaphysik ist.

Anmerkung 5 (Seite 346, „wie Maria zur Mutter Gottes erklärt wurde“):
Das dritte allgemeine Konzil (431 in Ephesus) entschied, dass Maria die reale Mutter Gottes war, und dass Jesus zwei Naturen (die göttliche und die menschliche) in einer Person vereine. Die Doppelnatur Christi wurde von dem Konzil in Chalcedon (451) bestätigt. Der Beschluss wird von der römisch-katholischen, der altkatholischen Kirche und den orthodoxen, den anglikanischen und den lutherischen Kirchen anerkannt. Damals wurde die Trinität (Gottvater, Sohn u. hl. Geist) zum Dogma, die nestorianische und die orientalisch orthodoxen Kirchen spalteten sich ab.

Anmerkung 6 (Seite 346, Ergänzung zu Anm. 234 „Matthäus“):
Matthäus, 12, 22-28. Jesus hat einen besessenen, blinden und stummen Mann geheilt, woraufhin ihn die Pharisäer bezichtigen, die Teufel durch Beelzebub ausgetrieben zu haben.

Anmerkung 7 (Seite 347, „Krankheiten, die man damals…bösen Geistern zuschrieb“):
Nach Flavius Josephus, Jüdische Altertümer (8. Buch, 2. Kap. 5) „lehrte Gott ihn (Solomon) auch die Kunst, böse Geister zum Nutzen und Heile der Menschen zu bannen. Er verfasste nämlich Sprüche zur Heilung von Krankheiten und Beschwörungsformeln, mit deren Hilfe man die Geister also bändigen und vertreiben kann, dass sie nie mehr zurückkehren. Diese Heilkunst gilt auch jetzt bei uns noch viel. Ich habe zum Beispiel gesehen, wie einer der Unseren, Eleazar mit Namen, in Gegenwart des Vespasianus, seiner Söhne, der Obersten und der übrigen Krieger die von den bösen Geistern Besessenen davon befreite. Die Heilung geschah in folgender Weise. Er hielt unter die Nase des Besessenen einen Ring, in dem eine von den Wurzeln eingeschlossen war, welche Solomon angegeben hatte, ließ den Kranken daran riechen und zog so den bösen Geist durch die Nase heraus. Der Besessene fiel sogleich zusammen, und Eleazar beschwor dann den Geist, indem er den Namen Solomons und die von ihm verfassten Sprüche hersagte, nie mehr in den Menschen zurückzukehren. Um aber den Anwesenden zu beweisen, dass er wirklich solche Gewalt besitze, stellte Eleazar nicht weit davon einen mit Wasser gefüllten Becher oder ein Becken auf und befahl dem bösen Geiste, beim Ausfahren aus dem Menschen dieses umzustoßen und so die Zuschauer davon zu überzeugen, dass er den Menschen verlassen habe. Das geschah auch in der That und so wurde Solomons Weisheit und Einsicht kund (S. 474/75)“.

Anmerkung 8 (Seite 348, „Trugbach“):
Bei Voltaire verwendet „Supplantateur“. Der Ausdruck wurde damals benutzt und bezog sich auf die lateinische Bibel, da erhielt Jakob den Beinamen „supplantator“. was darauf zurückgeht, dass er sich an die Stelle seines Bruders Esau, des Erstgeborenen, setzte, und was noch einmal in Psalm 17, Vers 13: „Exsurge Domine praeveni eum et subplanta eum eripe animam meam ab impio frameam tuam“ vorkam. Eigentlich heißt das Betrüger, wird aber so nicht auf Gott angewandt. Gott kann aber zum ‚Trugbach‘ werden (vergl. Jer.15,18; Jes.58,11; Hiob6,15-18).

Anmerkung 9 (Seite 348 unten, zu Origines, „dass es den ersten Christen vor Tempeln, Altären, Götterbildern grauste“):
Voltaire fasst eine Argumentation von Origenes, c. Cels., 7,62-64 (FC 50/5, 1307-1313) zusammen. Origenes zitiert einen Vorwurf Celsus‘, nachdem die Christen, dem Beispiel der Skythen und Perser folgend keine Tempel, Altäre und Statuen leiden konnten. Origenes antwortet, dass es dafür verschiedene Gründe geben kann. Die Skythen verabscheuen sie nicht aus Furcht, die Gottheit herabzusetzen, während die Christen den Vorschriften des Deuteronomium (6,13), des Exodus (20, 3-4) und Matthäus (4,10) „Du sollst keine anderen Götter neben mir haben“ gehorchten und folglich keine Tempel, Altäre oder Bildnisse mochten. Dann bemüht sich Origenes den Unterschied zwischen der christlichen Ablehnung von Bildnissen und der der Perser deutlich zu machen. Die Christen wollen nicht, dass man durch „Bildnisse die Form Gottes begrenzt, der ein unsichtbares und immaterielles Wesen ist“. Er betont, dass es kein Widerspruch sei, gleichzeitig zu behaupten, dass Gott keine menschliche Form, aber den Menschen nach seinem Bilde geschaffen habe, denn „in der vernünftigen Seele, durch die Tugend erschaffen, finden sich die Züge des Bildes Gottes wieder“.

Anmerkung 10 (Seite 349, Vierte Frage unten: ins „Irrenhaus“ gesteckt):
Voltaire verwendet „Petites-Maisons“, die „kleinen Häuser“, die zu dem Kloster in Saint- Germain-des-Prés in Paris gehört hatten und seit 1557 als Krankenhaus und Altenheim fungierten. Zunächst für Arme eingerichtet, lebten dort auch ca. 400 Pariser Bürger, die nicht arm waren und auf Kosten ihrer Familien untergebracht wurden. Für sie war das Grand Bureau des Pauvres zuständig, das bei ihrem Tod ihr Erbe erhielt. Im 18. Jh. hatte das Krankenhaus vier Abteilungen, von denen eine für die Geisteskranken zuständig war. Die ist auch in den vielen Zitaten gemeint, wenn von den Petites Maisons die Rede ist, in die die politischen Gegner eigentlich hineingehörten.

Anmerkung 11 (Seite 351, „Geschichte der Heiligen Maria, der Ägypterin“):
Der Tag der hl. Maria von Ägypten (345-421) wird am 2. April gefeiert. Sie floh mit 12 Jahren aus dem väterlichen Haus in Alexandria und verbrachte nach Petro de Ribadeneira (spanischer Jesuit 1527 -1611, dem Maria in seinen Lebensbeschreibungen von Heiligen ganz offenbar die Phantasie beflügelte), ein Leben, „indem sie alle Arten des Lasters auskostete, nicht für Geld oder anderweitige Vergünstigungen, sondern lediglich, um ihre Lust zu befriedigen“. Als Maria ein Schiff besteigen wollte, um nach Jerusalem zu fahren, beschloss sie, als Bezahlung ihren Körper all denen anzubieten, die ihn begehrten und verursachte so einen Skandal unter den Pilgern. Nach ihrer Bekehrung zum Christentum tat sie Buße und lebte, ganz nackt, aber von den langen Haaren vollständig bedeckt, 47 Jahre lang in der Wüste. Als sie starb, kam ein Löwe , leckte ihr die Füße und grub mit seinen Tatzen ihr Grab. Nach Ribadeneira ereignete sich die Bekehrung natürlich in Jerusalem, Voltaire verlegte sie nach Ägypten.

Anmerkung 12 (Seite 352, „die heidnische Religion hat sehr wenig Blut vergossen, die unsere hat die Erde damit bedeckt“):
Nach Plinius (n.h. XXXI) und Plutarch (Quaest. Roman. LXXXIII, 283f.) wurden in Rom Menschenopfer durch einen Senatsbeschluss des Jahres 97 v.u.Z. abgeschafft. Vorher hat es dort Menschenopfer gegeben – Voltaire erwähnt es in La Philosophie de l’histoire: „Denn während man sonst beim Gottesdienst keine wilden, barbarischen Sitten kannte, sondern im Ganzen den milden griechischen Anschauungen folgte, so fühlten sich die Römer damals beim Ausbruch des Krieges (gegen die Kelten, 225 v.u.Z.) gedrungen, … zwei Griechen, Mann und Frau, und ebenso zwei Gallier auf dem sogenannten Rindermarkt lebendig zu begraben;“ (Plutarch, Marcellus 3). S. auch Schwenn, Friedrich, Die Menschenopfer bei den Griechen und Römern (1915, S. 186).

Anmerkung 13 (Seite 353 Ende des Artikels: ab der 1765 erschienenen Ausgabe des Dictionnaire Philosophique (Editionsort Varberg) fügte Voltaire hier eine achte Frage an, die ein interessantes Licht auf seine Position in Glaubensdingen wirft:

Achte Frage

Muss man nicht sorgfältig die Staatsreligion und die Religion der Theologen unterscheiden? Die des Staates fordert, dass die Imame Register der Beschnittenen führen, die Pfarrer oder Priester Register der Getauften, dass es Moscheen, Kirchen, Tempel gebe, Tage, die der Anbetung und der Ruhe gewidmet sind, durch das Gesetz festgelegte Riten; dass die Ausführenden dieser Riten Ansehen ohne Macht genießen; dass sie dem Volk die guten Sitten beibringen, und dass die Diener des Gesetzes über die Diener der Tempel wachen. Diese Staatsreligion kann zu keiner Zeit irgendwelche Zwistigkeiten hervorrufen.
Mit der Religion der Theologen ist es nicht das Gleiche; diese ist die Quelle aller Dummheiten und aller vorstellbaren Zwistigkeiten; sie ist die Mutter des Fanatismus und der Zwietracht der Bürger, das ist der Feind der menschlichen Gattung. Ein Bonze behauptet, dass Fo ein Gott ist, dass er von den Fakiren vorhergesagt wurde, dass er von einem weißen Elefanten geboren wurde, dass jeder Bonze mit ein paar Grimassen einen Fo machen kann. Ein Talapoin sagt, dass Fo ein heiliger Mann war, dessen Lehre die Bonzen verdorben haben und dass Sammonocodom der wahre Gott ist. Nach hundert Argumenten und hundert Widerrufen kamen die beiden Parteien überein, sich an den Dalai Lama zu wenden, der dreihundert Meilen von ihnen entfernt verweilt und der unsterblich und sogar unfehlbar ist. Die beiden Parteien schicken ihm eine feierliche Deputation. Der Dalai Lama beginnt nach seinem heiligen Brauch damit, ihnen die Ausbeute seines geschlitzten Stuhls [Anm. CV: Der geschlitzte Stuhl war der damals in Frankreich übliche Ausdruck für Nachttopf] auszuteilen.
Die beiden rivalisierenden Sekten erhalten ihn zunächst mit dem gleichem Respekt, lassen ihn in der Sonne trocknen, und fügen ihn zu kleinen Rosenkränzen zusammen, die sie andachtsvoll küssen. Doch seit der Dalai Lama und sein Rat sich im Namen Fos ausgesprochen haben, gibt es die verurteilte Partei, die die kleinen Rosenkränze dem Vize-Gott an die Nase wirft und ihm hundert Schläge mit Steigbügelriemen geben will. Die andere Partei verteidigt ihren Lama von dem sie gutes Land erhielt; alle beide bekämpfen sich lange Zeit; und wenn sie es müde sind, sich gegenseitig zu zerstören, zu ermorden, zu vergiften, ergehen sie sich in heftigen Schmähungen; und der Dalai Lama lacht darüber und verteilt noch weiterhin den Inhalt seines geschlitzten Stuhls an jeden, der gerne die Absonderungen des guten Vaters der Lamas erhalten will.