Philosophisches Taschenwörterbuch: Catéchisme du Japonais – Katechismus des Japaners (Kommentare)

Über Geschmack kann man bekanntlich nicht streiten, besser: streiten schon, aber nicht entscheiden, denn er ist subjektiv und jede subjektive Vorliebe, so seltsam sie auch wäre, hat ihre Berechtigung. Der eine mag Kaviar, der andere verabscheut ihn. Auch religiöse Vorlieben sind rein subjektiv, der eine verehrt Allah, der andere Jesus, der dritte Huizilopochtli. Versteckt hinter einem Streit um die beste Küche demonstriert Voltaire, wie absurd Streitigkeiten um die beste Religion sind und wie gefährlich es ist, wenn nur eine Religion das Sagen hat. Besser, es gibt zwölf davon und einen robusten Staat, der das Toleranzgebot auf seinem Territorium durchsetzt. Wenn man doch schon über den richtigen Geschmack nicht entscheiden kann, wie erst über die Frage nach dem richtigen Gott, den noch niemand sinnlich wahrgenommen hat.

Hintergrund:
A
. England und Frankreich im 18. Jahrhundert:
England war nach dem Sturz nicht nur der katholischen Kirche (1534 d. Heinrich VIII und 1648 d. Cromwell), sondern auch aufgrund der Beschneidung der königlichen Macht durch ein starkes, aufstrebendes Bürgertum – der Vorgang ist unter dem Begriff der Glorious Revolution (1688/89) bekannt -, auf dem Weg zur führenden Weltmacht. Die Befreiung der Wissenschaft vor religiöser Bevormundung führte zu bedeutenden Entdeckungen und zur kräftigen Steigerung der Produktivität durch den daraus resultierenden technischen Fortschritt, siehe (Der Japaner), S. 141:
„…unsere Reichtümer nehmen zu, und wir haben zweihundert Liniendschunken, und sind der Schrecken unserer Nachbarn.“
Voltaire hatte die Vorzüge Englands während seines Exils 1726-1728 kennen- und schätzen gelernt. In seinen Philosophischen Briefen, die in Frankreich umgehend verboten wurden, berichtet er von den dortigen Entwicklungen. In Frankreich dagegen war die starke absolutistische Zentralmacht, weil sie von der katholischen Kirche unterstützt und vom Bürgertum verwaltet wurde, in der Lage, die alten, regional verstreuten Kräfte des Feudalismus niederzuhalten. Die schwankenden Kräfteverhältnisse zwischen den einzelnen Fraktionen bewirkte ein ständiges Auf- und Ab der religiösen und geistigen Unterdrückung im Land und führte dazu, dass Frankreich gegenüber England ins Hintertreffen geriet.

B. Veröffentlichungen im 18. Jahrhundert
– Voltaire, Lettres philosophiques von 1733, in denen er die gesellschaftlich intellektuelle Lage in England beschreibt.
– Voltaire, Essai sur les moeurs, Cramer: Genf, 1775. Im Kapitel 179 -182 behandelt Voltaire die Geschichte Englands seit Cromwell und bis Karl II.
– Rapin-Thoyras, Paul de (1661 – 1725), Jurist, Verfasser der ersten französischsprachigen Geschichte Englands, aus hugenottischer Familie. 1685, nach der Aufhebung des Edikts von Nantes, ging er ins engl. Exil. In seinem teils posthum erschienen Lebenswerk Histoire d’Angleterre, La Haye: de Rogissart, 1724 – 1735, 12 Bd., beschreibt er die unglaubliche Machtfülle der Katholika in England, die es ihr erlaubte, das Land buchstäblich auszusaugen. Das Werk wurde ins Deutsche (1758 – 1760) und ins Englische (1789) übersetzt.

Die folgenden Anmerkungen zu einzelnen Textstellen beziehen sich mit ihren Seitenangaben auf die von uns bei Reclam herausgegebene Ausgabe des Philosophischen Taschenwörterbuchs (2020):

Anmerkung 1: S. 137. Der Japaner: „Ganz und gar nicht, wir haben uns während nahezu zwei Jahrhunderten verfolgt..“). Das heißt, von Heinrich VIII 1534 bis 1688/9, der Glorious Revolution. Erst seitdem kehrte in England in religiösen Fragen relative Ruhe ein.

Anmerkung 2: (S.139 Der Japaner: „Die Quäker waren niemals von der Raserei besessen“). In Voltaires Philosophischen Briefen sind die ersten vier Kapitel den Quäkern gewidmet. Er lernte in London deren Religion kennen und verschaffte sich selbst ein Bild dieser nicht verfolgerischen Religionsgemeinschaft. Sie waren es, so lange sie selbst verfolgt wurden (1662 verboten, 1689 durch den Toleration Act wieder erlaubt) und blieben es sogar als dominante Religion in Pennsylvania.

Anmerkung 3: (S.140 Der Inder: „Es muss doch eine Küche geben, die die vorherrschende ist, nämlich die des Königs“). Voltaire stellt hier das Prinzip der englischen Staatskirche vor, der die Verfassung ein Ämterpatronat zugesteht, wenn sie sich nur für das vom Bürgertum erzwungene System der konstitutionellen Monarchie engagierte. Das war auch im 18. Jahrhundert noch ihre wichtigste Aufgabe, worin sie sich nicht von der katholischen Staatskirche in Frankreich unterschied, nur dass es sich dort um den Absolutismus handelte, aus dessen Vormundschaft sich das Bürgertum vor der Revolution noch nicht hatte befreien können.

Anmerkung 4: (S.142 Der Inder: „Japan, wo früher…“ ). Das Zitat von Louis Racine lautet im Original:
« L’Angelterre, ou jadis brilla tant de lumière/Recevant aujourd’hui toutes réligions/ N’est plus qu’un triste amas de folles visions » (Poème sur la Grace (1720). Er behauptet also, England würde keine intellektuellen Leistungen mehr hervorbringen, weil es jetzt so viele unterschiedliche Religionen dulde. Voltaire erklärt (der Japaner, ebd.), dass gerade weil es keine religiöse Unterdrückung gibt, die Wissenschaft in England floriert. Newton wäre ohne die größere religiöse Freiheit unmöglich gewesen und auch die technischen Erfindungen, die das Leben erleichtern und den Profit erhöhen, wie z.B. die Strumpfstrickmaschinen, wurden erst auf dem Boden der religiösen Toleranz möglich. Das ist nichts anderes als die Lehre Francis Bacons und John Lockes, nur umgekehrt: Meinen diese, da die Wissenschaft keine Autoritätsbeweise akzeptiert, sondern induktiv und empirisch vorgeht, dass die Kenntnisse über die Natur im Laufe der Zeit zu-, gleichzeitig aber religiöse Vorurteile und Aberglauben abnehmen, erklärt hier Voltaire, dass die Wissenschaft nur dort entsteht, wo die dogmatische geistige Alleinherrschaft der Kirche gebrochen wurde.