Philosophisches Taschenwörterbuch: Bien. Souverain Bien – Das Gute. Das Höchste Gut (Kommentare)

Hintergrund:
Thomas Hobbes (1588 -1679) stellt sich der Idee vom „Guten an sich“ entgegen. Nach ihm liegt das Gute im Begehren und er stellt fest, dass wir nach immer weiterem „Guten“ begehren. Das Ende des Begehrens wäre gleichbedeutend mit dem Tod (Vom Menschen XI.15). Für John Locke (1632 – 1704) ist das Gute ganz einfach das, was Lust erregt (Versuch über den menschlichen Verstand II,21 §42 ff). Ähnlich ist auch der kleine Essay von Voltaires langjähriger Lebensgefährtin Emilie du Châtelet „Rede über das Glück“ zu verstehen, der bis heute nichts von seiner lebendigen Überzeugungskraft verloren hat: Glück wird darin nicht ethisch moralisch überhöht, sondern als Moment erstrebenswerten Wohlgefühls verstanden, von dem wir möglichst viele erleben sollten, um unser Leben angenehm zu machen. Emilie du Châtelet war auch die Erstübersetzerin der Bienenfabel von Manedeville, in der er behauptet, dass persönliche Tugend (Genügsamkeit, Friedfertigkeit) für den Fortschritt und die Prosperität der Gesellschaft weniger förderlich seien als zum Beispiel Luxus und Verschwendung.

Ganz anders die Philosophen der Antike, die sich mit dem, was als das höchste Gut anzusehen sei, auseinandersetzten. Was Menschen erstreben, was sie erreichen wollen, kann man als „das Gute“ bezeichnen. Es gibt Güter, die man nicht um ihrer selbst willen erstrebt, sondern um ein weiteres, höheres zu erreichen. Reichtum zum Beispiel wäre solch ein Gut, mit dem man sich anderes sichern will, etwa Wohlstand oder persönliche Unabhängigkeit. Welches ist aber dann das höchste aller Güter, das „summum bonum“? Und: ist es für alle das gleiche, oder ist es für jeden etwas anders?
Platon meint, Gerechtigkeit und Schönheit wären höchste Güter, denn sie erstrebe man um ihrer selbst willen und behauptet, dass wir die Idee eines absolut Guten in uns tragen, nach dem wir unser Handeln ausrichten. Die Vorstellung vom Höchsten Gut sei wie die Sonne, die alles erleuchtet, sie sei die Antriebskraft allen menschlichen Handelns (Politeia Kapitel VI).

An diese Vorstellung Platons vom höchsten Gut brauchte das Christentum nur seinen Gott anzuheften, als ein „summum bonum“, dem man zustrebt, das alles Handeln bestimmt und dem man schlussendlich im Jenseits begegnet. Ähnlich formulierte es Augustinus (De civitate Dei, [dt. Vom Gottesstaat], XIX).

In seinen kurzen Artikeln De la chimère du souverain bien und auch in Le songe de Platon aus dem Jahr 1756 kritisiert Voltaire die Ideenlehre Platons, weil in ihr Vorstellungen für Realität ausgegeben werden, die nur in Platons Theorie exisitieren.

Abschließend sei auf den Artikel „Bien“ des Abbé Claude Yvon in Diderot’s Enzyklopädie hingewiesen, der in der Tugend das höchste Gut erblickt und behauptet, dass einem das tugendhafte Leben post mortem im Paradies vergütet würde.

Die folgenden Kommentare zu einzelnen Textstellen beziehen sich mit ihren Seitenangaben auf die von uns bei Reclam herausgegebene Ausgabe des Philosophischen Taschenwörterbuchs (2020):

Anmerkung 1 (S.68, zweiter Abschnitt: „[Das höchste Gut] .. uns ergötzt und unfähig macht noch etwas anderes zu empfinden“) Wie Voltaire an anderer Stelle schrieb : „Die Philosophie verspricht das Glück, aber die Sinne verschaffen es“ (carnets), so hält er sich auch hier an das sinnliche Empfinden: Das Gute ist mit der Lust verwandt, das Böse mit dem Schmerz.

Anmerkung 2 (S.68, dritter Abschnitt: Fabel von Kantor] .Die Fabel positioniert das Gute in die Nähe dessen, was Lust erregt und stammt ursprünglich von Sextus Empiricus (Kap. 3, ), wird aber auch in dem Enzyklopädieartikel (s.o.) wiedergegeben.

Anmerkung 3 (S.69, Voltaire lehnt die Auffassung von der Tugend als dem höchsten Gut ab. Tugendhaft zu sein, besteht für ihn allein darin, dem Nächsten Gutes zu tun (-> Artikel Vertu – Tugend).

Philosophisches Taschenwörterbuch: Bêtes – Tiere (Kommentare)

Hintergrund:
Um sich nicht gegen die Kirche richten zu müssen, für die Tiere seelenlos und dem Menschen untertan sind, kritisiert Voltaire den auch unter Aufklärern hochgeschätzten Descartes.
Descartes spricht im 5. Abschnitt seines Discours sur la méthode 1637 (s. Werke VIII, n. Julius Kirchmann S. 65: Abhandlung über die Methode) den Tieren ab, über Vernunft zu verfügen und betrachtet sie als nach einem fixen Bauplan verfertigte, maschinengleiche Lebewesen. Gott schuf sie in einer Perfektion, wie sie von Menschen nicht hergestellt werden könnten. Indem er aber die Vernunft (eine denkende Seele) für die Menschen reservierte, hob er sie aus dem Tierreich heraus und ermöglichte ihnen, sich ihre Lebensweise aus eigenem Antrieb (Willen) frei zu gestalten. Tiere dagegen folgen ihrem angelegten Bau- und Funktionsplan, aus dem sie nicht ausbrechen können.
Auch antworten Menschen auf äußere Ereignisse in ganz differenzierter Weise, während Tiere darauf immer in der genau festgelegter Weise reagieren:

«Car, au lieu que la raison est un instrument universel, qui peut servir en toutes sortes de rencontres, ces organes ont besoin de quelque particulière disposition pour chaque action particulière ; d’où vient qu’il est moralement impossible qu’il y en ait assez de divers en une machine, pour la faire agir en toutes les occurrences de la vie, de même façon que notre raison nous fait agir».

Descartes, Discours

Auch die den Tieren fehlende Sprache sieht Descartes in diesem Zusammenhang: selbst die einfältigsten, oder gar geistig behinderten Menschen können Wörter kombinieren, um ihre Gedanken mitzuteilen. Selbst Taubstumme erfinden zu diesem Zweck Zeichen. Tiere vermögen solches – wozu man nur wenig Vernunft benötigte – nicht; was zeigt, dass sie gar nicht über Vernunft verfügen.

Das Besondere des Menschen ist also, dass er über Denkvermögen verfügt. Es muss geschaffen worden sein, da es niemals aus der Materie hervorgegangen sein kann. Descartes geht davon aus, dass dieses Geschaffene eine denkende Seele ist, die Gott der Materie eingepflanzt hat. Es folgt der bemerkenswerte Hinweis, dass Gottesleugner, indem sie meinen, Tiere hätten eine Seele, die von der gleichen Natur wie die der Menschen sei, auch annehmen müssten, dass Menschen wie Tiere nach dem Tode nichts zu fürchten oder zu hoffen haben. Dies sei ein Irrtum, der schwache Geister mehr als alles andere vom Pfad der Tugend ableite.

Zunehmend wurde im 18. Jhdt. die strikte Trennung zwischen Mensch und Tier abgelehnt, mehr noch, der Mensch geriet nun auch als ein Mängelwesen in den Blick, das, verglichen mit den Tieren, oft sehr viel schlechter an die Umweltbedingungen angepasst ist (Herder: „Als nacktes, instinkloses Tier betrachtet, ist der Mensch das elendeste der Wesen“, Abhandlung über den Ursprung der Sprache). Das ist aber gerade der Grund für die Höherentwicklung: Wer von Natur aus Mangel leidet, entwickelt Verstandeskräfte, um ihn zu beheben.

Zur Debatte über das Wesen der Tiere im 18 Jhdt. (eine gute Übersicht gibt Ulrich Richtmeyer in La Mettrie, Die Tiere sind mehr als Maschinen, 2021):

o kurzer Artikel „Bêstes“ aus dem Jahr 1747 im Journal de Trévoux der Jesuiten („Tiere sind ohne Vernunft“, berichtet über die Antike, die den Tieren die Fähigkeit zu Denken attestiert und referiert zeitgenössische Veröffentlichungen zum Thema).
o Paradies, Ignace-Gaston, Discours de la connaissance de bêtes (1672), nimmt an, dass Tiere über Intelligenz und Gefühle verfügen, aber wir über sie nicht genug wissen und lehnt die Maschinenthese ab
o Racine, Louis, Première épître sur l’âme des bêtes, lehnt die Maschinenthese Descartes ab
o La Mettrie, L’Homme machine 1747 (dt. Der Mensch eine Maschine, 1875) indem er Mensch und Tier betrachtet, als seien sie Maschinen, fokussiert er auf die körperlichen Vorgänge, die sich qualitativ fast gar nicht unterscheiden. Damit brachte er die religiöse Umgebung gegen sich auf und musste aus Frankreich und Holland fliehen)
o La Mettrie, Julien Offray de, Die Tiere sind mehr als Menschen, hrsg. Ulrich Richtmeyer Berlin: Kadmos, 2021
o Bayle, Pierre, Artikel Rorarius im Dictionnaire historique et critique. v. 1697 (dt. Rorarius‚ im Historisch kritischen Wörterbuch, 1744),
Der Artikel bezieht sich auf das Werk Quod animalia bruta (1654) von Hieronymus’ Rosarius, kath. Nuntius in Ungarn, der Tieren Vernunft zusprach und meinte, sie würden sich ihrer sogar besser bedienen als die Menschen.
o Reimarus, Hermann Samuel, Allgemeine Betrachtungen über die Triebe der Tiere, 1762. In seinem der Aufklärung verbundenen Ansatz wandelt er auf den Spuren von La Mettrie, indem er Tiere und Menschen, der christlichen Lehre ganz entgegengesetzt, als wesensgleich betrachtet.

Philosophisches Taschenwörterbuch: Beau, Beauté – Schön, Schönheit (Kommentare)

Hintergrund:
Voltaires Artikel Schönheit scheint aus dem religionskritischen Rahmen des Philosophischen Taschenwörterbuchs herauszufallen. Zum Beispiel hätte das Schöne als Antithese zu einem Christentum entwickelt werden können, das die Menschheit jahrhundertelang mit eintönigen Ikonen und monotoner Musik langweilte. Davon ist in dem Artikel nicht die Rede. Auch nicht von Leibniz, der seiner Vorstellung von Gottes Schöpfung als der „besten aller möglichen Welten“ die von der „vollkommensten Schönheit, die möglich ist“, zur Seite stellte (GP VII,74, 76).

Stattdessen geht es ausschließlich darum, die Idee vom Absolut Schönen, wie sie seit Platon (Phaidros, Hippias maior, Symposium) herumspukt, ad absurdum zu führen. In der Renaissance perfektionierte die sogenannte Neuplatonische Schule Platons Idee vom Absolut Schönen zu einem Stufenmodell, auf dem man vom irdisch Schönen zum Absolut Schönen gelangt, und weiter auf allerhöchster Stufe zum Christengott selbst (Es war nicht von ihnen beabsichtigt, aber vielleicht entstand so eine Art ideologischer Schutz, unter dem – christlich verbrämt – Meisterwerke wie die Michelangelos, etwa der nackte David mit seinem schönen Po, entstehen konnten, ohne dass Papst und Sittenwächter etwas dagegen unternehmen konnten. Dass Michelangelo seine Kunstwerke mit religiösem Antrieb schuf, zeigt D. Krunic in Michelangelo Buonarotti – Seine Dichtungen).
Diese religiöse Überhöhung des Schönen und ihre philosophische Rechtfertigung ist es, gegen die Voltaire seinen kurzen Artikel schreibt.
Was wir als schön bezeichnen, ist bereits auf der „untersten Stufe“ relativ, wie kann es da sein, dass auf höherer Ebene, wenn es um Kunstwerke geht, ein alle Kulturkreise übersteigender Begriff des Schönen existierte? Weil relativ ist, was wir als schön empfinden, kann es eine allen Menschen gemeinsame Idee des Schönen nicht geben und schon gar nicht das religiös aufgeladene Absolut Schöne.

Die Debatte, was das ist, das wir als das Schöne bezeichnen, worauf also unser ästhetisches Urteil gründet, gewann im 18. Jahrhundert deutlich an Fahrt. Voltaire beschäftigte sich, anders als Diderot, nicht systematisch mit dem Thema, wenn er auch zur Schönheit in der Dichtkunst einiges verfasst hatte (etwa: Essai sur la poésie épique, 1732). Er hatte aber den Eindruck, dass sich die Argumente der Philosophen im Kreise drehen (wie bei Hutcheson: Schön ist, was gefällt, es gefällt weil es Lust erregt. Lust erregt es, weil wir einen inneren Sinn für das Schöne haben…).

Im 18. Jhdt zum Thema erschienen:
– Crousaz, Jean-Pierre de, Traité du beau, Amsterdam: François l‘Honoré 1715, 302 S.
– André, Yves Marie, Essai sur le beau 1741
– Hutcheson, Francis, Original of our Ideas of Beauty and Virtue (dt. Über den Ursprung unserer Ideen von Schönheit und Tugend) London, 1726.
– Diderot, Denis, Beau, in: Encyclopédie, Bd 2, 1752, S. 169–181, siehe: The Encyclopedia of Diderot & D’Alembert, Collaboration Translation Project engl./frz.
– Dubos, Jean Baptiste, Réflexions critiques sur la poésie et la peinture, Paris 1719 dt.: Kritische Betrachtungen über die Poesie und Mahlerey, Kopenhagen : Mumm, (1760 -1761), 3 Bd. 461 S., 526 S., 287 S.
– Hume, David, Of the standard of Taste, dt.: Von der Grundregel des Geschmacks, in: Vier Abhandlungen, Quedlinburg und Leipzig, bey Andreas Franz Biesterfeld, priviligirten Buchhändler, 1759.
– Batteux, Charles, Les beaux-arts réduits à un même principe, Paris 1746, dt.; Einleitung in die Schönen Wissenschaften, Dritte und verbesserte Auflage, Leipzig: Weidmanns Erben und Reich, 1760, 4 Bd.

Die folgenden Kommentare zu einzelnen Textstellen beziehen sich mit ihren Seitenangaben auf die von uns bei Reclam herausgegebene Ausgabe des Philosophischen Taschenwörterbuchs (2020):

Anmerkung 1  (S.63, erster Satz: „Fragen Sie eine Kröte, was Schönheit ist…“): Hinter dieser scheinbar so launigen Einleitung steckt die wichtige Erkenntnis, dass, was wir (visuell) als schön empfinden, wesentlich durch die Proportionen und Beschaffenheiten unseres Körpers bestimmt wird. Montesquieu (lettres persanes) formuliert es, allgemeiner, so: „Wir beurteilen die Dinge immer nur durch einen insgeheimen Rückbezug auf uns selbst“.

Anmerkung 2 (S.63, zweiter Absatz: „Wenden Sie sich schließlich an die Philosophen, sie werden Ihnen mit verworrenem Geschwätz antworten..“): Voltaire hält es nicht für notwendig, sich hier mit den Gedanken und Theorien der Philosophen auseinanderzusetzen. Das tat Diderot ausführlich in seinem Artikel Beau der Enzyklopädie, wo er sich insbesondere mit Francis Hutcheson (1694 – 1758) beschäftigt, der von einem angeborenen Sinn für das Schöne ausgeht.

Anmerkung 3 (S.63, dritter Absatz: „welch ein schönes Medikament…“): Voltaire zeigt, dass die Zweckmäßigkeit oder Nützlichkeit nicht, wie Shaftesbury glaubt, der Grund für unser Empfinden des Schönen sein kann. Diderot, der Shaftesburys Text (Inquiry concerning Virtue and Merit, in: Characteristicks of Men, Manners, Opinions, Times, London, 1711 ) ins Französisch übersetzt hatte (Principes de la philosophie morale; ou Essai de M. S*** sur le mérite et la vertu, Amsterdam: Zachaerie Chatelain, 1745, 297 S.) gibt dessen Auffassung so wieder: „Dass es nur ein Schönes gibt, dessen Grundlage die Nützlichkeit ist: So ist alles, was so organisiert ist, dass es am vollkommensten die Wirkung hervorbringt, die man beabsichtigt hat, das Allerschönste“ (Artikel Beau). Voltaire bezieht sich offenbar darauf und zeigt in seiner komischen Zuspitzung mit dem „schönen Medikament“, dass diese Erklärung absurd ist. Schade, dass er Immanuel Kants Kritik der Urteilskraft (1790) nicht mehr lesen konnte, es wäre interessant gewesen zu erfahren, was er zu einer Theorie gesagt hätte, die das Schöne einerseits in seinem Sinne extrem subjektiviert, andererseits aber mit seiner Diskurstheorie wieder voll und ganz in die Gemeinschaft der Menschen integriert.

Anmerkung 4 (S.63, dritter Absatz: „Er gab zu, dass die Tragödie in ihm diese beiden Gefühle wachgerufen hatte…“): Voltaire folgt hier dem empirisch-experimentellen Ansatz von J.B. Dubos, nachdem man bei der Untersuchung des Schönen mit dem beginnen soll, was wir unmittelbar subjektiv als schön empfinden, um erst dann, darauf aufbauend, zu eventuellen Verallgemeinerungen fortzuschreiten.

Volker Reinhardt, Voltaire, eine Biographie, Rezension (5.3): Am Hof des Kriegerkönigs

Eine der verwickeltsten Affären in Voltaires Berliner Zeit war sicherlich die Auseinandersetzung mit Maupertuis, einem bedeutenden Naturwissenschaftler, den Friedrich II zu seinem mit nahezu unbeschränkten Befugnissen ausgestatteten Präsidenten der preußische Akademie der Wissenschaften berufen hatte. Diese Geschichte kann nicht verstehen, wer die Person Maupertuis‘ und die Gepflogenheiten nicht kennt, die dieser, leider dem Alkohol anheimgefallene Despot an den Tag legte. René Pomeau entwickelt diese Dinge in seiner Biographie mustergültig, nicht jedoch Reinhardt, dem irgendwie der Platz dafür auszugehen scheint. Weil er aber die Vorgeschichte nicht bringt, hängt bei ihm Voltaires Verdacht, dass eine Intrige gegen ihn im Gang sei, in der Luft und erscheint dem Leser als Ausdruck einer charakterlichen Schwäche Voltaires. Es ist hier, wie überall: wer die Hintergründe einer Auseinandersetzung nicht bringt, kann die Handlungen jedes noch so berechtigten Verteidigers stets in ein schlechtes Licht rücken. Reinhardt benutzt Voltaires Auseinandersetzung mit Maupertuis, um jenem ein ehrenhaftes Verhalten ganz und gar abzusprechen. Die Kampfschrift Voltaires, Akakia, mit der er dem schwächeren Part, eben Samuel König, den Rücken stärkte, bewertet Reinhardt als „bösartige Satire“, als „maliziöse Zusammenstellung“, als „systematische Rufvernichtung“ (325 f), während sie Théodore Besterman als Voltaires „geistreichste und beißendste“ Satire bezeichnet.

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Volker Reinhardt, Voltaire, eine Biographie, Rezension (5.2): Am Hof des Kriegerkönigs

Völliges Unverständnis zeigt Reinhardt, wenn es um die Frage geht, warum Voltaire, obwohl er um die Risiken wußte, 1750 trotzdem nach Potsdam/Berlin übersiedelte. Reinhardt unterschätzt die Bedeutung, die für Voltaire Bündnisgenossen im Kampf gegen die Kirche hatten und zweitens nimmt er die intellektuelle Beziehung zwischen Friedrich und Voltaire nicht ernst, reduziert sie von Seiten Friedrichs auf das Interesse nach Zerstreuung, die ihn Voltaire als Hofnarren nach Berlin kommen ließ. Das ist nicht falsch, aber nur die eine Seite der Medaille, die Briefe Friedrichs sprechen eine völlig andere Sprache und zeugen von einem ernsthaften geistigen Interesse am Dialog mit Voltaire.
Was Voltaire betrifft, so bot das Leben an der Seite eines der mächtigsten Herrscher, der zudem Freimaurer war, den großen Reiz, tiefe Einblicke in das Funktionieren der Macht zu gewähren, die er in Frankreich niemals erhalten hätte. Das Thema der Freimaurerei: Bei Reinhardt Fehlanzeige – um so seltsamer, als fast alle Freunde Voltaires Mitglieder in Freimaurerlogen waren.

Volker Reinhardt, Voltaire, eine Biographie, Rezension (5.1): Am Hof des Kriegerkönigs

Schon im Titel dieses Kapitels zeigt sich, dass Reinhardt – wie so viele seiner Zunft -meint, dass Friedrich II., genannt der Große, vor allem durch seine zahlreichen Kriege charakterisiert werden könnte. Kriege haben allerdings viele Könige geführt, auch das Habsburgerreich kam zu seiner Größe nicht nur durch Heiraten. Wenige haben Schriftsteller und Philosophen an ihren Hof gerufen, um sie vor lebensbedrohlicher Verfolgung zu schützen (von Reinhardt ins Negative gedreht: „..die durch Gehaltszahlungen von Friedrich abhängig waren“(315), oder „von der Gunst des Königs abhängig“(316)). Wenige haben die Folter abgeschafft, wenige die Kirchen in ihre Schranken verwiesen. Dass es am preußischen Hof zuging, wie an allen Höfen – auch dies ist keine Besonderheit Friedrichs.

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Volker Reinhardt, Voltaire, eine Biographie, Rezension (4): Der Homme de Lettres und die Mathematikerin

„Die Abenteuer der Freiheit“ heißt der Untertitel von Volker Reinhardts Voltaire Biographie. Im 4. Kapitel scheint es, als ob die Freiheit Voltaires weiterginge als die des Autors bzw. seines Mentors (das ist R. Pomeau) und er daher zu einem erstaunlichen Werturteil kommt. Die Zeit in Cirey ist der Lebensabschnitt, in dem Voltaire am glücklichsten war, was vor allem an der außergewöhnlichen Persönlichkeit der Frau lag, mit der er von 1733 – 1749 zusammenlebte: Emilie du Châtelet.

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Volker Reinhardt, Voltaire, eine Biographie, Rezension (3) Auf der Suche nach Reichtum und Ruhm

Das dritte Kapitel berichtet über die Jahre 1728 – 1734, den Lebensabschnitt, in dem Voltaire mit Haftbefehl verfolgt wurde und schließlich nach Cirey in die Champagne floh. Man hätte erwartet, dass diese dramatische Wendung in der Biographie Voltaires durch eine intensive Beschäftigung mit dem Corpus delicti, seinen Philosophischen Briefen und den gesellschaftlich-politischen Gründen der Verfolgung verständlich gemacht wird. Dem ist jedoch nicht so. Das Ziel, möglichst viele Werke vorzustellen, führt dazu, dass durch ausführliche Inhaltserzählungen kaum Platz für Hintergrundanalysen bleibt.

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Volker Reinhardt, Voltaire, eine Biographie, Rezension (2): Am Hof und im Exil

Kritisch kommentiert von Rainer Neuhaus.

Im zweiten Kapitel erzählt Reinhardt Voltaires Lebensweg bis zum englischen Exil. Er stellt das epische Gedicht Henriade zu ausführlich, die Lettres Philosophiques zu knapp vor und berichtet von Voltaires Reise mit Madame de Rupelmonde, dem für sie verfassten antiklerikalen Gedicht Le pour et le contre und schließlich von der Zeit in England. Außer der lebendigen Präsentation des Gedichts und eines Teils der Philosophischen Briefe finden wir nicht viel Gefallen an dem Kapitel – eher Langeweile und bedauerliche Auslassungen. Hier die ausführlichere Begründung unserer Kritik:

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Volker Reinhardt, Voltaire, eine Biographie, Rezension (1): Auf dem Weg zum eigenen Namen

Kritisch kommentiert von Rainer Neuhaus

Das erste Kapitel der neuen Voltaire Biographie von Prof. Volker Reinhardt , das sich Kindheit und Jugend Voltaires widmet, orientiert sich sehr stark an der nur auf Französisch erschienenen Biographie von René Pomeau. Reinhardt erzählt routiniert, aber auch mit großer Distanz zu seinem Gegenstand.
Zum Beispiel wertet er die Jugendliebe Voltaires zu Pimpette als „Pflichtpensum“, so als ob er selbst nie neunzehn Jahre alt gewesen wäre. Bei der Vorstellung von Voltaires erstem, erfolgreichen Theaterstück Ödipus bleibt er in den Bahnen gewöhnlicher Interpretationsmuster und gerät, wo er darüber hinausgeht, in eine Sackgasse. Dagegen stellt er die ersten Erzählungen Voltaires Cosi Sancta und Der einäugige Lastenträger kurz und prägnant vor, so dass man durchaus Lust bekommt, sie selbst zu lesen, genau, wie es sein soll. Folglich ist unser Gesamteindruck von Kapitel 1 ambivalent. Hier dazu die ausführlichere Begründung: 

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