Philosophisches Taschenwörterbuch: Destin – Schicksal (Kommentare)

Dieser Kommentar gibt Hintergrundinformationen zu dem Artikel Destin aus dem Philosophischen Wörterbuch (1764) von Voltaire, das wir 2020 erstmals vollständig ins Deutsche übersetzt und im reclam Verlag herausgegeben haben. Das Buch gibt es gebunden und seit 2023 auch als Taschenbuch. Die Übersetzung des Artikels Critique besorgte Angelika Oppenheimer; es ist die erste Übersetzung ins Deutsche.


A. Hintergrund
Wenn wir heute von Schicksal sprechen, meinen wir etwas Unabänderliches oder Zufälliges, worauf wir keinen Einfluss haben, das aber unser Leben stark bestimmt. Wir akzeptieren, dass das Schicksal eines Menschen durch den Zufall der Geburt (das Geschlecht, in welche Familie man hineingeboren wird), durch die gesellschaftlichen Verhältnisse, oder aber durch Einflüsse der Natur (z.B. Krankheiten oder Naturkatastrophen) bestimmt wird.
Auf der anderen Seite sehen wir die Freiheit des Einzelnen in der Möglichkeit liegen, sich für oder gegen das schicksalhaft Vorbestimmte zu stemmen (zum Beispiel kann sich ein junger Mensch mit großer Energie und Ehrgeiz aus einfachen Verhältnissen herausarbeiten). Mehr noch, es erscheint heute sogar verwerflich, wenn sich einer in sein Los, sei es durch Herkunft, sei es durch Krankheit beschwert, widerstandslos ergibt. Hinter diesem Vorwurf verbirgt sich die Behauptung, dass die soziale Herkunft nicht so entscheidend sei, als dass der Einzelne nicht für seine Entwicklung selbst verantwortlich wäre: Jeder ist seines Glückes Schmied…
Dem bereitet eine Ideologie das Terrain, die marktschreierisch Biographien erfolgreicher Einzelner so weit in den Vordergrund schiebt (Fußballstars, Schauspieler, Musiker…), dass mit der ungleichen Chancenverteilung und deren Folgen kein Unrechtsempfinden mehr verbunden ist. Fast so wie im 18. Jahrhundert, in dem an den Privilegien der Adelsgesellschaft der „gemeine Mann“ nicht einmal im Schlaf zweifeln durfte.

B. Die Diskussion über das Schicksal im 18. Jahrhundert
Jede Debatte über das Schicksal hängt logischerweise mit der über den freien Willen zusammen: Wenn alles schicksalhaft bestimmt ist, bleibt vom freien Willen nichts mehr übrig und umgekehrt. Dem entsprechend kann man die Debatte um das Schicksal im 18. Jahrhundert als eine Entwicklung darstellen, die das menschliche Los von „gottgelenkt“ zu „eigenverantwortlich“ hinführt:

Wer, wie das fundamentalistische Christentum (Jansenisten und Calvinisten) an ein vom allmächtigen Gott gelenktes Schicksal glaubt, kann dem Einzelnen keine eigenen Willensentscheidungen einräumen – allenfalls kann er sich mit Gottes Gnade aus der Erbsünde befreien und auf zukünftige Erlösung hoffen.
Wenn dann Baruch Spinoza (1632-1677) Gott in der Natur aufgehen lässt, was ihm den Vorwurf des Atheismus eintrug, ändert dies an der Bedeutung des Schicksals zunächst einmal nicht viel: an die Stelle der göttlichen Allmacht tritt die der Natur und der Naturgesetze. Ähnlich bei Thomas Hobbes (1588-1679): Weil man bei jeder Entscheidung herausfinden kann, weshalb ein Mensch so und nicht anders gehandelt hat, argumentiert er, dass der Mensch nicht frei, sondern unter dem Einfluss seiner inneren Wünsche und Triebe handle.
John Locke (1632-1704), der wie Spinoza und Hobbes die christliche Prädestinationslehre (also dass alles vorherbestimmt ist) ablehnt, räumt dem Menschen im Unterschied zu diesen einen menschlichen freien Willen ein, der ihn in die Lage versetzt, sich zwischen verschiedenen Alternativen nach vernünftigen Kriterien zu entscheiden. Erstmals wird der Mensch nicht als Getriebener, nicht mehr als willenloses Instrument einer höheren Macht vorgestellt.

Sobald aber Gott vollständig hinter die Natur zurücktritt und in das Weltgeschehen nicht mehr eingreift, sich also, nachdem er die Welt erschaffen hat, in den wohlverdienten Ruhestand zurückzieht, ist die Vorstellung von der Allmacht des Schicksals nicht mehr zu halten. Zwar versuchen Alexander Pope (1688-1744) und Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) einen Rettungsanker zu konstruieren, indem sie dem von Gott erschaffenen Werk bescheinigen, es sei „die beste aller möglichen Welten“ und damit sämtlichen Schandtaten, Kriegen, Krankheiten und Verbrechen einen Freibrief erteilen (man weiß ja nie, wozu es gut ist…), dem Zweifel an der göttlichen Allmacht war damit aber nicht mehr beizukommen. Leibniz versuchte durch seine haarspalterische Unterscheidung zwischen Bestimmtheit und Notwendigkeit einerseits, Unbestimmtheit und Freiheit andrerseits, die Vorstellung von einem allmächtigen Gott zu retten . Die Sünde Adams war vorherbestimmt, aber nicht notwendig, sein Handeln war frei, aber nicht bedingungslos-unbestimmt. Und schließlich seien gerade die Strafen und Belohnungen dazu geschaffen, „den Willen ein anderes Mal zu einem besseren Handeln zu bestimmen“. (Theodizee, 369).
Auch wenn Leibniz von Pope insofern abweicht, als es bei ihm in der bestmöglichen Welt dem Menschen unverständliche, seltsame Zufälle und Übel gibt, konnten seine Anhänger mit der Behauptung, dass wir in der besten aller möglichen Welten lebten, die ein allmächtiger Gott geschaffen habe, nicht mehr überzeugen:

Als im Jahr 1755 in Lissabon 30.000 Menschen einem verheerenden Erdbeben zum Opfer fielen, kamen sie in ziemliche Erklärungsnot: Wie kann ein allmächtiger Gott gewollt haben, dass so viele unschuldige Menschen unter den Trümmern ihrer Häuser umkommen?
Die Zweifel nahmen eher noch zu.

Voltaire verkörpert diese Zweifel wie kein anderer. Er akzeptiert die Unabänderlichkeit wirkender Naturgesetze, insofern ist der menschliche Wille nicht vollkommen frei. Freiheit ist aber das Vermögen, unter verschiedenen Handlungsalternativen eine bewusste, vernunftgemäße Entscheidung darüber zu treffen, was man tun will (s. dazu auch den Artikel De la Liberté – Von der Freiheit). In einem Brief an den 26 jährigen Kronprinzen und späteren preußischen König Friedrich II (der im Übrigen zum Ärger seines Vater von der Macht des Schicksal überzeugt war) leitet er seinen Freiheitsbegriff her. Wir fügen den gesamten Abschnitt, neu übersetzt, im Quellenverzeichnis ein, weil er exemplarisch die Argumente der Aufklärung gegen die verbleibende Gottesfürchtigkeit zusammenfasst.

Über Voltaire weit hinaus gehen Rousseau und Helvétius: Sie sehen die Einschränkungen durch das Schicksal (durch Geburt, durch Erziehung) als gesellschaftlich bedingt, d.h. als relativ und prinzipiell durch Menschen veränderbar an und halten an der Existenz eines freien Willens des Einzelnen fest. Der Mensch kann sich den gesellschaftlich bedingten Einschränkungen in freier Willensentscheidung widersetzen und somit sein Schicksal, wenn nicht selbst gestalten, so doch wenigstens beeinflussen. Sie betonen die Bedeutung der Erziehung und hoffen darauf, dass eine breite Schicht von besser gebildeten und erzogenen Menschen auch die Gesellschaft gerechter mache, hofften also auf eine Veränderung von unten, während Voltaire – vergebens – noch auf die aufgeklärten Fürsten setzte.

C. Quellen
– Bayle, Pierre, Réponse aux questions d’un provincial, Rotterdam: Reinier Leers 1704 6 Bd
Pluquet, François André Adrien, Examen du fatalisme: ou Exposition & réfutation des différens systêmes de fatalisme qui ont partagé les philosophes sur l’origine du monde, sur la nature de l’âme et sur le principe des actions humaines, Paris, Didot & Barrois, 1757, 3 vol.
[Pluquet (1716 – 1790) vertitt die Anschauung, dass das Böse – wie Naturkatastrophen – einen positiven Effekt auf die Menschen haben kann. Sie gegen Gott zu positionieren, sei somit grundverkehrt.]

Dieses Buch gibt einen Überblick über über die Einführung des Fatalismus bei den ältesten Völkern, in Ägypten, Chaldäa, Indien und den anderen Ländern des Orients und verfolgt seinen Fortschritt in den verschiedenen Schulen Griechenlands bis zum Ursprung des Christentums und von dieser Zeit an bis zum Untergang des Niederen Reiches.

Pluquet erläutert die wichtigsten fatalistischen Gruppierungen unter den Christen des Ostens und des Westens, den Einfluss des Judentums. Er zeigt, wie die Denksysteme von Aristoteles, Pythagoras, Platon, Zenon, Anaximander, Diogenes von Apollonia und Epikur mit der Auswanderung der griechischen Gelehrten nach Italien neue Schulen des Fatalismus hervorbrachten. Er verfolgt die Einführung der Vernunft in die Wissenschaften durch Francis Bacon, der die Vorurteile untergrub, indem er das Denken befreite, damit es durch methodischen Zweifel zur Wahrheit gelangen konnte, eine Methodik, die, so Pluquet, alsbald von Hobbes und Spinoza aufgegriffen und missbraucht worden sei, um den Fatalismus in neuen Formen wieder einzuführen. Die Systeme von Toland, Collins, La Mettrie und einigen anderen weniger bekannten Schriftstellern werden vom Autor ebenfalls dargelegt und – natürlich – bekämpft.

Pluquet schrieb auch ein dreibändiges Ketzerlexikon, zwar ist das ein anderes Thema, aber zu seiner Charakteristik lese man aus diesem Buch den auf deutsch übersetzten Artikel über Luther (Tenor: Alles war ruhig und friedlich – bis dieser Luther kam).

Leibniz, Gottfried Wilhelm, Die Theodizee von der Güte Gottes, der Freiheit des Menschen und dem Ursprung des Übels, Darmstadt: Wiss. Buchges., 1985

Voltaire, Zadig ou la déstinée, histoire orientale 1748, [dt. erstmals 1748: Zadig, eine gantz neue morgenländische Geschichte, Göttingen: Vandenhöck 1748],

– Voltaire, Brief an Friedrich II vom 23.1.1738 (D1432), hier der erwähnte Auszug, in dem er die Beziehung zwischen Schicksal und freiem Willen erklärt:
Zunächst einmal stelle ich fest, dass Eure Königliche Hoheit die Auffassung von Leibniz und Wolff vom zureichenden Grund teilt. Das ist eine sehr schöne Idee, das heißt, eine sehr wahre Idee: Denn schließlich gibt es nichts, das keine Ursache hat, nichts, das keinen Grund für seine Existenz hätte. Schließt diese Idee die Freiheit des Menschen aus?

1. Was verstehe ich unter Freiheit? Die Fähigkeit zu denken und entsprechend zu handeln; eine sehr begrenzte Fähigkeit, wie alle meine Fähigkeiten.

2. Bin ich es, der denkt und handelt? Ist es ein anderer, der all das für mich tut? Wenn ich es bin, bin ich frei: Denn frei zu sein bedeutet zu handeln. Was passiv ist, ist nicht frei. Handelt ein anderer für mich? Dann werde ich von diesem anderen getäuscht, wenn ich glaube, selbst zu handeln.

3. Wer ist dieser andere, der mich täuschen möchte? Entweder gibt es einen Gott oder nicht. Wenn es einen Gott gibt, dann ist er es, der mich ständig täuscht. Er ist das unendlich weise, unendlich konsequente Wesen, das sich ohne zureichenden Grund ewig mit Irrtümern beschäftigt, die seinem Wesen, das die Wahrheit ist, direkt entgegenstehen.

Wenn es keinen Gott gibt, wer täuscht mich dann? Ist es die Materie, die von sich aus keine Intelligenz hat?

4. Um uns trotz unseres inneren Gefühls, trotz dieses Zeugnisses unserer Freiheit, zu beweisen, dass diese Freiheit nicht existiert, muss man notwendigerweise beweisen, dass sie unmöglich ist. Das scheint mir unbestreitbar. Sehen wir uns an, warum sie unmöglich sein könnte.

5. Diese Freiheit kann nur auf zwei Arten unmöglich sein: entweder weil es kein Wesen gibt, das sie geben kann, oder weil sie in sich selbst ein Widerspruch ist, so wie ein Quadrat, das länger als breit ist, ein Widerspruch ist. Da aber die Idee der Freiheit des Menschen an sich nichts Widersprüchliches enthält, bleibt zu prüfen, ob das unendliche und schöpferische Wesen frei ist und ob es, wenn es frei ist, einen Teil seiner Eigenschaft dem Menschen geben kann, so wie es ihm einen kleinen Teil seiner Intelligenz gegeben hat.

6. Wenn Gott nicht frei ist, ist er kein Handelnder: also ist er nicht Gott. Ist er jedoch frei und allmächtig, folgt daraus, dass er dem Menschen die Freiheit geben kann. Es bleibt also die Frage, welchen Grund man hätte zu glauben, dass er uns dieses Geschenk nicht gemacht hat.

7. Es wird behauptet, dass Gott uns keine Freiheit gegeben hat, weil wir, wenn wir handelnde Wesen wären, in dieser Hinsicht unabhängig von ihm wären: Und was würde Gott tun, sagt man, während wir eigenständig handelten? Darauf antworte ich zweierlei: 1. Was Gott tut, wenn die Menschen handeln, ist das, was er tat, bevor sie waren, und was er tun wird, wenn sie nicht mehr sind; 2. Seine Macht ist für die Erhaltung seiner Werke notwendig und diese kleine Freiheit, die er uns gewährt, schadet seiner Allmacht keinesfalls, da sie selbst eine Wirkung seiner unendlichen Macht ist.

8. Es wird eingewandt, dass wir uns manchmal gegen unseren Willen zu etwas hinreißen lassen, und ich antworte: Also sind wir manchmal auch Herr über uns selbst. Krankheit beweist, dass es Gesundheit gibt, und Freiheit ist die Gesundheit der Seele.

9. Man fügt hinzu, dass die Zustimmung unseres Geistes notwendig ist und dass der Wille dieser Zustimmung folgt: folglich will und handelt man notwendigerweise. Ich antworte, dass man in der Tat notwendigerweise begehrt; aber Begehren und Wille sind zwei sehr unterschiedliche Dinge, und zwar so unterschiedlich, dass ein weiser Mensch oft will und tut, was er nicht begehrt. Seine Begierden zu bekämpfen ist die schönste Wirkung der Freiheit, und ich glaube, dass eine der großen Ursachen für das Missverständnis, das zwischen den Menschen in dieser Frage besteht, darin liegt, dass man oft den Willen und das Begehren verwechselt.

10. Es wird eingewandt, dass es keinen Gott gäbe, wenn wir frei wären; ich glaube hingegen, dass wir gerade deshalb frei sind, weil es einen Gott gibt. Denn wenn alles notwendig wäre, wenn diese Welt aus sich selbst heraus existierte, aus einer absoluten Notwendigkeit heraus (was voller Widersprüche ist), dann wäre es sicher, dass in diesem Fall alles durch notwendigerweise miteinander verbundene Abläufe geschehen würde: Es gäbe also keine Freiheit; ohne Gott gäbe es also keine Freiheit. Ich bin sehr überrascht, dass die Überlegungen zu diesem Thema dem berühmten Herrn Leibniz entgangen sind.

11. Das übelste Argument, das jemals gegen unsere Freiheit vorgebracht wurde, besagt, dass sie mit der göttlichen Vorsehung unvereinbar sei. Und wenn man mir sagt: Gott weiß, was Sie in zwanzig Jahren tun werden, also ist das, was Sie in zwanzig Jahren tun werden, absolut notwendig, dann gebe ich zu, dass ich am Ende bin, dass ich nichts zu antworten habe und dass alle Philosophen, die zufällige Ereignisse in der Zukunft mit der Vorhersehung Gottes in Einklang bringen wollten, sehr schlechte Gesprächspartner waren. Es gibt genug Determiniertes, um zuzugestehen, dass Gott künftige Zufälligkeiten sehr wohl ignorieren kann, ungefähr so, wie auch ein König, wenn ich so sagen darf, nicht wissen kann, was ein General tun wird, dem er alle Vollmachten gegeben hat“.
.
Ich gestehe, dass man gegen die Freiheit vorzügliche Argumente vorbringt; doch ebenso gute bringt man gegen die Existenz Gottes vor.


D. Literaturhinweise:
– Hellwig, Marion, Alles ist gut: Untersuchungen zur Geschichte einer Theodizee-Formel im 18. Jahrhundert in Deutschland, England und Frankreich. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2008, 384 S. (Hellwig gibt einen hervorragenden Überblick über die Debatte im 18.Jahrhundert und die Positionen Voltaires, Rousseaus, Resnels, Bolingbrokes und u.v.a. zu Popes „Alles was ist, ist gut“ sowie über die eingereichten Arbeiten zur Preisfrage der Preußischen Akademie von 1753:
„Die Aufgabe besteht darin, das in der Aussage Popes (All whatever is, is right) enthaltene System zu untersuchen, insbesondere:
1. Zu bestimmen, was diese Aussage im Sinne des Autors bedeutet.
2. Sie zu vergleichen mit dem System des Optimismus, bzw. der bestmöglichen Welt, um genau die Unterschiede und die Beziehungen festzustellen.
3. Schließlich die Gründe anzuführen, von denen man glaubt, dass sie das System stützen oder aber vernichten.“- Rehlinghaus, Franziska, Zur Relevanz des Unverfügbaren zwischen Aufklärung und Erstem Weltkrieg, Göttingen: Vanderhoeck, 2015, 479 S. (beschäftigt sich vornehmlich mit der Geschichte des Schicksalsbegriffs in Deutschland)
– Zanconato, Alessandro, Le dispute du fatalisme en France 1740-1760, 2004, Paris : Université de Sorbonne, 755 p. (Stark von der Position Popes ausgehend. Verfolgt die Debatte unter dem Aspekt, wie nah oder fern ihr die einzelnen Protagonisten sind. Das Buch leidet am „Insidersprech“, oftmals typisch für eine Dissertationsschrift).

Die folgenden Anmerkungen zu einzelnen Textstellen beziehen sich mit ihren Seitenangaben auf die von uns bei Reclam herausgegebene Ausgabe des Philosophischen Taschenwörterbuchs (2020):

Anmerkung 1: (S.185-186, 1.Absatz): Voltaire folgt hier den Ausführungen von Pluquet, Examen du fatalisme (s.o.) ohne dessen Wertungen zu übernehmen. Dieses dreibändige Werk befand sich in seiner Bibliothek (s. dazu das online Verzeichnis bei www.c18.net)

Anmerkung 2 (S. 186, 2. Absatz, „Die Philosophen hatten niemals weder Homer noch die Pharisäer nötig.“): Dieser und die nächsten beiden Absätze zeigen Voltaire als Anhänger eines naturgesetzlichen Determinismus: „Alles ist geregelt, miteinander verknüpft und begrenzt“, darin den Positionen von Hume (aber auch von Spinoza und Pope) sehr nahe.

Anmerkung 3 (S.186, 6.Absatz, „Wenn Du das Schicksal einer Fliege durchkreuzen könntest … wärst Du mächtiger als Gott“)
Wer eine Fliege tötet, ändert ihr Leben in diesem einen Moment, nicht aber ihr gesamtes vorhergehendes Leben. .

Philosophisches Taschenwörterbuch: Critique – Kritik (Kommentare)

Dieser Kommentar gibt Hintergrundinformationen zu dem Artikel Critique aus dem Philosophischen Wörterbuch (1764) von Voltaire, das wir 2020 erstmals vollständig ins Deutsche übersetzt und im reclam Verlag herausgegeben haben. Das Buch gibt es gebunden und seit 2023 auch als Taschenbuch. Die Übersetzung des Artikels Critique besorgte Angelika Oppenheimer; es ist die erste Übersetzung ins Deutsche.

A. Hintergrund: Streit zwischen den Anhängern der Antike mit den Modernen

Voltaires Artikel Critique bezieht sich auf die Debatte zwischen den Freunden der Antike und den Modernen, die in Frankreich Ende des 17. Jahrhunderts begann, aber im 18. Jahrhundert fortgeführt wurde. Schon im einleitenden Abschnitt spielt Voltaire auf diese Debatte an und auch die Schriftsteller, die er erwähnt, waren Protagonisten der sogenannten Querelle des Anciens et des Modernes.
Dabei ging es um die Frage, ob die Kunst der Antike für alle Zeiten Vorbildfunktion haben sollte, oder ob in einer Zeit, wo unter Ludwig XIV. Wissenschaft und Technik in Frankreich bisher unerreichte Höhen erklommen hatten, auch die Gegenwartskunst Mittel und Wege finden sollte, um an den antiken Vorläufern vorbeizuziehen. Die Freunde der Antike versammelten sich um Nicolas Boileau-Despréaux, die der Moderne um Charles Perrault.
Nicolas Boileau-Despréaux (1636-1711) war ein Autor satirischer Komödien, von Elogen auf Ludwig XIV und theoretischer Schriften. Einflussreich wurde vor allem seine Art poétique, in der er die Aristotelischen Regeln für das Theater zum Maßstab aller neueren Werke erhob. Er war mit Molière, Racine und La Fontaine befreundet. Im Unterschied zu diesen ist er heute weitgehend in Vergessenheit geraten. 1684 wurde er in die Académie Française aufgenommen. Als er sich gegen Ende des 17. Jhdts. den Jansenisten zuwandte und die Jesuiten attackierte, fiel er in Ungnade.
Charles Perrault (1628 – 1703) wurde 1671 in die Académie aufgenommen und war dort der Anführer der Modernen. Mit seinem Versepos  Le Siècle de Louis le Grand (1687), das er in der Académie vortrug, eröffnete er den Angriff auf die Freunde des Altertums. Perrault ist heute vor allem durch seine Märchensammlung Les Contes de ma mère l’Oye (1697) [dt.: Märchen nach Perrault neu erzählt) bekannt, die in Deutschland auch die Brüder Grimm inspirierte.

Die Debatte um Antike und Moderne war nicht bloß eine Positionsbestimmung der Kunst, sondern auch der Politik. Die Modernen feierten den französischen Absolutismus als höchste Blüte der menschlichen Geschichte, während, wer die Antike lobte, den Absolutismus indirekt kritisierte, oder sich zumindest ein unangreifbares Rückzugsgebiet schuf. Der Humanismus, in der Renaissance entstanden, wo er die Antike gegen das mittelalterliche Christentum positionierte, sah sich jetzt mit einer neuen Geisteshaltung konfrontiert, deren Protagonisten den Fortschritt in den Mittelpunkt stellten und, der Zukunft zugewandt, mit den Alten nichts mehr anfangen konnten – oder wollten – und gewissermaßen den Humanismus selbst als überholt ansahen.

Die Debatte begann 1687 und spielte sich unter den Mitgliedern der Académie Française ab, die Louis XIV. installiert hatte, um eine ihm genehme Kulturpolitik finanziell mindestens ebenso gut auszustatten, wie es die theologischen Fakultäten waren.

Auch im 18. Jahrhundert wurde über diese Frage noch erbittert gestritten. Die Positionen der Aufklärer waren dabei nicht eindeutig pro oder contra Antike/Moderne. Was die Philosophie angeht, positionierte sich zumindest Voltaire ganz klar: „Locke allein wäre ein hervorragendes Beispiel für den Vorzug, den unser Zeitalter vor den schönsten Tagen Griechenlands voraus hat“ (Zeitalter Ludwig XIV, Bd II, S. 93). Eine eher vermittelnde Position vertrat er in der Kunst.

Die Fortschrittslehre konnte sich generell auf dem Gebiet der Kunst nicht wirklich durchsetzen, im Gegenteil schien es so (z.B. Diderot in seinem Artikel Encyclopedie), als ob die Kunst gerade durch die enormen Fortschritte in der Wissenschaft und Technik unter Druck geraten sei und hier eine Besinnung auf die Antike heilsam sein könnte, um von dort neu aufzusetzen. Die Antike behielt ihre Vorbildfunktion gegenüber der Moderne.
Auch, was die Gesellschaft, das Zusammenleben der Menschen betraf, galt das demokratische Athen für viele noch immer als Prüfstein für die Modelle der neuen Zeit. Und tatsächlich entfaltete sich während der französischen Revolution ein regelrechter Antikenkult. Im Namen der antiken Ideen von Republik, Demokratie und Religionsfreiheit wurde die absolute Monarchie und ihre Einheitsreligion, Idole der Moderne, weggefegt.

Werner Krauss, Professor für Romanistik in der DDR und Spezialist für die Aufklärung, veröffentlichte 1966 ein Buch mit dem Titel Antike und Moderne, in dem er die Diskussion zusammenfasst und mit einer Vielzahl von Texten in Originalsprache illustriert. Er griff damit auch in eine ganz ähnliche, in der DDR geführte Diskussion ein: In der sozialistischen Republik war es die deutsche klassische Literatur, die von den dortigen Eliten, ganz ähnlich wie im 18. Jahrhundert die Antike, zum Maßstab für gute Literatur erklärt wurde. Berthold Brecht, aber auch Peter Hacks stellten sich dem entgegen und forderten, dass eine dem Sozialismus angemessene Kunst zu entwickeln sei. Brecht schuf dafür sein episches Theater und er bezweifelte, dass die Klassik Goethes dazu geeignet sei, das Bewusstsein der Menschen im Sozialismus weiterzuentwickeln.
Speziell auf die Annahme, dass die Katharsis des antiken Theaters für die Menschen im Sozialismus ein adäquates Mittel sei, um gesellschaftliche Widersprüche zu begreifen (aufzuheben – Georg Lukacs), reagierte Brecht ablehnend. Für ihn stand fest, dass Widersprüche nicht geglättet werden dürfen, wenn es – dialektisch – zu einer produktiven Lösung kommen soll.

Vor dem Hintergrund dieser Diskussion arbeitete Krauss in seinem bedeutenden Artikel Der Streit der Altertumsfreunde mit den Anhängern der Moderne und die Entstehung des geschichtlichen Weltbildes heraus, welch gravierenden Folgen die Querelle für das Begreifen der Geschichte hatte:

  • Nicht mehr ein einzelner König, Krieger, Held ist das Subjekt des Weltgeschehens, sondern die Nation und das Volk.
  • Die Theologie verliert ihre Deutungshoheit über die Geschichte. Die Ursache für geschichtliche Veränderungen ist nicht mehr der unerfindliche Wille Gottes. Gesellschaftliche Gründe werden für das Weltgeschehen „entdeckt“: Menschen verantworten ihre Geschichte selbst.
  • Nicht die kriegerischen, sondern die kulturellen Leistung stehen im Mittelpunkt des historischen Interesses.  Voltaire arbeitete dies in seiner Geschichte Karls XII klar heraus. Karl XII. große, aufopfernden militärischen Taten findet er zwar erstaunlich, aber nicht bewundernswert: „…doch steigerte er alle seine heldischen Tugenden bis zu einem Übermaß, wo sie ebenso gefährlich sind, wie die entgegengesetzten Laster…Seine großen Eigenschaften, von denen eine allein einen anderen Fürsten hätte unsterblich machen können, haben Schwedens Unglück bewirkt… Sein Leben sollte Könige lehren, wie hoch eine friedliche, glückliche Regierung über noch so viel Ruhm steht“. (Althaus, 1965, S.294/5)
  • Das zyklische Geschichtsbild, nachdem eine Epoche – ähnlich wie das Menschenleben –entsteht, zu Kraft kommt, um dann aber unterzugehen, wird abgelöst durch ein Geschichtsbild des kontinuierlichen Fortschritts. Auch die kleinsten Errungenschaften bringen die Menschheit voran, indem sie den Berg von Kenntnissen erhöhen. Auf dessen Gipfel reicht der Blick dann weiter als zuvor, sei es auch nur um ein weniges.
  • Die Quellenkritik tritt an die Stelle von suggestiven, meist klerikalen Darstellungen der Geschichte. Sie rückt auch etliche Vorstellungen vom antiken Leben und Denken zurecht. Objektive Tatsachen, die Beschreibung plausibler Abläufe, ersetzten in der Geschichtsschreibung die Darstellung der Geschichte als einer göttlichen Heilsordnung.

B. Quellen
– Werner Krauss, Antike und Moderne in der Literaturdiskussion des 18 Jahrhunderts, Berlin: Akademie, 1966, 383 S. Das Werk wird durch die beiden Grundlagentexte von Krauss und Kortum eingeleitet, es folgen in französischer Sprache eine Auswahl von Grundlagentexten zu der Debatte.
– Voltaire, Le siècle de Louis XIV [dt. Das Zeitalter Ludwigs XIV. Deutsch von Robert Habs, Leipzig: Philipp Reclam jun., 1887, 2 Bd. , oder xenonmoi: Berlin, 2015

C. Literaturhinweise
– Artikel Querelle des Anciens et des Modernes in Wikipedia
– zu Werner Krauss: Artikel in Wikipedia

Die folgenden Anmerkungen zu einzelnen Textstellen beziehen sich mit ihren Seitenangaben auf die von uns bei Reclam herausgegebene Ausgabe des Philosophischen Taschenwörterbuchs (2020):

Anmerkung 1 (S.177, 1. Absatz): Als „scoliaste“ bezeichnete man im 18. Jhdt. Kommentatoren von klassischen Texten der Antike.

Anmerkung 2 (S. 177, 2. Absatz: „las einmal mit mir zusammen Tasso“):
Torquato Tassos (1544-1595) Epos Das befreite Jerusalem, sein Hauptwerk, ist ein Loblied auf das heldenhafte Christentum, wie es sich gegenüber dem Islam behauptet, allerdings mit phantasievollen Einfällen angereichert. Der Modernist Quinault benutzte es als Vorlage für sein Libretto der Lully-Oper Armide (tragédie en musique). Der Anführer der Antiken, Boileau, kritisiert in seinen Satiren (Stanzen IX) den Quinaults Rückgriff auf Tasso („der falsche Glanz, das Flitterwerk“), dem Vergil („das Gold“), der von 70 – 19 v.u.Z lebte, deutlich vorzuziehen sei.
Voltaire las Tasso in der Originalsprache mit seiner Lebensgefährtin Emilie du Châtelet. In seinem Werk Essai sur la poésie épique (1728) widmet er Tasso ein ganzes Kapitel. Er stellt Tasso Homer gleich und hebt seine immense Bedeutung für die Literatur hervor.

Anmerkung 3 (S.178 1. Absatz: „was Euer Boileau Flitterglanz nennt“?): In seinem Zeitalter Ludwig XIV. schreibt Voltaire über Boileau: „Er versuchte sich als Anwalt und dann an der Sorbonne. Als er von diesen beiden Schikanen angewidert war, gab er sich nur seinem Talent hin und wurde zur Ehre Frankreichs“.

Anmerkung 4 (S.178, 2. Absatz: „die Opern von Quinault“): Philippe Quinault (1635 -1688)
Dramatiker, bekanntgeworden als Librettist der Opera Lyrique an der Seite Lullys. Seine Stücke waren ein bevorzugtes Opfer der Kritik Boileaus, während Charles Perrault seinen Freund vehement verteidigte und in ihm den bedeutendsten Dramatiker seiner Zeit sah.
Voltaire : …berühmt durch seine schönen lyrischen Gedichte, mit denen er die höchst unbilligen Satiren Boileaus ertrug » (Habs, II 373). Voltaire schätze ihn als Librettist Lullys höher ein als dessen Musik (372). Vor allem Liebesszenen habe er sehr gekonnt in Verse gesetzt.
Quinaults an Torquato Tassos Jérusaleme angelehnte Tragödie Armide kann als Höhepunkt seines Schaffens angesehen werden. S.a.: https://www.youtube.com/watch?v=8-TyPNWh64E

Anmerkung 5 (S.179, 1. Absatz: „bald Boursault, Hénault und dann wieder Quinault verunglimpfte“): Edme Boursault (1638-1701) griff Molière wegen dessen École des femmes an, weil die Frauen darin nicht dem christlichen Rollenbild entsprechen Molière verteidigte sich mit seinem Einakter Impromptu de Versailles. Als Boursault in seiner Komödie La satire des satires (pdf) Boileau erneut angriff, erwirkte dieser, dass das Stück gerichtlich verboten wurde.
Charles-Jean-François Hénault (1686-1770), auch Président Hénault genannt, weil er am Pariser Gerichtshof den Vorsitz über eine der Kammern innehatte. Schriftsteller u. Historiker, mit Voltaire befreundet, der vor allem dessen Chronologische Geschichte Frankreichs schätzte.

Anmerkung 6 (S. 179, 2. Absatz: „diese schöne Fassade des Louvre durch die sich Perrault unsterblich gemacht hat“): Claude Perrault (1613-1688), der Bruder von Charles (s.o.), war Mediziner und Architekt. Er entwarf die Fassade des Louvre. Die Anhänger der Anciens griffen ihn an, wohl weil er in seinem Bruder den Anführer der Modernisten hatte.

Anmerkung 7 (S.179, 3. Absatz: Sully/Orsat/Villeroi/Louvois/Colbert):
Der Duc de Sully (1559 -1641) war ein Vertrauter Heinrich IV und dessen Finanzminister.
Sullys Antipathie gegen die beiden genannten Orsat (1536 – 1604), Kardinal, Vermittler zwischen Kirche und frz. Regierung; und Villeroi (1542-1617), Außenminister unter vier verschiedenen Königen, brachte er in seinen Memoiren an vielen Stellen zum Ausdruck. Sie waren durch persönliche Animositäten beim Kampf um Einfluss bedingt, wie sie am Hofe nicht ausbleiben konnten.
Louvois (1641-1691), Kriegsminister unter Ludwig XIV und Erfinder der Dragonnaden. Mit dem großen Colbert (1619-1683), wie ihn Voltaire betitelt, Finanzminister unter Ludwig XIV., lag er wegen der Finanzierung seiner Kriege naturgemäß ständig im Streit.

Anmerkung 8 (S.179, 4. Absatz: La Motte: „ein verdienstvoller Mann,…, der Stanzen schrieb“): Antoine La Motte Houdard (1672-1731), war Dramaturg und Kritiker. Sein Hauptwerk ist die Tragödie Ines de Castro. 1714 verarbeitete La Motte einen größeren Ausschnitt aus einer kurz zuvor erschienenen Prosaübertragung der Ilias zu einer Version in Versen, womit er den Nachweis zu führen versuchte, dass dieser antike Autor in seiner Zeit zwar anerkennenswert gewesen sei, mit den modernen Autoren aber nicht mehr mithalten könne. Außerdem fand er, dass die Prosaversion der in Versen vorzuziehen sei. Als er hierauf von der Homerübersetzerin, Anne Dacire, einer Verehrerin der Antike, angegriffen wurde, antwortete La Motte mit der Schrift Réflexions sur la critique und löste damit eine Fortsetzung der Querelle des Anciens et des Modernes von 1687 aus.

Philosophisches Taschenwörterbuch: Égalité – Gleichheit (Kommentare)

Dieser Kommentar gibt Hintergrundinformationen zu dem Artikel Égalité aus dem Philosophischen Wörterbuch (1764) von Voltaire, das wir 2020 erstmals vollständig ins Deutsche übersetzt und im reclam Verlag herausgegeben haben. Zu jedem der 73 Artikel wird es eine Kommentarseite geben, die die Vorteile des Internets mit der soliden Basis eines gedruckten Buches verbindet (ungefähr die Hälfte der Artikel haben wir bisher kommentiert, siehe dazu unsere Übersichtsseite) , außerdem eine kurze Inhaltsgabe und zu jedem Artikel den französischen Originaltext. Das Buch gibt es gebunden und seit 2023 auch als Taschenbuch. Die exklusive Vorzugsausgabe in 300 Exemplaren ist ausverkauft.

A. Gleichheit als Naturrecht – Ungleichheit als Schicksal?

Um die Gleichheit in einer Gesellschaft zu messen, verfügen wir heute über verschiedene statistische Verfahren. Sie zeigen, dass in vielen Staaten die Vermögen mehr noch als die Einkommen sehr ungleich verteilt sind, dass die Chance, in der sozialen Stufenleiter aufzusteigen, meist nicht all zu hoch ist und dass die höheren Bildungseinrichtungen dem ärmeren Teil der Bevölkerung nahezu verschlossen bleiben . Wenn also die Wahrscheinlichkeit sehr hoch ist, dass die Kinder der ärmeren Bevölkerung ebenso arm bleiben wie ihre Eltern, sie ihrer Lage nur äußerst selten entkommen können, fragt es sich, ob es etwa an ihren defizitären Erbanlagen liegt, oder aber an der Art und Weise wie die Gesellschaft organisiert ist, in der sie leben. Die Antwort ist einfach. Wenn die DDR auch der Vergangenheit angehört, so hat sie doch lange genug existiert, um  eines zu beweisen: Dass Kinder aus den sogenannten unteren Gesellschaftsschichten ebenso „bildsam“ sind wie die der oberen.

Seit der Aufklärung hängen wir ohnehin der Vorstellung an, dass alle Menschen von Natur aus gleich sind und zumindest bei der Geburt die gleichen Erbanlagen und theoretischen Fähigkeiten besitzen (das versteht man unter naturrechtliche Gleichheit), und wir wissen, dass die spätere Ungleichheit, also ob man Erntehelfer oder Professor, selbständiger Unternehmer wird, stark von der Art und Weise abhängt, wie eine Gesellschaft organisiert ist: ob ihre Verfassung verhindert, dass enorme Vermögen auf Kosten der Mehrheit entstehen, ob Bildungseinrichtungen so organisiert sind, dass sie es jedem ermöglichen, seine Fähigkeiten – unabhängig vom Einkommen der Eltern – zu entfalten u.v.a. mehr.

Die Beziehungen, die zwischen den beiden Polen Gleichheit von Natur aus und materieller, sozialer Gleichheit bestehen, versuchte Christoph Menke, ein Professor für Philosophie, in Spiegelungen der Gleichheit (2014) herauszudestillieren. Das Werk ist leider äußerst spitzfindig, doch sein Kapitel über Babeuf „Die Verschwörung für die Gleichheit“ ist wirklich lesenswert und auch für Nichtphilosophen verständlich. Um was es dabei geht, kann man an einem einfachen Beispiel aufzeigen: Wenn in einer Gesellschaft allen Bürgern Diebstahl per Gesetz verboten ist (Gleichheit vor dem Gesetz) so macht es doch einen Unterschied, ob sich ein Besitzloser an fremdem Eigentum vergreift, oder aber ein wohlsituierter Bürger, der – zumindest, was einfache Diebstähle angeht – es nie nötig hätte, solche zu begehen. Ein Urteil über den Dieb kann somit niemals gerecht sein, wenn es die materielle Situation des Diebes unberücksichtigt lässt. Wenn er aus extremer Armut stiehlt, hat sich eine Gesellschaft, die ihm keine bessere Perspektive bot, mitschuldig gemacht.

B. Hintergrund: Die Diskussion um die Frage nach der sozialen Gleichheit im 18. Jahrhundert

Hobbes, Locke, Bayle, Montesquieu, Hume, Condillac, Rousseau und schließlich auch Voltaire: Sie alle stimmen darin überein, dass die Menschen von Natur aus gleich sind. Was die materielle Ungleichheit betrifft, lehnen sie zumindest die kirchliche Lehre ab, dass die Stellung, die jeder Einzelne in der Gesellschaft einnimmt, eine göttliche Fügung sei. Eine Lehre, nach der jeder, der für sich mehr einfordert, als ihm nach seiner Klassenzugehörigkeit – ein ebenso wie „Gleichheit“ unbeliebter Begriff – gesetzlich zusteht, oder sich gar gegen die herrschenden Zustände (damals gegen die Adelsherrschaft) wehrt, ein blasphemischer Aufrührer ist, weil er sich in seinem Verlangen nach Glück nicht mit dem Jenseitsversprechen der Religion begnügte.

In Voltaires 1738 erschienenem Gedicht De l’égalité des conditions heißt es:

Les mortels sont égaux ; leur masque est différent.
Nos cinq sens imparfaits, donnés par la nature,
De nos biens, de nos maux sont la seule mesure.
Les rois en ont-ils six ? Et leur âme et leur corps
Sont-ils d’une autre espèce, ont-ils d’autres ressorts ?
C’est du même limon que tous ont pris naissance ;
Dans la même faiblesse ils traînent leur enfance ;
Et le riche et le pauvre, et le faible et le fort,
Vont tous également des douleurs à la mort.
[Die Sterblichen sind gleich; ihre Masken sind verschieden./Unsere fünf unvollkommenen Sinne, von der Natur gegeben,/sind das einzige Maß für das, was gut ist und was von Übel./Haben Könige sechs davon? Und ihre Seele und ihr Körper/Sind sie von anderer Art, haben sie andere Quellen?/Aus demselben Lehm sind sie alle geboren;/In derselben Schwäche verbringen sie ihre Kindheit;/Der Reiche und der Arme, der Schwache und der Starke,/Gleichermaßen durchleben sie Schmerzen bis zum Tod.]

Wenn aber alle Menschen von Natur aus gleich und frei sind, warum „leben sie dann überall in Sklaverei“ (Rousseau, 1762 in seinem Contrat social)?

Rousseaus Antwort in seiner bereits 1755 erschienen Preisschrift Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes, die Voltaire als „Schrift gegen die Menschheit“ titulierte, ist, dass in dem Augenblick, wo jemand eines anderen Hilfe bedarf, die Ungleichheit entsteht, denn er wird nun von dessen Hilfe abhängig. „l’égalité disparut, la propriété s’introduisit, le travail devint nécessaire et les vastes forêts se changèrent en des campagnes riantes qu’il fallut arroser de la sueur des hommes, et dans lesquelles on vit bientôt l’esclavage et la misère germer et croître avec les moissons“ (p. 118)
[„Die Gleichheit verschwand, das Eigentum stellte sich ein, die Arbeit wurde etwas notwendiges, die dichten Waldungen verwandelten sich in lachende Felder, die mit dem Schweiße der Menschen getränkt werden mussten und bald sah man Sklaverei und Elend zugleich mit den Ernten hervorkeimen und groß werden“. (S. 66)]
Je weiter sich die Menschen von der Natur entfernen, desto größer wird ihre Ungleichheit.

Voltaire antwortete auf diese kulturskeptische Position Rousseaus in seinem Brief vom 30.8.1755 und meinte:
„Man hat noch nie so viel Geist aufgewendet, um uns zurück zu den Tieren zu schicken, man bekommt Lust, auf allen Vieren zu laufen, wenn man Ihr Werk liest“ (Zur Rolle von Rousseau siehe Rousseau und Voltaire – Ein Verräter im inneren Kreis der Aufklärer).

In seinem Gedicht Le Mondain (1736) hob Voltaire ganz im Gegenteil die Fortschritte der Zivilisation hervor: Zur Zeit von Adam und Eva lebte man noch im Dreck, während in späteren Zeiten das Leben deutlich angenehmer wurde. Wenn dieses Angenehme auch nicht allen zugute kommt, trägt es doch, zum Beispiel, was den Luxus betrifft, zur Höherentwicklung der ganzen Gesellschaft bei (Siehe dazu Was die Kirchen ärgert – Die Verteidigung des Luxus bei Voltaire) .

Zuviel Gleichheit schien den meisten Aufklärern des 18. Jhdts. wohl eher gefährlich und verderblich. Zum Beispiel meinte Montesquieu in seinem Geist der Gesetze (Ésprit des Lois, Kap. 8):
„Le principe de la démocratie se corrompt, non seulement lorsqu’on perd l’esprit d’égalité, mais encore quand on prend l’esprit d’égalité extrême, et que chacun veut être égal à ceux qu’il choisit pour lui commander ».
[Das Prinzip der Demokratie kann nicht nur zugrunde gehen, wenn der Geist zur Gleichheit schwindet, sondern auch, wenn man ihn aufs Äußerste treibt, und jeder gleich sein will mit denen, die er ausgewählt hat, um über sich zu regieren.“]

Zu der ausgebildeten Adelsgesellschaft seiner Zeit meinte 1755 Louis de Jaucourt, von dem viele der Artikel in der berühmten Enzyklopädie (ab 1768 war er als Diderots Nachfolger deren Herausgeber) stammen: „Ich möchte nur noch bemerken, dass gerade die Verletzung dieses Prinzips [der natürlichen Gleichheit] zur politischen & bürgerlichen Sklaverei geführt hat. Daher kommt es, dass in den der Willkürherrschaft unterworfenen Ländern, die Fürsten, die Höflinge, die ersten Minister & die, welche die Finanzen verwalten, alle Reichtümer der Nation besitzen, während die übrigen Bürger nur das Notwendige haben & der größte Teil des Volkes in der Armut verkümmert“ (Artikel „Ègalité naturelle“). Im Anschluss beeilte er sich aber zu verkünden, dass dies nicht als Aufruf zum Umsturz zu verstehen sei.

Was sagten aber Mesliers, Diderot, d’Holbach und Hélvétius, de La Mettrie, also die Atheisten unter den französischen Aufklärern, zu der Forderung nach sozialer Gleichheit?
Deutlich erhob sie der Abbé Mesliers, der die Armut seiner Gemeindemitglieder hautnah erlebte, in seinem sogenannten Testament, das ab 1729 nur als Manuskript zirkulieren durfte (Die Ausgabe von Voltaire war eine deistisch entschärfte Kurzfassung). Diderot stellte für seine Gönnerin Katherina II. ein Programm für die allgemeine Schulbildung zusammen, ein Konzept, dem Hélvétius folgte. d’Holbach ging die Ungleichheit in seinem Buch Système social (1773) an, in dem er versuchte, gesellschaftliche Pflichten und Eigeninteresse ins Gleichgewicht zu bringen.

De La Mettrie (Philosophie und Politik) nimmt eine Sonderstellung unter den Atheisten ein, er scheint die Gesellschaft als das Reich der Interessen anzusehen, das sie zweifellos auch ist und die Hoffnung, dass sie durch vernünftige Regelungen für mehr Gleichheit oder Gerechtigkeit besser würde, hält er für eine Illusion. Die Mächtigen haben die Gesellschaft für ihre Interessen aufgebaut und die Religion benutzt, um ihrem System eine höhere Weihe zu verleihen, sie werden es nicht freiwillig aufgeben. La Mettrie setzt auf die Zerstörung der Religion, damit sich die Erkenntnis durchsetzt, dass es kein prinzipielles gut und böse, keine absolute Moral gibt, sondern nur die eingefärbte ihrer jeweiligen Profiteure. Setzte sich diese Erkenntnis nämlich durch, würde sich die Herrschaft der Wenigen über die Vielen nicht mehr mit lügenhaften Jenseitsgespinsten rechtfertigen lassen, sie müsste ihren Nutzen für die Allgemeinheit darlegen, um weiterhin anerkannt zu werden. Es ist erstaunlich, wie nahe Voltaire dieser Position ist.

Von einiger Bedeutung für die revolutionäre Entwicklung in Frankreich war die 1755 erschienene, heute nur wenigen bekannte Schrift, der Code de la Nature von Étienne-Gabriel Morelly (1717-1778), die man lange Diderot zuschrieb und die für das Denken von Gracchus Babeuf außerordentlich wichtig war. In diesem Grundgesetz der Natur, so heißt der Titel in der deutschen Übersetzung von Ernst Moritz Arndt (1846), leitet Morelly aus der naturrechtlichen Gleichheit aller Menschen das Gemeineigentum als Voraussetzung für die materielle, soziale Gleichheit in der Gesellschaft ab.

Schließlich sollte man die Maxime von Jeremy Bentham „the greatest happiness for the greatest number“ [Das größtmögliche Glück für die größtmögliche Zahl] erwähnen, sein Werk kann als aufrichtiger Versuch angesehen werden, die ungerechte Eigentumsverteilung einer rationalen Lösung zuzuführen.
Und selbstverständlich traten die französischen Revolutionäre in ihren Schriften für die soziale, materielle Gleichheit ein, herausragend sicherlich Marat, Hébert und mit Einschränkung auch Robespierre.

Die Gleichheit litt nach 1789 in Europa unter einem sehr schlechten Ruf. Unzählige Schriften und Bücher versuchten zu beweisen, dass die Forderung nach Gleichheit, würde sie umgesetzt, in ihr Gegenteil umschlagen und geradewegs in der schlimmsten Tyrannei enden müsse. Eine Auffassung, die im Übrigen auch schon Pierre Bayle in seinem Artikel Perikles vertrat und Voltaire in seinem Artikel Démocratie seiner Questions sur l’Encyclopédie diskutierte und bestritt.

Mit seinem Todesurteil gegen Gracchus Babeuf und Augustin Alexandre Darthé reagierte 1797 das Direktorium auf das letzte Aufflackern der revolutionären Forderung nach sozialer Gleichheit, die Babeuf mit seinen Verschwörern für die Gleichheit vehement vertrat, um sie ein für allemal niederzuschlagen. Babeufs Verteidigungsrede vor Gericht ist gleichermaßen ein bestürzendes Dokument und ein beeindruckendes Denkmal der Menschheitsgeschichte.

C. Quellen
– Buonarotti, Phillipp, Histoire de la Conspiration pour l’Égalité dite de Babeuf (1828), dt.: Babeuf und die Verschwörung für die Gleichheit, übers. v. Anna u. Wilhelm Blos, Stuttgart: Dietz Nachf. 1909
– Bentham, Jeremy , Fragment on Government (1776) [pdf digitalisat]
– Jaucourt, Louis de, Égalité Naturelle, Encyclopédie, 1755 , dt : Natürliche Gleichheit, in Die Welt der Enzyklopädie, Frankfurt: Eichborn, 2001, S.273-274
– Mesliers, Jean, Testament, (1864), dt.: Das Testament des Abbé Meslier, übers. v. Angelika Oppenheimer, Frankfurt: Suhrkamp, 1976
– Montesquieu, l’Ésprit des Lois, 1758, dt. : Vom Geist der Gesetze, 1760
– Rousseau, Jean Jacques, Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes, 1755, dt.: Abhandlung über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen, übers. v. H. G. Heusinger 1829
– Rousseau, Jean Jacques, Du Contrat social ou Principes du Droit politique,  Amsterdam: Rey, 1762. , dt.: Über den Gesellschaftsvertrag, Leipzig: Wigand, übers. v. A. Marx, 1843
– Voltaire, De l’égalité des conditions, erschien erstmals 1738 in den Epîtres sur le bonheur [Rede über das Glück]
– Voltaire, Le Mondain, 1736 (dt.: Die Verteidigung des Luxus)
– Voltaire, Brief an Rousseau vom 30.8.1755 (D6451), dt.: An Jean Jacques Rousseau in: Voltaire in seinen schönsten Briefen, übers., hrsg. v. H. Missenharter, Stuttgart: Port, 1958, 400 S.

D. Literaturhinweise
– Babeuf, Die Verschwörung für die Gleichheit, Rede über die Legitimät des Widerstands, mit Essays von H. Marcuse und A. Soboul, Hamburg: Junius, 1988, 168 S.
– Menant, Sylvain, Voltaire-Rousseau : deux conceptions modernes de l’égalité, Vortrag aus d. Jahr 2010
– Christoph Menke, Spiegelungen der Gleichheit, Beck, 2014. Menke versucht das Spannungsverhältnis zwischen natürlicher und materieller Gleichheit auszuloten. Am Beispiel Babeufs Verteidigungsrede vor Gericht zeigt er, dass es dabei um eine der wesentlichen Fragen der Menschheitsgeschichte geht.
– Gregor Ritschel, Bentham und Marx, Bielefeld: transcript, 2018 [pdf-digitalisat]

Die folgenden Anmerkungen zu einzelnen Textstellen beziehen sich mit ihren Seitenangaben auf die von uns bei Reclam herausgegebene Ausgabe des Philosophischen Taschenwörterbuchs (2020):

Anmerkung 1 (S.194, 1. Absatz): In seinen Questions sur l’Encyclopédie (1770-1772), eine Art Kompendium interessanter Artikel zu den verschiedensten Themen, nahm Voltaire auch den Artikel Égalité auf, veränderte aber den ersten Absatz, wohl wegen der Ähnlichkeit mit Rousseaus Contrat Social, folgendermaßen:
«Il est clair que les hommes jouissant des facultés attachées à leur nature, sont égaux; ils le sont quand ils s’acquittent des fonctions animales, et quand ils exercent leur entendement. Le roi de la Chine, le Grand Mogol, le padicha de Turquie, ne peut dire au dernier des hommes, Je te défends de digérer, d’aller à la garde-robe et de penser. Tous les animaux de chaque espèce sont égaux entre eux».
[dt.: Es ist offensichtlich, dass die Menschen, wenn sie die ihrer naturbedingten Fähigkeiten ausüben, gleich sind; sie sind es, wenn sie ihre animalischen Fähigkeiten ausüben und wenn sie von ihrer Vernunft Gebrauch machen.
Kein König von China, kein Großmogul, kein Padischah kann dem Geringsten seiner Untertanen verbieten, zu verdauen, auf die Toilette zu gehen und zu denken. Alle Tiere, ganz gleich welcher Art, sind untereinander gleich].

Anmerkung 2 (S. 195, 2. Absatz: „Nicht die Ungleichheit ist das wirkliche Übel, sondern die Abhängigkeit… Es ist hart, dem einem oder anderen dienen zu müssen.“):
In den Questions sur l’Encyclopédie führt Voltaire diesen Punkt weiter aus und erklärt, dass die Ungleichheit eine Folge der sozialen Veranlagung des Menschen und der daraus entstehenden Bedürfnisse sei. Ganz anders hier, wo er an dem Beispiel der türkischen Herrscher zeigt, dass sie dem Machthunger des Menschen entspringt.

Anmerkung 3 (S.195, 3. Absatz: „Aus der Familie…gehen die Knechte hervor“): Das ist ein weiterer Hinweis auf die Gewalt als Quelle der Ungleichheit, so wie auch im darauf folgenden Absatz.

Anmerkung 4 (S.195, unten: „Nicht alle Armen sind ganz und gar unglücklich“): Zu diesem Satz gibt es bei verschiedenen Übersetzern interessante Alternativen. Siehe dazu unsere Themenseite
Égalité – Gleichheit Übersetzungsvarianten im Diskussionsform „Traumdenken“.

Anmerkung 5 (S.196: Wenn die Armen ihre Lage erkennen, „kommt es zu Kriegen“):
– so wie in Rom dem der Volkspartei gegen die Senatspartei:
Am Ende des 2. Jahrhunderts v.u.Z. wollten die Gracchen eine Bodenreform einführen, um den Graben, der sich zwischen den „Optimaten“, den Adligen und den „Popularen“, dem Volk aufgetan hatte, zu verringern. Es kam zu Aufständen, in denen Tiberius Gracchus 133 v.u.Z. von Handlangern des Senats ermordet wurde. Er wollte, dass ein Gesetz erlassen wird, das den Adligen die Aneignung des sogenannten Publicus, also der von Allen gemeinsam benutzen Anbauflächen untersagt. Zehn Jahre später wurde auch sein Bruder Gaius umgebracht.  Erst Marius ab 107 v.u.Z gelang es, indem er die Proletarier in das Heer integrierte, dem Ziel näherzukommen.
– oder die Bauernkriege in Deutschland, England und Frankreich:
In seinem Essai sur les moeurs erwähnt Voltaire (chap. 76) die  sogenannten Jacqueries unter Jean le Bon um 1360, die Bauernaufstände in England unter Richard II um 1381 (chap 78) und die Bauernkriege um 1525 in Deutschland (chap 131). Diese seien durch die Anabaptisten, die Wiedertäufer, zum Aufstand gebracht worden, indem sie ihnen die gefährliche Wahrheit in die Herzen eingepflanzt hätten, dass „zwar alle Menschen von Geburt an gleich sind, aber wenn der Papst die Adligen wie Untertanen behandelt, so behandeln diese die Bauern wie Tiere“ [„Ils développèrent cette vérité dangereuse qui est dans tous les cœurs, c’est que les hommes sont nés égaux, et que si les papes avaient traité les princes en sujets, les seigneurs traitaient les paysans en bêtes“]…

Anmerkung 6 (S. 196, 3.Absatz: „Die Gleichheit ist also zugleich die natürlichste Sache von der Welt und zugleich die illusorischste):
Auch hier: Die Ungleichheit ist nicht gottgegegeben, sie ist Ergebnis ungleicher Macht- und Eigentumsverteilung, die menschlich, aber nicht unabänderlich ist. Rousseau sah die Gleichheit als ein machbares Ziel einer durch die Vernunft regierten Gesellschaft. Voltaires glaubte daran ganz offensichtlich nicht. 

Anmerkung 7 (S.196 unten: ..dass es einem Bürger nicht erlaubt sei, das Land zu verlassen):
In seinem Essai sur les moeurs (chap. 196) erwähnt Voltaire, dass es in Japan unter dem Herrscher Jemitz einen Erlass, gab,  nachdem „kein Japaner bei Todesstrafe das Land verlassen durfte“.
Aber auch jeder Normalbürger in den Fürstentümern des 18. Jahrhunderts benötigte eine Erlaubnis des Herrschers, wenn er das Land verlassen wollte.

Anmerkung 8 (S.197, 2. Absatz: „Wenn sich die Türken Roms bemächtigten…“): Obwohl also der Koch und der Kardinal in ganz verschieden Klassen leben, sind sie doch als Menschen gleich, so gleich, dass sie, änderten sich die Gesellschaftsverhältnisse, jederzeit herrschen, Gehorsam fordern und ihren Nächsten unterjochen würden.  

Anmerkung 9 (S.197 unten: Ein Privatmann,..der sich darüber ärgert, „dass er überall mit gönnerhafter oder verächtlicher Miene empfangen wird“,…)
Voltaire spricht hier ganz aus seiner eigen Erfahrung am Hofe von Versailles, aber auch bei Friedrich II in Berlin. Und er fasste selbst genau den Entschluss und hat getan, was er hier empfiehlt: nämlich wegzugehen.

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Philosophisches Taschenwörterbuch: Corps – Körper (Kommentare)

Die Frage, ob es außerhalb unserer Wahrnehmung eine unabhängig von uns existierende Materie gibt, um die es in Voltaires Artikel geht, beschäftigte die Menschheit mindestens seit der Antike. Auch heute ist diese Debatte noch in Gang, Filme wie „Inception“ oder „Matrix“ besitzen Kultstatus und erfassen weite Kreise, oft Jugendliche, die aus den geschickt gemachten Streifen großes Misstrauen der objektiven Wirklichkeit gegenüber ableiten und gleichzeitig eine Haltung rechtfertigen, die sich vor allem mit den eigenen subjektiven Phantasien und Innenwelten beschäftigt. Würden sie ihn kennen, wäre Bischof Berkeley ihr geistiger Urvater und Voltaire, was in dem Artikel klar zum Ausdruck kommt, ihr intellektueller Gegner.

A. Hintergrund:
George Berkeleys (1685-1753) Lehre ist seine christliche Antwort auf die Philosophie der Aufklärung, er verneint die Existenz einer objektiven Realität und behauptet, alle Dinge würden nur in Beziehung zu unserer Wahrnehmung existieren. Diese Position wurde verschiedentlich als sensualistischer Idealismus bezeichnet und ist noch extremer als die von Immanuel Kant, der wenigstens mit seinem „Ding an sich“ Dogma (dass man das eigentliche Wesen eines Objekts nicht erkennen kann, da wir es ja nur durch die Brille unserer Sinnesorgane wahrnehmen) die prinzipielle Existenz der Objekte nicht in Frage stellt.
Sicher erscheint es jedem Nichttheologen grotesk, dass der Schreiner die Existenz seines von ihm selbst hergestellten Stuhls auf dem er sitzt, nur als ‚Könnte sein‘-Objekt annehmen dürfen soll, dessen eigentliches „Ding an sich“ Wesen er nach Kant nicht zu erkennen vermag. Berkeley ging aber noch einen Schritt weiter: die gesamte außer uns existierende Welt ist nach ihm nur deshalb existent, weil wir sie wahrnehmen.
John Locke, dem Voltaire folgt, geht dagegen davon aus, dass nichts in unserem Kopf ist, was nicht zuvor durch unsere Sinne empfangen wurde und unterscheidet primäre Qualitäten wie Ausdehnung, Gestalt, Bewegung, Undurchdringlichkeit und Zahl, die der Materie ursprünglich eigen sind, von sekundären Qualitäten wie Gerüche, Farben, Töne, Geschmacksempfindungen usw., die wir von den Körpern zwar sinnlich empfangen, aber subjektiv in uns ausgestalten und benennen.
Demgegenüber huldigt Berkeley einem radikalen Immaterialismus: „Sein ist Wahrgenommenwerden oder Wahrnehmen“. Das Wahrgenommene besitzt keine eigene selbständige Existenz. Worin liegt nun der christliche Clou in Berkeleys Argumentation? Wenn es Objekte gibt, die eine eigene Existenz haben, so wären sie auch von Gott unabhängig und widersprächen der universalen Abhängigkeit der Schöpfung vom Schöpfer! Darauf muss man erst einmal kommen. Der hochgläubige Mann schrieb gegen die Freigeisterei eines Mandeville und Shaftesbury , er betätigte sich als christlicher Missionar in Übersee und war überzeugt, mit seiner Lehre das Christentum gegen die Aufklärung retten zu müssen.


B. Die Diskussion um die Frage nach der äußeren Realität im 18. Jahrhundert
Im Frankreich des 18. Jahrhunderts stand das akademische Personal ganz im Banne Descartes und seines Körper-Geist/Seele Dualismus. Das ist eine Haltung, die den Geist (die Seele) als eine eigenständige Seinsform oder Substanz ansieht und diese von der Materie, der körperlichen Welt, trennt. Die materielle Substanz sei „ausgedehnt“ und teilbar, die geistige dagegen unteilbar und unendlich. Der Geist (die Seele) sei dem Menschen eigen, Tiere hätten ihn nicht und seien Maschinen ähnlich, erklärte Descartes und bestritt Voltaire (s. Artikel im Philosophischen Taschenwörterbuch Âme-Seele).
Aus diesem Körper/Geist Dualismus erst ergab sich das erkenntnistheoretische „Problem“, wie dieser Geist in seinem Gehäuse die Außenwelt wohl erkennen könnte. Berkeley löste das Problem, wie bereits gesagt, indem er der objektiven Außenwelt eine Existenz überhaupt absprach. Bis heute beschäftigt sich die Philosophie und auch die Naturwissenschaft mit diesem Thema. Eine Rezension des Buches zweier Hirnforscher, Haynes/Eckholdt „Fenster ins Gehirn“ aus dem Jahr 2021, zeigt das sehr gut, / und sie zeigt insbesondere, wie eng die Annahme des Dualismus an die Religion gekoppelt ist. Über zweihundert Kommentare geben einen guten Einblick in die Verwirrung, die dieser Dualismus bis heute anstiftet.
Es ist offensichtlich, dass es vor allem die nicht überwundene Religion war, die die Intellektuellen im 18. Jahrhundert daran hinderte, zu erkennen, dass der Geist und das Denken durchaus körperlich sind und dass der behauptete Dualismus überhaupt nicht existiert.
Man bezeichnet diese Gegenposition zum Dualismus heute als Monismus (bekannter Vertreter: Ernst Häckel) oder einfach als Materialismus, da sie die Vorstellung, es gäbe zwei Grundprinzipien, zwei Substanzen in der Welt ablehnt, und die Auffassung vertritt, dass alles Materie ist, auch der Geist.
Im 18. Jahrhundert war es vor allem der verfemte La Mettrie, Demokrit wieder aufnehmend, der diese Position vertrat und es gebührt ihm die Ehre, mit seinem Werk „Der Mensch als Maschine“, diesen Weg als erster im 18. Jahrhundert wieder beschritten zu haben, einen Weg, den nach ihm unter anderem Diderot, Helvetius und d’Holbach beschreiten sollten.

Leibniz‘ Monadologie, Voltaire erwähnt sie in seinem Artikel, stellt einen weiteren, allerdings mystisch-religiös eingefärbten Versuch dar, den Leib-Seele, Körper-Geist Dualismus mit Hilfe der Mathematik aufzulösen und ein einheitliches Prinzip, eben die Monade, Geist und Materie in einem, einzuführen. Zu diesem Thema existiert ein Wikipedia-Artikel, der Leibiz Monadenlehre hinreichend und verständlich erklärt.

In seiner vor über 100 Jahre erschienenen, aber noch immer lesenswerten Geschichte der Philosophie gibt Windelband (im Kapitel V, Die Philosophie der Aufklärung, S.358 ff ) einen guten Überblick über die Winkelzüge, die das Körper-Geist Dualismus Problem im 18. Jahrhundert hervorrief und welche Lösungsansätze dafür angeboten wurde. Berkley steht auf der einen Seite des Extrems (Verneinen der materiellen Welt zugunsten der geistigen), La Mettrie auf der anderen.

Und Voltaire? Er hielt es mit John Locke und hielt sich selbst vornehm – oder vorsichtig – zurück, gab aber immer wieder zu erkennen, dass er den Dualismus ablehnte und er verbannte die göttlich-geistige Sphäre in die Ecke des Ungewissen.

C. Quellen
– Breidert, Wolfgang, George Berkeley: Wahrnehmung und Wirklichkeit, in: Grundprobleme der großen Philosophen, Göttingen: Vandenhoek, 1979, S.211 – 240
Berkeley, Georges, Three dialogues between Hylas and Philonous, Amsterdam,1750, [dt.: Berkeley, Drei Dialoge…übers. und eingeleitet v. Dr. Raoul Richter Leipzig: Dürr, 1901]

Die folgenden Anmerkungen zu einzelnen Textstellen beziehen sich mit ihren Seitenangaben auf die von uns bei Reclam herausgegebene Ausgabe des Philosophischen Taschenwörterbuchs (2020):

Anmerkung 1 (S.100 unten: „Es gibt nur Körper, sagen Demokrit und Epikur):  Leukipp und Demokrit (ca. 460-370 v. Chr.) entwickelten materialistisch- mechanistische und atomistische Theorien, die man bei Epikur wiederfindet, während Zenon von Elea die Unmöglichkeit von Materie und Bewegung zu beweisen versuchte.

Anmerkung 2 (S.101, 2. Absatz: „Er glaubt zu beweisen, dass es keinerlei Ausdehnung gibt“):  In Berkeleys Three Dialogues 170-172 dt. Drei Dialoge S.39,

Anmerkung 3 (S. 102: 2. Absatz: „Ich habe mich vor langer Zeit mehrfach mit ihm unterhalten…“): Das Treffen mit Berkeley muss zwischen 1726 und 1728  während Voltaires Exil in London stattgefunden haben.

Anmerkung 4 (S.176: „wenn er Hylas fragt…“):
Voltaire vertauscht hier die Namen der beiden Gesprächspartner.

Anmerkung 5 (S.176: „… dass die Körper aus unendlich vielen kleinen Wesen bestehen, die keine Körper sind“): Voltaire setzte sich mit  Leibniz‘ Monadologie in seinen Élements de la philosophie de Newton auseinander: Kapitel 8 (frz).

Philosophisches Taschenwörterbuch: Convulsions – Zuckungen (Kommentare)

Zu dem Thema der Zuckenden/Convulsionisten gibt es auf Französisch einen ausführlichen Wikipedia-Artikel, der diese Bewegung religiösen Wahns und ihre Protagonisten lang und breit vorstellt; jedoch, wie leider oft bei solchen Artikeln zu religiösen Themen, ohne wirklich Licht ins Dunkel zu bringen.

In Voltaires Artikel geht es nur vordergründig um die Zuckenden, die Convulsionistes, eine jansenistische Wunderheiler-Bewegung ähnlich der Wallfahrtsbewegung nach Lourdes, oder der Wundersage vom Heiligen Rock von Trier, die sich bis zum heutigen Tage immer wieder erneuern. Im Wesentlichen geht es bei Voltaire aber um den Konflikt zwischen den beiden innerkatholischen Fraktionen der Jansenisten und der Jesuiten, beide Gegner der Aufklärer. Es würde hier zu weit führen, diesen Konflikt auszuleuchten, der es wohl wert wäre, einmal wissenschaftlich aufgearbeitet zu werden. Es wird im Folgenden nur möglich sein, einige kurze Hinweise zu den wichtigsten Konfliktlinien zu geben.
Voltaire schildert den scheinbaren Glaubensstreit belustigt, ist sich aber sehr bewusst, dass sich die Fraktionen im Kampf gegen die Aufklärung jederzeit verbünden können.

Hintergrund:
A
. Zum Jansenismus-Jesuitenstreit um 1700
Voltaire hatte in seiner Familie mit dem Jansenismus direkt zu tun: Sein Vater und mehr noch sein Bruder Armand waren dessen überzeugte Anhänger und Armand diente sogar als Zeuge für das Wunder bei Marie Sonnet, die sich dem Feuer aussetzte, ohne Verbrennungen zu erleiden. Voltaire setzte sich auch mit Blaise Pascal, dem bedeutenden Philosophen des Jansenismus, der die Prädestination, die Gnadenlehre und die menschliche Verworfenheit lehrte, philosophisch auseinander. Der Jansenismus (einen kurzen Abriss zu seiner Geschichte gibt Ulrich Rudnick), da kirchenkritisch und subjektbezogen und um die gleiche Anhängerschaft werbend, war eine gefährliche Konkurrenz zur Aufklärung, die, wäre sie erfolgreich gewesen, mit dem ihr eigenen Fanatismus das Licht der Aufklärung ausgeschaltet hätte.

In dieser Bewegung steckte auch das Potential, so etwas wie das französische Pendant der anglikanischen Kirche zu werden, daher erreichten sie ihr Ziel, innerhalb der katholischen Kirche anerkannt zu werden, zu keiner Zeit. So verlegten sich die Jansenisten mehr und mehr auf die Beeinflussung des Volkes. Und weil das Volk für Wundergeschichten empfänglich war, bekam es Wunder: die Convulsionisten-Heilungen auf dem Pariser Friedhof von St. Médard, eine Bewegung, die seit ihren Anfängen im Jahr 1727 trotz einem königlichen Verbot 1733 immerhin 30 Jahre andauerte.

Die Agitation im Volk erwies sich allerdings als zwiespältig – war der Jansenismus zunächst die Ideologie der Nobles de Robe, also des absolutistischen Amtsadels und seiner großbürgerlichen Anhänger, verlor er mit der Vernichtung der Hugenotten Ende des 17. Jahrhunderts seine wichtigste politische Funktion (nämlich das Bürgertum der katholischen Kirche und der absolutistischen Zentrale zu verpflichten) und war für die absolutistische Macht nicht mehr notwendig. Sie bekämpfte und unterdrückte den Jansenismus zunächst mit Hilfe der Jesuiten, um anschließend diese selbst verbieten zu lassen. Die nach dem Tode Ludwig XIV (1715) wieder bedrohte Zentralmacht spielte ihre Widersacher geschickt gegeneinander aus, bis sie schließlich alle in die Schranken verwiesen hatte.


B. Quellen
– Barbier, Edmond-Jean-Francois, Chronique de la régence et du règne de Louis XV (1718-1783), Paris, 1857-1885 Barbier in seinem Journal der Jahre 1732 ff berichtet als Zeitgenosse von den Convulsionisten, die nach dem Verbot trotzdem in Privatwohnungen weiter zuckten.
– Garinet, Jules, Histoire des convulsionnaires du dix-huitième siècle, et des miracles du diacre Pâris, Paris 1821 in: Dictionnaire Critique Des Reliques Et Des Images Miraculeuses de M. Collin de Plancy, S. 373-389. Der Autor kann sich nicht entscheiden: Wunder sind es zwar nicht, aber erstaunliche Vorkommnisse, die er nicht erklären kann, schon...
-Borel, Adrien, Les convulsionnaires du cimetière de la Saint-Médard et le diacre Pâris. 1935 (online Resource). Borel ist Psychiater und erzählt/interpretiert die Geschichte der Convulsionisten aus dieser Sicht als neurotische/hypnotische Zustände.

Die folgenden Anmerkungen zu einzelnen Textstellen beziehen sich mit ihren Seitenangaben auf die von uns bei Reclam herausgegebene Ausgabe des Philosophischen Taschenwörterbuchs (2020):

Anmerkung 1 S.174:  Da Pâris erst 1727 starb, dürften die Zuckenden/Convulsionisten erst in diesem Jahr in Erscheinung getreten sein.

Anmerkung 2 (S.175, Mitte: „seitdem ihr Xavier…neun Tote auf einmal auferweckte“):  Francois de Xavier (1506-1552), jesuitischer Missionar. Seine Wundertaten malte Rubens um 1620 für die Jesuitenkirche in Antwerpen.

Anmerkung 3 (S. 176: Soeur Rose, soeur Illuminé): Über ein Wunderheilungs-Séance in der Nachfolge der Convulsionisten aus dem Jahr 1759 berichtet als Augenzeuge ausführlich Charles Marie de La Condamine, in: Correspondance de Grimm, etc., Édition Maurice Tourneux; Paris, Garnier frères, 1878, tome iv, pages 379ff.

Anmerkung 4 (S.176: „Ein berühmter Theologe genoss den Vorzug gekreuzigt zu werden“):
Gemeint ist Abraham Chaumeix (1725-1773). Chaumeix denunzierte die Enzyklopädie gegenüber dem Pariser Gerichtshof in seiner Schrift Préjugés légitimes contre l’Encyclopédie 1758. Voltaire widmete ihm eines seiner gefürchteten Gedichte:  Le Pauvre Diable (1758).
In seiner Erwiderung gegen Chamonix zeigt ihn Diderot wie Jesus am Kreuz hängend (Mémoire pour Abraham Chaumeix contre les prétendus philosophes Diderot et d’Alembert. ; Amsterdam, 1759). Die Bemerkung ist also eine tagespolitische Spitze Voltaires und steht in keinem Zusammenhang mit den eigentlichen Convulsionisten.

Anmerkung 5 (S.176: Parlamentsrat Montgeron legte dem König einen Sammelband über alle Wunder von St. Médard vor): Louis-Basile de Mongeron (1686-1754)  war seit 1711 Parlamentsrat am höchsten Gerichtshof Frankreichs. Er hatte sein Buch ohne Erlaubnis der königlichen Zensur drucken lassen und wurde daher in die Bastille gesteckt, später in diversen Gefängnissen inhaftiert.

Anmerkung 6 (S.176 unten: gegen den Geist der Gesetze): Voltaire hatte Montesquieus Schrift verteidigt. Er äußert sich zu dem Konflikt in einem Abschnitt seiner Briefe über Rabelais an den Herzog von Braunschweig-Lüneburg.

Anmerkung 7 (S.177 oben: Die Samojeden): S. sind ein Volk in Sibirien. Vielleicht kannte Voltaire den Reisebericht von Jean-Baptiste Chappe d’Auteroche, der 1761 – 1763 eine Forschungsreise nach Sibirien unternommen hatte und dieses Volk als zurückgeblieben darstellte.
.

Philosophisches Taschenwörterbuch: Circoncision – Beschneidung (Kommentare)

Wenn auch im Judentum die Beschneidung als ureigenes jüdisches Zeichen der Verbindung Gottes mit Abraham und dessen Nachfahren gesehen wird und die Beschneidungszeremonie, die bereits am 8. Tage nach der Geburt vorgenommen wird, den Bund besiegelt, steht doch infrage, woher dieser Brauch ursprünglich stammt und wie man auf die seltsame Idee kommen konnte bzw. kann, in der Beseitigung der Vorhaut einen heiligen Akt zu erblicken. Allein diese Frage zu stellen, wird im Judentum als Sakrileg und im Islam als Grund angesehen, eine heilige Todesstrafe, die Fatwa, auszusprechen. Wie schwer sich auch angeblich zivilisierte Gesellschaften mit der Beschneidung tun, zeigte sich 2012 in Deutschland bei der öffentlichen Debatte um ein Beschneidungsgesetz Sicher ist, dass die Beschneidung schon lange vor dem Judentum existierte. Psychologisch gesehen besiegelt die Beschneidung die Unterwerfung des Sohnes unter die väterliche Gewalt, der ihm auch das Leben nehmen könnte, sich großzügigerweise aber mit einem kleinen, wenn auch schmerzhaften Opfer begnügt. Näheres zur Geschichte, Praxis der Beschneidung und zum Streit um deren Vor- bzw. Nachteile bringt der Medizinhistoriker David Gollaher, Circumcision, New York: basic books, 2000 [dt: Das verletzte Geschlecht, Berlin: Aufbau 2002]

Hintergrund:
A
. Zur Beschneidung im 18. JhdT:
Eine eigentliche Debatte um die Beschneidung gab es im 18. Jahrhundert nicht. Voltaires Artikel führte allerdings zu einer scharfen Entgegnung des kath. Theologen Nonnotte (s.u.)

B. Veröffentlichungen im 18. Jahrhundert
– Nonnnotte, Claude Adrien,  Dictionnaire philosophique de la réligion, 1772 (4 vols.). Der kath. Theologe Nonnotte läßt an dem Artikel kein gutes Haar. Nicht zu Unrecht sieht er in Voltaires Zweifeln an der  Ursprünglichkeit des Beschneidungsrituals im Judentum die Erzählung der Bibel vom exklusiven Bund infrage gestellt.
– Calmet, Augustin, Art. Circoncision, in: Dictionnaire Historique, Critique, Chronologique, Geographique Et Litteral De La Bible, Genf 1730 vol. 2
Der Benediktiner-Abt Calmet aus Senones in den Vogesen, einer der gelehrtesten Männer seiner Zeit, sieht, unter Verweis auf Celcius, Herodot,  dass die B. bereits in Ägypten gebräuchlich war, meint aber, sie sei eher symbolisch vorgenommen und nicht, wie bei den Juden, als verpflichtende Maßnahme für alle, die dem gemeinsamen Glauben folgen, vorgeschrieben worden.

Die folgenden Anmerkungen zu einzelnen Textstellen beziehen sich mit ihren Seitenangaben auf die von uns bei Reclam herausgegebene Ausgabe des Philosophischen Taschenwörterbuchs (2020):

Anmerkung 1: (S.97,oben, Die Juden sagen, sie seien in Ägypten aus Barmherzigkeit aufgenommen worden): s. Genesis, 47, zu Josephs Hilfeleistung für seine Familie, die unter einer Hungersnot litt.

Anmerkung 2: (S.97, oben, „wem kann man nun den Ursprung dieses Brauchs zuschreiben…?): Ein Basrelief aus Sakkara zeigt, dass die Beschneidung in Ägypten schon 2400 v.u.Z praktiziert wurde, s. Gollahar S. 13 ff., und den Wikipedia Artikel Beschneidung im Alten Ägypten.

Anmerkung 3: (S.97, man musste beschnitten sein, um der Priesterschaft Ägyptens anzugehören): Es liegt nahe, dass die Juden einen Brauch, der unter Ägyptern für die Priesterkaste vorgeschrieben war, für sich als eine Art nachträgliche Genugtuung übernahmen. Vor allem, wenn man der Annahme folgt, dass sie ursprünglich Anhänger von Echnaton und seiner in Ägypten verfolgten monotheistischen Lehre waren (Sigmund Freud, Der Mann Moses und die monotheistische Religion und auch div. Studien v. Jan Assmann).

Anmerkung 4: (S.98, „All das belegt, dass das kleine jüdische Volk trotz seiner Abneigung gegen die große ägyptische Nation…“): Diese Abneigung erinnert an den bekannten Spruch: Die größten Feinde der Elche – waren früher selber welche, einen Gedanken, dem Voltaire allerdings nicht folgt. Die historische Herleitung der jüdischen Bräuche deutet dies zwar an, im 18. Jahrhundert gab es jedoch niemanden, der das Judentum religionsgeschichtlich an die Lehre Echnatons anschloss, wie auch: Da man das Ägyptische vor Champollions Entdeckung des Steins von Rosetta 1822 noch nicht lesen konnte und die Archäologie noch in den Kinderschuhen steckte, waren die Kenntnisse über die ägyptische Geschichte auf die Berichte Herodots (5. Jhdt. v.u.Z.) und anderer Reisender angewiesen. Amarna, die Hauptstadt Echnatons wurde erst im Jahr 1820 entdeckt.

Anmerkung 5: (S.98, 2. Absatz, Die Genesis sagt, dass Abraham schon vorher beschnitten worden war…): So sagt die Genesis es nicht, wohl aber, dass Abraham Ägypten bereiste, bevor er die göttliche Anweisung zur Entfernung der Vorhaut erhielt. Siehe dazu Genesis 17 .

Anmerkung 6: (S. 98 2.Absatz, nicht beschnitten bis zur Zeit Josuas): Josua, Nachfolger Moses und legendärer Heerführer Israels, führte sein Volk ins gelobte Land. Dass die Beschneidung bereits zu Moses Zeiten praktiziert wurde, zeigt Exodus 14.

Anmerkung 7: (S. 100, der Phalluskult bei den Ägyptern): Darüber berichtet Herodot, Historien, II, 44
.

Philosophisches Taschenwörterbuch:
Le Ciel des anciens – Der Himmel in der Antike (Kommentare)

Man vergleiche den Artikel von Voltaire, 260 Jahre alt, mit einem neueren zum gleichen Thema, etwa mit dem der Sternwarte der Universität Innsbruck. Er ist ebenso kurz, umfasst eine ähnliche Zeitspanne; sogar die gleichen Personen kommen in dem Artikel vor – aber wie tief ist unsere Zeit gesunken, dass man den Studenten/Schülern mit solchem Gedankenschleim das Gehirn füllt: Zur Geschichte der Astronomie. Wenn es darin um die Frage geht, warum sich die Menschen für die „Sterne“ interessierten, fühlt man sich an Pangloss (Candide) erinnert: „Merken Sie wohl! Alle Nasen wurden gemacht, Brillen zu tragen, darum haben wir Brillen.“ Dass die besten Wissenschaftler existentiell bedroht waren, wenn sie die Sonne ins Zentrum stellten, oder eine Drehbewegung der Erde für wahrscheinlich ansahen, erfährt man nicht, nicht einmal bei Galilei , auch nicht bei Kepler, dessen Mutter einem ekelerregenden Hexenprozess ausgesetzt war.

Dies ist eine nur erste Bemerkung zum Thema, ausgelöst durch das Erschrecken bei der Lektüre des genannten Innsbrucker Sternwartenartikels.

So kurz Voltaires Artikel ist, hat er es doch in sich: er streift die Entwicklung der menschlichen Beobachtungsgabe hin zur Wissenschaft, enthält die Verfolgung ihrer Protagonisten durch die Kirche und führt hin zu den für die Astronomie im 18. Jahrhundert grundlegenden Erkenntnissen Newtons.

Hintergrund:
A
. Die Astronomie im 18. Jahrhundert:
In seiner allgemeinverständlichen Geschichte der Astronomie (Die Himmelskunde, Düsseldorf: Econ, 1965) bezeichnet der Autor Willy Ley das 18. Jahrhundert als das „Himmlische Jahrhundert“, weil jetzt die Erkenntnisse Newtons zu einem Aufblühen der Astronomie als Wissenschaft führte. In Frankreich waren die wichtigsten Protagnisten Charles Messier, Joseph Nicolas Delisle, Alexandre-Gui Pingré und der einflussreiche Bovier de Fontenelle.
Von den 9 Planeten unserer Hemsiphäre kannte man fünf: Merkur, Venus, Mars, Jupiter, Saturn.

B. Veröffentlichungen im 18. Jahrhundert
– Voltaire, Questions sur L’Encyclopédie, Le ciel matériel (1770). In dieser Schrift fasst Voltaire die astronomischen Kenntnisse seiner Zeit zusammen.
– De Fontenelle, Bernard le Bovier,  Entretiens sur la pluralité des mondes, Paris: Blageart, 1686, 359 p. [dt.: Dialogen über die Mehrheit der Welten, übersetzt von J. Chr. Gottsched, Berlin: Himburg, 1780, 355 S.). F. stellt die astronomischen Lehren von Kopernikus, Galilei, Kepler und Descartes vor, die allesamt der christlichen Annahme von der Erde als Mittelpunkt der Welt widersprechen. Es kam sofort auf die Liste der verbotenen Bücher
– Newton, Isaac, Philosophiae Naturalis Principia Mathematica, 1687 [frz.:]
– ders. De motu corporum in gyrum, 1684
– Pluche, Noël-Antoine, [dt.: Schau-Platz der Natur. Oder: Unterredungen von der Beschaffenheit und den Absichten der Natürlichen Dinge, 8 Bde. Monath, Wien und Nürnberg 1750–1754]
– ders., Histoire du ciel, 2 Bde. Paris: Veuve Estienne, 1739–1741. [dt.: Historie des Himmels darinnen vom Ursprunge der Abgötterey und von den philosophischen Irrthümern über die Entstehung des Weltgebäudes und der ganzen Natur gehandelt wird. 3 Bde. Hekel, Dresden und Leipzig 1740–1742.]

Die folgenden Anmerkungen zu einzelnen Textstellen beziehen sich mit ihren Seitenangaben auf die von uns bei Reclam herausgegebene Ausgabe des Philosophischen Taschenwörterbuchs (2020):

Anmerkung 1: (S.90, „wie Fontenelle sehr gut…bemerkt hat“): De Fontenelle, Bernard le Bovier (1657-1757), in seinen Entretiens bringt er die Seidenraupen-Analogie im ersten Gespräch (Dass die Erde ein Planet ist, der sich sowohl um sich selbst, als auch um die Sonne drehet, Dialogen, S.45,46).

Anmerkung 2: (S.92, 1. Absatz, ..dass die Erde und die Planeten um die Sonne kreisen. „Das jedenfalls lehrt uns Aristarchos von Samos“): Plutarch, der in seiner Schrift De facie in orbe lunaeÜber das Gesicht im Monde (Moralia, XII, engl – p 52 ) Aristarchs Lehre vorstellt, lässt einen seiner Streitenden folgende Worte aussprechen: „Nur gehe nicht hin, mein guter Freund, und strenge einen Prozeß gegen mich an wegen Gottlosigkeit…“ (Ley, Die Himmelskunde, S.47).

Anmerkung 3: (S.93, unten, „Ein Schriftsteller, den man, glaube ich, Pluche nennt“): Noël-Antoine Pluche war im 18. Jhdt ein außerordentlich erfolgreiche Schriftsteller. Sein Spectacle de la nature (8 vols) und seine Histoire du ciel (3 vols) wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt. Voltaire besaß sie alle beide und hatte sie vielfach angemerkt. Pluche popularisierte die neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse und versuchte sie mit der christliche Religion zu „harmonisieren“.

Anmerkung 4: (S.94, zweiter Absatz, „Calmet…spricht vom System der Hebräer“): In der Tat waren die astronomischen Kenntnisse Israels im Vergleich zu Babylon, Assyrien und Ägypten sehr bescheiden. In einigen Bibelstellen wird die Himmelskunde als fremden, feindlichen Völkern zugehörig dargestellt und in die Nähe einer Gotteslästerung gerückt (etwa Zephania 1,5, Jesaja 47,13-14). In Sonnen oder Mondfinsternissen sah man Zeichen einer drohenden Bestrafung.

Anmerkung 5: (S.94, letzter Absatz, „Ausgenommen die Chaldäer“): Im Alten Testament werden die Babylonier „Chaldäer“ genannt, evtl. weil Nebukadnezar, ab 625 v u. Z. König v. Babylon war, aus dem chaldäischen Volk stammte, das im übrigen mit den Assyrern eng verwandt war. Im engeren Sinne versteht man unter Chaldäer die Priesterastronomen Babylons. Sie waren in der Lage, bestimmte Planetenkonstellationen ziemlich genau vorherzusagen.

Anmerkung 6: (S.95. erster Absatz, „es ist leicht einzusehen, dass nach dieser Auffassung Antipoden unmöglich waren“): Bis in das frühe Mittelalter glaubte man, dass der untere Teil der Erde nicht bewohnt sei. Die Menschen würden dort ja schließlich hinunterfallen. Erst mit Newtons Entdeckung der Gravitationsgesetze konnte man diesem Irrglauben wissenschaftlich begegnen, wenn auch schon durch die frühen Seefahrer mehr und mehr klar wurde, dass diese Behauptung falsch ist.

Philosophisches Taschenwörterbuch:
Christianisme – Christentum (Kommentare)

Die Geschichte des Christentums zeugt von der beispiellosen, weltweiten Ausbreitung einer Glaubenslehre und ihrer Organisation. Keine andere Religion war jemals, weder vorher noch nachher, in ähnlichem Maße erfolgreich. Wie konnte ihr das gelingen?
In Voltaires Wörterbuchartikel ist nicht davon die Rede, dass das Christentum den anderen Religionen intellektuell überlegen gewesen wäre, noch, dass es ein höheres Bildungsniveau repräsentierte, oder dass es gar eine humanere Lebensart predigte; es geht in dieser Geschichte, wie sie Voltaire erzählt, auch nicht um Liebe, um Menschlichkeit, und schon gar nicht um Freiheit.
Voltaire führt die Erfolgsgeschichte des Christentums stattdessen auf eine Mischung aus Täuschung, Betrug, falschen Versprechungen zurück, auf die teilweise Aneignung von Glaubensinhalten anderer Religionen, insbesondere der jüdischen, auf die Anwendung von Zauberlehren und mystischen Angstritualen. Vor allem aber, zumindest ab dem 2. Jahrhundert, kennzeichnet das Christentum ein unaufhaltsamer Wille zur Macht, als dessen Ausgeburt die weltweit zur Herrschaft drängende katholische Kirche anzusehen ist.

Der heutige Forschungsstand ist davon nicht allzu verschieden. Über David Friedrich Strauss Leben Jesu (1835) bis hin zu Deschners voluminöser Kriminalgeschichte des Christentums (1986 ff) haben sich die Belege zur unaufhaltsamen Machentfaltung des Christentums vermehrt und immer weiter verdichtet.

Hintergrund:
1. Frankreich im 18. Jahrhundert
Durch den Machtverlust der katholischen Kirche konnte in Frankreich die Philosophie der Aufklärung entstehen, die zwar dem Absolutismus positiv, der Kirche und auch dem Calvinismus aber negativ gegenüberstand. Pierre Bayle, der Verfasser eines berühmten kirchenkritischen Wörterbuchs und viele der ersten Aufklärer waren im 17. Jahrhundert noch gezwungen, ins protestantische Ausland zu fliehen (siehe dazu ausführlicher unsere beiden Kommentare: Das Christentum und die Macht , sowie Die Religion im 18. Jahrhundert). Auch Voltaire musste sich noch vor Verfolgung schützen und siedelte sich deshalb nahe der schweizerischen Grenze in Ferney an, von wo aus er ab 1760 einen erbitterten Kampf gegen Kirche und Christentum führte. Seine Strategie, die man mit: „Kämpft gegen die Kirche, aber nicht gegen den Glauben selbst!“  beschreiben könnte, kam Mitte des 18. Jahrhunderts durch eine ganze Reihe atheistischer Schriften unter Druck.
Insbesondere d’Holbach mit seinem Le Christianisme dévoilée (1756) [dt.: Das entschleierte Christentum] und Hélvetius mit seinem Hauptwerk De l`Ésprit (1759)  [dt.: Vom Geist] veröffentlichten aufsehenerregende Schriften, die Voltaire bei seinen Anhängern defensiv aussehen ließen, aber auch gefährdeten, denn seine Gegner brachten ihn mit diesen Werken in Verbindung und die Glut der Scheiterhaufen war schließlich noch nicht ausgetreten. Das Philosophische Taschenwörterbuch war in dieser Hinsicht auch einen Antwort auf die atheistische, sehr viel radikalere Kritik am Christentum, war ein Aufruf zur Vorsicht und zur Mäßigung.

2. Veröffentlichungen gegen das Christentum im Europa des 18. Jahrhunderts
Voltaire gibt selbst eine Übersicht zu den antichristlichen, meist deistisch (d.i.: Es gibt einen Schöpfer, der aber nicht in das weitere Weltgeschehen eingreift) , manchmal auch atheistisch orientierten Autoren in: Lettres à S. A. MGR LE PRINCE de ***** sur RABELAIS et sur d’autres auteurs accusés d’avoir mal parlé de la réligion chrétienne (1767) [dt.: Briefe …. über Rabelais und andere Autoren, die man beschuldigt, schlecht über die christliche Religion zu sprechen].
Wir haben die entscheidenden Kapitel ins Deutsche übersetzt (Deutsche Erstübersetzung von Rainer Neuhaus, 2024) und ausführlich kommentiert, denn der Text wäre für heutige Leser teilweise unverständlich – auch das ist ein Ergebnis der fehlenden Überlieferung: Man schweigt über die Kritiker, damit sie vergessen werden.

3. Quellen, die Voltaire für seinen Artikel verwendete
Die Quellen, die Voltaire anführt, waren ihm oft durch die Veröffentlichungen der englischen Deisten, insbesondere Warburton und dessen Divine legation of Moses, bekannt geworden, aber auch durch Firmin Abauxit oder Coyers Middleton. Wir nennen sie hier, damit wir in den Anmerkungen darauf nicht en detail einzugehen brauchen – die Voltaire Foundation in ihrer Ausgabe hat sich dieser Mühe unterzogen, darüber jedoch das Wesentliche, die Argumentation, aus den Augen verloren):
3.1. Middleton, Conyers (183-1750), Miscellaneous works
Reflections on the variation…found among the four evangelists (1752)
A Free Enquiry into the Miraculous Powers, which are Supposed to Have Subsisted in the Christian
Church from the earliest ages (1749), in Miscellaneous works
Some cursery reflections on the dispute which happened…between Peter and Paul, in Miscellaneous works (1747)
Letter from Rome, showing an Exact Conformity between Popery and Paganism (1729).
3.2. Abauzit, Firmin ( (1679 – 1767): Oeuvres diverses, es. Moultou 1770
Sur la connaissance du Christ, in Oeuvres

► Voltaires Artikel Christentum war Gegenstand einer ausführlichen Kritik im Journal hélvetique von 1766, wo in 5 Ausgaben die „Fehler“ Voltaires erörtert wurden, mit dem Ziel, das Christentum und die Bibel zu verteidigen. Voltaire reagierte darauf mit Ergänzungen in der Ausgabe des Philosophischen Taschenwörterbuchs von 1769.

Die folgenden Kommentare zu einzelnen Textstellen beziehen sich mit ihren Seitenangaben auf die von uns bei Reclam herausgegebene Ausgabe des Philosophischen Taschenwörterbuchs (2020).
Mit Karlheinz Deschners Abermals krähte der Hahn, Eine kritische Kirchengeschichte (1962) liegt eine fast ideale Ergänzung zu Voltaires Artikel vor. Das Buch ist ein Glücksfall, fast selbst wie ein 722 s. umfassender Kommentar zu Voltaires Text anzusehen, angereichert mit allen neueren Forschungsergebnissen, akribisch sondiert und belegt. Deshalb beziehen wir uns in den Anmerkungen fast ausschließlich auf dieses Werk.

1. Kritische Sichtung der Belege, die Existenz und Person Jesu betreffend.

Anmerkung 1 (S. 149, erster Absatz: „…dass die kleine Passage. … später eingefügt wurde.”): Warburton, auf dessen Divine legation (1755, ii, S.57) sich Voltaire mehrfach bezieht, schreibt:“We conclude, therefore, that the passage of Josephus.. which acknowledges Jesus to be the Christ, is a rank forgery, and a very stupid one too“ (Siehe zu Warburton dessen Vorstellung in Voltaires Lettres sur Rabelais (1767)). Deschner, Abermals krähte der Hahn, S.15: „Die Stelle ist fast allgemein als Fälschung anerkannt“; dazu auch seine Zusammenfassung der neueren Studien und Position zur Frage der Geschichtlichkeit Jesu im 1. Kapitel.

Anmerkung 2 (S. 150, zweiter Absatz: bei Jesus Tod um die Mittagsstunde soll sich weltweit eine große Dunkelheit verbreitet haben): Davon erfährt man bei Tertullian: „Er hauchte nämlich, der Dienstleistung des Scharfrichters zuvorkommend, freiwillig den Geist mit einem Ausrufe aus. In demselben Augenblick verschwand das Tageslicht, obwohl die Sonne Mittags-höhe zeigte. Das hielten die, welche nicht wußten, daß auch dies in betreff Christi vorhergesagt war, natürlich für eine bloße Sonnenfinsternis. Und doch findet sich auch dieser Zwischenfall im Weltall in euren geheimen Archiven berichtet.“ Tertullian, Apologetikum oder Verteidigung der christl. Religion und ihrer Anhänger, 198, übers. von Dr. K. A. Heinrich Kellner, BKV 24, Bd. II, Bibl. der Kirchenvä-ter. Neu bei Herder, Übers. Tobias Georges, 2011.

Anmerkung 3 (S.151 2. Absatz: Unterschied der Genealogien Jesus): Viel Tinte ist über die Frage, warum sich Matthäus und Lukas bzgl. der familiären Herkunft Jesu unterscheiden, vergossen worden. Eine Erklärung für die unterschiedlichen Angaben war, dass der eine die rechtliche Ahnenreihe, der andere die natürliche wiedergibt. In einem verwickelten Artikel versucht bei Wikipedia eine ganze Autorenschar, die diversen Erklärungen zu verstehen: https://de.wikipedia.org/wiki/Vorfahren_Jesu 5

Anmerkung 4 (S.151 3. Absatz: Das Aus-Wasser-wird-Wein-Wunder): Das Wunder wird in Johannes 2, 1-10 erzählt und von Woolston in seinem A Discourse On the Miracles of Our Saviour (1729) rational erklärt. Voltaire stellt Woolston und seine Erklärung in seinen Lettres sur Rabelais vor.

2. Das Christentum als jüdische Sekte, Jesus kein Gott (152)

Anmerkung 5 (S. 152, 2. Absatz: „Josephus spricht … von einer rigoristischen Sekte der Juden“): Wie man sich die Abspaltung der „christlichen“ Urgemeinde vom Judentum vorzustellen hat, erzählt Deschner, Abermals krähte der Hahn, S.151ff

Anmerkung 6 (S. 153, unten: … die Essener, Judaiten, Therapeuten,…): In den Kapiteln 13 und 14 des 1. Kapitels behandelt Deschner die vielen Vorchristlichen Sekten (Christentum vor Christus).

Anmerkung 7 (S. 155 unten: Dieser Apostel spricht…..keineswegs von der Wesensgleichheit Jesus mit Gott…): Er vertritt also nicht die Lehre des Konzils von Nicäa (325 v.u.Z.), s. Anmerkung…. Dazu auch Deschner, Abermals krähte der Hahn: „Bis weit ins 3. Jahrhundert wurde Jesus meist nicht mit Gott identifiziert“ (Abermals krähte der Hahn, S.382).

4. Die entstehende Kirche (156)

Anmerkung 8 (S. 157 oben: „Der Streit erreichte Antiochia.”): s. zu dieser Auseinandersetzung Deschner, Abermals krähte der Hahn, Die Anfänge des Heidenchristentums S. 161 ff, der die Geschichte als Machtkampf der Paulianer gegen die Judenchristen darstellt, den Paulus gewann, wobei es auch an den Überlieferungen zur Person Paulus viele Zweifel gibt.

Anmerkung 9 (S.156 2. Absatz: „in einem Brief, der im Jahr 117 geschrieben wurde“ ): Der Kommentar der Voltaire Foundation weist darauf hin, dass es „im Jahr 177“ heißen müsste. Voltaire gibt in dieser Passage einen Text (Sur la connaissance du Christ) von Firmin Abauzit (1679 – 1767) wieder, in dem es um die Zweifel an der Person Jesu geht.

5. Die ersten Kirchengemeinden (158)

Anmerkung 10 (S.159, 3. Absatz: „Man hat dem heiligen Justinus..vorgeworfen..“): Diese Passage ist interessant, weil sie einen Fehler (Der Ausspruch des Justinius erscheint in seinen Dialogen, nicht in dem Kommentar zu Jesaja) enthält, der aber Voltaires – nicht genannte – Quelle aufdeckt, nämlich A Free Enquiry into the Miraculous Powers, which are Supposed to Have Subsisted in the Christian Church von Conyers Middleton (1683-1750). Das belegt Norman L. Torrey in seiner umfangreichen Studie: Voltaire and the English Deists (Oxford 1963).

Anmerkung 11 (S. 161, 3. Absatz: „…was die Christen am meisten auszeichnete, ist…dass sie die Macht besaßen, die Teufel mit dem Kreuzeszeichen auszutreiben”): vgl. Deschner, Abermals krähte der Hahn, S. 485, Der Geisterglaube der Kirche.

6. Verfolgung, die Märtyrer (163)

Anmerkung 12 (S. 163, 3. Absatz: „…da sich die Christen aber zu Feinden aller dieser Kulte machten….”): Im Kapitel 43, Der Blutstrom der Kirche, zeigt Deschner, (Abermals krähte der Hahn, S. 343ff), wie die Christen ihre Verfolgung mächtig aufbauschten, z.B. wurde bis 250 kein einziger römischer Bischof getötet (S.344).

Anmerkung 13 (S. 163, 3. Absatz: Ignatius als Märtyrer”): zu Ignatius Bedeutung vgl. Deschner, Abermals krähte der Hahn, S. 230, Ignatius von Antiochien.

Anmerkung 14 (S. 166, 4. Absatz: „…es gab zu verschiedenen Zeiten eine so große Anzahl von Märtyrern): vgl. Deschner, Abermals krähte der Hahn, S. 346, Kapitel Die Märtyrer. Er berichtet, dass man eine Zahl von 1500 Märtyren nennt, jedoch nur einige Dutzend namentlich belegt werden können.

7. Konstantin, die Kirche an der Macht (168)

Anmerkung 15 (S. 169, 2. Absatz: „Damit nahm die Kirche eine herrschaftliche Form an“): Zu den Lebensumständen unter Konstantin und dem Christentum sagt Deschner, sie hätten sich für das normale Volk verschlechtert. „Dafür hatte man jetzt einen neuen Herrenstand, den Klerus, dessen große Mehrheit dem Volk Bedürfnislosigkeit, Dämpfung des politischen Aufbegehrens und pünkliches Steuerzahlen an den Kaiser predigte und um so eher zum Entgegenkommen bereit war, als es den Geistlichen, besonders den Bischöfen, auch persönlich immer besser ging“ (Abermals krähte der Hahn, S.380).

8. Das Konzil von Nicäa, gegen Arius (170)

Anmerkung 16 (S. 170, 1. Absatz: „..Jesus als reinste Emanation des höchsten Wesens, ..aber nicht Gott gleichgestellt”): Das Konzil von Nicäa (325) beschloss die sog. nicäaische Formel, nach der zwischen Gott und seinem Sohn eine sog. Homousie herrsche, eine Wesensgleichheit. Eine Lehre, die bis dahin völlig unbekannt war; niemand wusste, was das bedeuten sollte. Aber Kontantin entschied: „Was 300 Bischöfe bschlossen haben, ist nichts anderes als ein Urteil Gottes“. (n. Deschner, Abermals krähte der Hahn, S.394)

Anmerkung 17 (S. 171, 1. Absatz: „…die Auffassung von Arius…”): Bischof Arius und seine Anhänger waren strike Gegner der nicäischen Wesensgleichheitsbehauptung, die für sie den Monotheismus aushebelte.

9. Konzil von Ephesus, Maria als Mutter Jesu/Gottes (172)

Anmerkung 18 (S.172, 2. Absatz: „Das dritte allgemeine Konzil…entschied, dass Maria wirklich die Mutter Gottes war): Deschner, S.362: „Bis zum 3. Jahrhundert wußte die Christentum nichts von einer immerwährenden Jungfrauschaft Mariens“ und zum Konzil von Ephesus (S.366) weist er auf den auffälligen Übergang des Isis-Kultes auf den Mariakult hin. Über den Marienkult und die Trinitätslehre wurde heftig gestritten: „Es kam vor, wie auf der Synode von Ephesus, dass die Bischöfe mit Stöchken aufeinander einschlugen, bis endlich, nachdem die eine Fraktion das Feld geräumt hatte, der Heilige Geist sprach und das gottgewollte Resultat zustandekam“.(Deschner, Abermals krähte der Hahn, S.381).

10. Die weitere Entwicklung, Ost- und Westkirche, Reformation, Ausbreitung und Vertreibung in Asien (172/3)

Anmerkung 19 (S. 172 unten): „Die römisch-katholische Kirche verlor …die Hälfte..“ siehe zu den Ereignissen im Vorfeld des 30 jährigen Krieges: Deschner: Deschner: Kriminalgeschichte des Christentums, Bd. 9, Kap. 9: Die Schlammschlacht vor dem großen Krieg. Vom publizistischen Schlachtfeld zum militärischen, S.287 ff

Anmerkung 20 (S. 173, 2. Absatz: „Francisco de Xavier, der das Evangelium nach Ostindien und nach Japan brachte, als die Portugiesen auf der Suche nach Handelsware dorthin gingen“): James Clavell übernahm für seinen Roman Shogun (1975) einige der Aufzeichnungen Xaviers über die Jesuitenmission in Japan. Der Roman wurde vielfach (zuletzt 2024) verfilmt.

Anmerkung 21 (S.173, 3. Absatz – über die Jesuitenmission in China): siehe dazu unsere Kommentarseite zum Artikel China des Philosophischen Taschenwörterbuchs.

Anmerkung 22 (S.174, 2. Absatz, Die weiteren Ausdehnung des Christentums in Afrika, Amerika, bis zu einem Anteil von 32% der Weltbevölkerung): Heute besitzt das Christentum einen Anteil von 32,2%, wie die Internetseite www.katholisch.de berichtet. Zur Expanisonsgeschichte siehe Deschner: Kriminalgeschichte des Christentums, Bd. 9 (MITTE DES 1 6 . BIS ANFANG DES 18. JAHRHUNDERTS), Vom Völkermord in der Neuen Welt bis zum Beginn der Aufklärung (2008).

Philosophisches Taschenwörterbuch: Catéchisme du Japonais – Katechismus des Japaners (Kommentare)

Über Geschmack kann man bekanntlich nicht streiten, besser: streiten schon, aber nicht entscheiden, denn er ist subjektiv und jede subjektive Vorliebe, so seltsam sie auch wäre, hat ihre Berechtigung. Der eine mag Kaviar, der andere verabscheut ihn. Auch religiöse Vorlieben sind rein subjektiv, der eine verehrt Allah, der andere Jesus, der dritte Huizilopochtli. Versteckt hinter einem Streit um die beste Küche demonstriert Voltaire, wie absurd Streitigkeiten um die beste Religion sind und wie gefährlich es ist, wenn nur eine Religion das Sagen hat. Besser, es gibt zwölf davon und einen robusten Staat, der das Toleranzgebot auf seinem Territorium durchsetzt. Wenn man doch schon über den richtigen Geschmack nicht entscheiden kann, wie erst über die Frage nach dem richtigen Gott, den noch niemand sinnlich wahrgenommen hat.

Hintergrund:
A
. England und Frankreich im 18. Jahrhundert:
England war nach dem Sturz nicht nur der katholischen Kirche (1534 d. Heinrich VIII und 1648 d. Cromwell), sondern auch aufgrund der Beschneidung der königlichen Macht durch ein starkes, aufstrebendes Bürgertum – der Vorgang ist unter dem Begriff der Glorious Revolution (1688/89) bekannt -, auf dem Weg zur führenden Weltmacht. Die Befreiung der Wissenschaft vor religiöser Bevormundung führte zu bedeutenden Entdeckungen und zur kräftigen Steigerung der Produktivität durch den daraus resultierenden technischen Fortschritt, siehe (Der Japaner), S. 141:
„…unsere Reichtümer nehmen zu, und wir haben zweihundert Liniendschunken, und sind der Schrecken unserer Nachbarn.“
Voltaire hatte die Vorzüge Englands während seines Exils 1726-1728 kennen- und schätzen gelernt. In seinen Philosophischen Briefen, die in Frankreich umgehend verboten wurden, berichtet er von den dortigen Entwicklungen. In Frankreich dagegen war die starke absolutistische Zentralmacht, weil sie von der katholischen Kirche unterstützt und vom Bürgertum verwaltet wurde, in der Lage, die alten, regional verstreuten Kräfte des Feudalismus niederzuhalten. Die schwankenden Kräfteverhältnisse zwischen den einzelnen Fraktionen bewirkte ein ständiges Auf- und Ab der religiösen und geistigen Unterdrückung im Land und führte dazu, dass Frankreich gegenüber England ins Hintertreffen geriet.

B. Veröffentlichungen im 18. Jahrhundert
– Voltaire, Lettres philosophiques von 1733, in denen er die gesellschaftlich intellektuelle Lage in England beschreibt.
– Voltaire, Essai sur les moeurs, Cramer: Genf, 1775. Im Kapitel 179 -182 behandelt Voltaire die Geschichte Englands seit Cromwell und bis Karl II.
– Rapin-Thoyras, Paul de (1661 – 1725), Jurist, Verfasser der ersten französischsprachigen Geschichte Englands, aus hugenottischer Familie. 1685, nach der Aufhebung des Edikts von Nantes, ging er ins engl. Exil. In seinem teils posthum erschienen Lebenswerk Histoire d’Angleterre, La Haye: de Rogissart, 1724 – 1735, 12 Bd., beschreibt er die unglaubliche Machtfülle der Katholika in England, die es ihr erlaubte, das Land buchstäblich auszusaugen. Das Werk wurde ins Deutsche (1758 – 1760) und ins Englische (1789) übersetzt.

Die folgenden Anmerkungen zu einzelnen Textstellen beziehen sich mit ihren Seitenangaben auf die von uns bei Reclam herausgegebene Ausgabe des Philosophischen Taschenwörterbuchs (2020):

Anmerkung 1: S. 137. Der Japaner: „Ganz und gar nicht, wir haben uns während nahezu zwei Jahrhunderten verfolgt..“). Das heißt, von Heinrich VIII 1534 bis 1688/9, der Glorious Revolution. Erst seitdem kehrte in England in religiösen Fragen relative Ruhe ein.

Anmerkung 2: (S.139 Der Japaner: „Die Quäker waren niemals von der Raserei besessen“). In Voltaires Philosophischen Briefen sind die ersten vier Kapitel den Quäkern gewidmet. Er lernte in London deren Religion kennen und verschaffte sich selbst ein Bild dieser nicht verfolgerischen Religionsgemeinschaft. Sie waren es, so lange sie selbst verfolgt wurden (1662 verboten, 1689 durch den Toleration Act wieder erlaubt) und blieben es sogar als dominante Religion in Pennsylvania.

Anmerkung 3: (S.140 Der Inder: „Es muss doch eine Küche geben, die die vorherrschende ist, nämlich die des Königs“). Voltaire stellt hier das Prinzip der englischen Staatskirche vor, der die Verfassung ein Ämterpatronat zugesteht, wenn sie sich nur für das vom Bürgertum erzwungene System der konstitutionellen Monarchie engagierte. Das war auch im 18. Jahrhundert noch ihre wichtigste Aufgabe, worin sie sich nicht von der katholischen Staatskirche in Frankreich unterschied, nur dass es sich dort um den Absolutismus handelte, aus dessen Vormundschaft sich das Bürgertum vor der Revolution noch nicht hatte befreien können.

Anmerkung 4: (S.142 Der Inder: „Japan, wo früher…“ ). Das Zitat von Louis Racine lautet im Original:
« L’Angelterre, ou jadis brilla tant de lumière/Recevant aujourd’hui toutes réligions/ N’est plus qu’un triste amas de folles visions » (Poème sur la Grace (1720). Er behauptet also, England würde keine intellektuellen Leistungen mehr hervorbringen, weil es jetzt so viele unterschiedliche Religionen dulde. Voltaire erklärt (der Japaner, ebd.), dass gerade weil es keine religiöse Unterdrückung gibt, die Wissenschaft in England floriert. Newton wäre ohne die größere religiöse Freiheit unmöglich gewesen und auch die technischen Erfindungen, die das Leben erleichtern und den Profit erhöhen, wie z.B. die Strumpfstrickmaschinen, wurden erst auf dem Boden der religiösen Toleranz möglich. Das ist nichts anderes als die Lehre Francis Bacons und John Lockes, nur umgekehrt: Meinen diese, da die Wissenschaft keine Autoritätsbeweise akzeptiert, sondern induktiv und empirisch vorgeht, dass die Kenntnisse über die Natur im Laufe der Zeit zu-, gleichzeitig aber religiöse Vorurteile und Aberglauben abnehmen, erklärt hier Voltaire, dass die Wissenschaft nur dort entsteht, wo die dogmatische geistige Alleinherrschaft der Kirche gebrochen wurde.

Philosophisches Taschenwörterbuch: Catéchisme du curé – Katechismus des Landpfarrers (Kommentare)

Fragt man heute in Polen, wo die katholische Kirche im Volk noch hohes Ansehen genießt und der Klerus nicht wie in Deutschland mit staatlich eingetriebenen Steuergeldern versorgt wird, einen Kleinbauern nach dem örtlichen Priester, hört man, dass er Landwirtschaft betreibe, für alle Feiern der Ansprechpartner sei und gute Arbeit leiste. Er wird als Mensch von eigenem Schlag betrachtet, nicht wie in Deutschland, als Beamter. Ein solcher Dorfpfarrer ist es, den Voltaire hier vorstellt und zwar nicht negativ; was er lehrt, ist vollkommen zweitrangig, denn auf sein Handeln kommt es an. Auf solche Pfarrer konnte auch die Französische Revolution setzen und ein solcher Pfarrer war auch der Abbé Meslier (1664 – 1729), ein Atheist, Seelsorger, Freund und Helfer seiner Gemeinde und Verfasser der ersten atheistischen Schrift (s. Das Testament des Abbé Meslier, Herausgegeben und eingeleitet von Günther Mensching, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1976).

Hintergrund:
A
. Die Organisation der Kirche im 18. Jahrhundert:
Die Land- oder Dorfpfarrer (die Curés) bildeten mit den Vikaren die unterste Stufe der kirchlichen Hierarchie, über ihnen standen Bischofe, Erzbischöfe, Kardinäle. In Frankreich gab es 135 Bistümer und Erzbistümer, 34.658 Pfarreien mit ca. 60.000 Pfarrern/Vikaren. Hinzu kamen noch 60.000 Mönche und 71.000 Weltpriester. Sie machten 1,8% der Bevölkerung aus und besaßen 5-6% des Bodens, die ihnen jährlich 100 Millionen livres einbrachten, dazu kamen 123 Millionen livres aus der Kirchensteuer, dem Zehnten. Die höhere Geistlichkeit rekrutierte ihre Funktionsträger ausschließlich aus dem Adel und bestimmte alleine, wie die Einnahmen an die unteren Ränge weitergegeben wurden. Am wenigsten erhielten die Landpfarrer, am meisten die einflussreichsten Adligen mit den besten Pfründen (oft die großen Städte), eine Quelle dauernder Konflikte. Der Pfarrer war verantwortlich für die Taufen, Eheschließungen und Sterbefälle seiner Gemeinde. Er kontrollierte die öffentliche Erziehung und die Wohltätigkeitsmaßnahmen. Auch die Gemeindeversammlungen waren den Pfarrern unterstellt. Ein weitere wichtige Kontroll-Funktion waren die sogenannten Monitorien, mit dem die Kirche die Bevölkerung zur Beihilfe und Denunziation aufforderte, immer wenn ein Verbrechen begangen wurde.

B. „Der gute Pfarrer“ – Veröffentlichungen
– 1762 erschien Rousseaus Émile und dort im vierten Kapitel „La Profession de foi du vicaire savoyard“ (Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars), also eines Vertreters der untersten hierarchischen Stufe des französischen Klerus, eine entschieden antichristliche Schrift, in der Rousseau die Gleichrangigkeit aller Glaubensrichtungen einfordert. Voltaire veröffentlichte sie – trotz seiner Querelen mit Rousseau – auszugsweise in seinem Sammelband „Récueil nécessaire (Genf 1766)“.
[Le Recueil nécessaire, à Leipzig, 1765, in-8o, contient : 1° Avis de l’éditeur ; 2° Analyse de la religion chrétienne (sous le nom de Dumarsais) ; 3° le Vicaire savoyard, tiré de l’Émile de Rousseau ; 4° Catéchisme de l’Honnête Homme; 5° Sermon des Cinquante; 6° Examen important, par milord Bolingbroke (c’est-à-dire par Voltaire; 8° Dialogue du Douteur et de l’Adorateur; 8° Les dernières paroles d’Épictète à son fils; 9° Idées de La Mothe Le Voyer]
– Voltaire bezieht sich außerdem auf den Abbé de Saint Pierre (1658-1743) und seine Abhandlung Observations politiques sur le célibat des prètres.
– Auch in der Enzyklopädie erschien ein Artikel „Célibat“ der den Argumenten des Abbé de Saint Pierre im wesentlichen folgt.

Lit: Sage, Pierre, Le ‚bon prêtre‘ dans la littérature française d’Adamis de Gaule au Génie due Christianisme, Genève 1951

Die folgenden Anmerkungen zu einzelnen Textstellen beziehen sich mit ihren Seitenangaben auf die von uns bei Reclam herausgegebene Ausgabe des Philosophischen Taschenwörterbuchs (2020):

Anmerkung 1: S. 144, 2. Ariston: „Verdrießt es sie nicht, keine Frau zu haben?“): Die Aufklärer waren allgemein gegen das Zölibat. Die Forderung nach Abschaffung des Zölibats verfolgte das Ziel einer Schwächung der katholischen Kirche durch Verweltlichung. Nicht nur verhindert das Zölibat das Abfließen von Lebensenergie des kirchlichen Personals in weltliche Dinge, sondern sichert der Kirche auch durch die Erbschaften ihrer ehe- und kinderlosen Priester bedeutende Einkommenszuwächse. Da Voltaire für sich selbst eine Verheiratung nie in Betracht zog, könnte es sein, dass diese Verweltlichung sein eigentliches Ziel war. Vielleicht konnte er so auch einige der Volkspriester auf die Seite der Aufklärung ziehen. In dem Artikel Catéchisme Chinois – Chinesischer Katechismus führt er, ebenfalls mit Bezug auf den Abbé de Saint-Pierre, noch die Nützlichkeit, die von den vielen Kindern solcher Priesterehen ausgehen würde, an (s. 5. Gespräch, S. 128/9).

Anmerkung 2 (S.145 Theotimus: „Die Beichte ist eine großartige Sache“): In der Ausgabe des Philosophischen Taschenwörterbuchs von 1765 nahm Voltaire einen kurzen Artikel zur Beichte auf, in dem er es anders sieht. Er weist darauf hin, dass die Beichte zunächst als ein Mittel der Kontrolle und Überwachung in der Kirche selbst eingeführt wurde. Erst später wurde sie allgemein. Weil sich durch die Beichte jeder Verbrecher Erleichterung verschafft, trägt sie eher zu deren Vermehrung als zur Vermeidung bei. Nur kleine Diebe kann man durch die Beichte etwa zur Rückgabe des Gestohlenen bewegen.

Anmerkung 3: (S.146 Theotimus: „Es gibt Rituale, bei denen die Heuschrecken, die Zauberer und die Schauspieler exkommuniziert werden“.)
– Heuschrecken:
Die Anmerkung in dem Kommentar der Voltaire-Foundation zu diesem Punkt bemerkt, dass Heuschrecken keiner Exkommunikation unterzogen wurden. Man hat stattdessen in einem speziellen Ritual den Ackerboden geweiht, um ihn vor den Heuschrecken zu schützen.
– Zauberer:
Papst Paul V. führte 1614 die Exkommunikationsrituale gegen Zauberer und Hexer ein, die dann in den Inquisitionsverfahren zur Anwendung kamen.
– Schauspieler:
-> Synode von Elvira (306): „Wenn ein Zirkuswettfahrer oder ein Pantomime zum Glauben übertreten will, muss er vorher seinem Gewerbe entsagen und darf nachher nicht mehr zu ihm zurückkehren; tut er es doch, soll er aus der Kirche ausgestoßen werden.“
-> Im Jahre 314 erklärte das Konzil von Arles die Schauspieler für exkommuniziert.
-> Das Konzil von Aachen 816 verbietet Klerikern die Teilnahme an Schauspielen.
-> Auf der Synode von Cambrai wurde 1300 bestimmt: „Kein Christ darf von der Kommunion zurückgewiesen werden, außer wer exkommuniziert ist oder wer durch notorisches Verbrechen gebrandmarkt ist, wie die öffentlichen Dirnen, die Komödianten und Spielleute.“
-> 1649 verordnete die Rituale von Châlon als Erste, dass Schauspieler nicht zur Kommunion zugelassen sind. Bis 1713 sollte, wie Jean Dubu aufzeigt (Les églises chrétiennes et le théâtre (1550-1850), Grenoble 1997), diese Intoleranz zunehmen. Nicht nur die Kommunion, sondern auch das Recht auf Bürgschaft und das Begräbnis wurde den Schauspielern verweigert. Die o. g. Angaben stammen aus Manuel Stadler Die Exkommunikation des Schauspielers zwischen dem Ende des Römischen Reiches bis ins 19. Jhdt.

Voltaire hatte selbst bittere Erfahrung mit dieser Variante der kirchlichen Misanthropie gemacht, als man seiner engen Freundin, der Pariser Schauspielerin  Adrienne Lecouvreur das Begräbnis verweigerte (siehe dazu sein bewegendes Gedicht).

Anmerkung 4 (S.147 Ariston: „Was werden Sie tun, um die Bauern daran zu hindern, sich an Fest- und Feiertagen zu betrinken?“): Die Anmerkung der Voltaire Foundation weist darauf hin, dass Voltaire die Berechnung des Abbé de Saint Pierre übernommen hat. Voltaire kam immer wieder auf dieses Thema zurück.
Was zunächst wie ein Versuch zur Beschneidung der freien Tage der armen Landbevölkerung aussieht (Voltaire war schließlich in Ferney ein Großgrundbesitzer mit bis zu 1500 „Untertanen“), versteht sich etwas anders, wenn man folgendes bedenkt:
– Die Anzahl der Feiertage variierte von Diözese zu Diözese, jeder Bischof versuchte die Loyalität seiner Gemeindemitglieder durch spezielle Feiertage (Heilige, spez. Anlässe) zu heben, was deshalb erfolgversprechend war, weil an solchen Tagen die religiöse Indoktrination mit großem Elan praktiziert wurde. Ende des 13. Jahrhunderts ist von ca. 40 – 60 Feiertagen pro Jahr auszugehen.
– Erste Kritik an den vielen Festen kam im 15. Jahrhundert von humanistischer Seite (Nicolas de Clamange, Contre l’institution des fêstes nouvelles (1413), auch bereits mit dem Argument, dass die Bauern, könnten sie arbeiten, sehr viel besser leben würden. Dies war der ökonomische Blick des Stadtbürgertums, das in harter Arbeit zu Wohlstand und Unabhängigkeit gekommen war. (siehe: L’évolution du nombre de jours chômés à la fin du Moyen Âge : enjeux spirituels et économiques, 2007).
In einem anderen Artikel (Temps de travail et fêtes religieuses au XVIIIe siècle, Jean-Yves Grenier, in: Revue historique 2012/3, n° 663, S. 609 – 641) erklärt der Autor, dass sich die Anzahl der Feiertage im Verlauf des 18. Jahrhunderts in Frankreich nahezu halbiert habe. Offenbar hatten sich die Manufakturbesitzer, Handwerker und Landbesitzer , die an der erhöhten Arbeitszeit interessiert waren, gegen die Kirche durchgesetzt.
Außer dass sie die Menschen dem kirchlichen Einfluss aussetzten, behinderten die vielen Feiertage auch sonst die ökonomischen Abläufe. So wurden zum Beispiel Transporte, ohnehin beschwerlich und langsam, plötzlich angehalten, weil in einer Region ein kirchlicher Feiertag ausgerufen worden war. Damit war die Belieferung von verderblichen Waren auf die Märkte der Städte oft schwierig, wenn nicht unmöglich.
Voltaire, richtig verstanden, argumentiert folglich gegen die Kirche,wenn er erklärt, dass weniger Feiertage den Bauern und Handwerkern ein höheres Einkommen, eine bessere Gesundheit, niedrigere Ausgaben für Alkohol bringen. Diese vertrat zu dieser Frage verständlicherweise genau das Gegenteil.