Anlässlich der Pestepidemie in Italien: Gerüchte, lächerliche Gegenmaßnahmen und Übertreibungen, Panik und Aberglaube.
Neujahrsbrief Voltaires an Katharina II. von Russland

                                                                           Zu Ferney, 1. Januar 1772
Madame,
ich wünsche Eurer Kaiserlichen Majestät für das Jahr 1772 nicht Vermehrung des Ruhms, denn dieser ist größer nicht möglich, sondern eine Vermehrung der Nasenstüber für Moustapha und seine Wesire, einige neue Siege, dass Ihr Hauptquartier in Adrianopel (heute Edirne, westlich von Istanbul) liegen möge und den Frieden.*

[….] Noch weiß ich nicht, Madame, ob es wirklich die Pest ist, die Moskau ergriffen hat, aber in unserer Nachbarschaft ist sie. Wie man hört, sandte sie in Cremona an einem Tag fünfhundertfünfzig Menschen zu Gott. Sollte sie nur acht Tage angedauert haben, gibt es niemanden mehr in dieser Stadt. Man behauptet, sie wäre von der Messe aus  Sinigallia (bei Ancona) gekommen, ein Landstrich an der Adriaküste, der meinem heiligen Vater, dem Papst, gehört. Da die Päpste die Fürsten nicht mehr entthronen können, schicken sie ihnen diese Geißel Gottes zu, um sie zur Bekehrung zu bringen. Die Pest könnte aber, da sie ganz aus der Nähe Unserer Lieben Frau von Loreto gekommen ist, durchaus ihren Weg über Rom nehmen. Es wäre doch schade, wenn der Großinquisitor und das heilige Kollegium mit Pestbeulen geschlagen würden.

Tatsache ist, dass Genf, meine Nachbarin, von ganzem Herzen zittert und bebt, da sie mehr mit Cremona als mit Rom Handel treibt; aber sicherlich werden die Prozessionen der Katholiken die Luft gereinigt haben, bevor die Pest nach Ferney kommt, welches inmitten von Ketzern liegt.

[….] Ich werfe mich Eurer Kaiserlichen Majestät zum neuen Jahr 1772 zu Füßen, dessen ersten Tag ich zu erleben hoffe, denn er beginnt heute, auf den folgenden kann niemand mit Gewissheit rechnen.

Ihr Bewunderer und  sehr ergebener und leidenschaftlicher Diener.
Der alte Kranke aus Ferney.

P. S. Die Pest zu Cremona hat eben aufgehört; es wird gesagt, dass nichts passiert sei; vielleicht fängt sie morgen wieder an.

Anmerkung CV:
* Voltaire hoffte auf einen Sieg Russlands im fünften russisch-türkischen Krieg (1768-1774), um die Kräfte der Aufklärung zu stärken. Denn vom Islam waren im 18 Jahrhundert keine Freiheitsimpulse ausgegangen. 1774, im Frieden von Kütschük Kainardschi musste die Türkei unter anderem die Krim an Russland abtreten.