Philosophisches Taschenwörterbuch: Caractère – Charakter. (Kommentare)

Hintergrund:
Wenn Voltaire als „homme de théâtre“ davon ausging, dass jeder Mensch natürlicherweise einen unveränderlichen Charakter hat, war er mit der Kirche weitgehend einig, wenngleich diese ihn nicht für Naturgegeben, sondern für Gottgegeben (nach Augustinus durch die heiligen Sakramente verliehen) hielt.
Folgender Definition aus der Encyclopédie (Art. Caractère dans les personnages) hätte er sicherlich zugestimmt: „Le caractère […] n’est donc autre chose qu’une passion dominante qui occupe tout à la fois le coeur & l’esprit ; comme l’ambition, l’amour, la vengeance, dans le tragique ; l’avarice, la vanité, la jalousie, la passion du jeu, dans le comique. (dt.: Der Charakter […] ist daher nichts anderes als eine dominante Leidenschaft, die sowohl das Herz als auch den Verstand beherrscht; wie Ehrgeiz, Liebe, Rache, in der Tragödie; Geiz, Eitelkeit, Eifersucht, Leidenschaft für das Spiel in der Komödie).
Andererseits kannte Voltaire gewiss das Werk Les Caractères (1699) von La Bruyère (1645 – 1699), das mit einer Übersetzung der Charakterologie von Theophrast (371 – 287 v.u.Z), einem Schüler des Aristoteles, beginnt und zahlreiche, als Charaktere bezeichnete Persönlichkeitseigenschaften aufzählt, (z.B. Zerstreutheit, Schmeichelei, Geiz…), er folgte aber eher der systematischen Charakterkunde Galenus von Pergamon (130 -200 u.Z.), der lehrte, dass es vier Typen von Temperamenten gebe (Sanguiniker, Choleriker, Phlegmatiker und Melancholiker).
Eine weiterführende Zusammenfassung zur Begriffsgeschichte in der Philosophie gibt Robert Eisler (1882-1949) in seinem Handwörterbuch der Philosophie , Artikel Charakter.

Die folgenden Kommentare zu einzelnen Textstellen beziehen sich mit ihren Seitenangaben auf die von uns bei Reclam herausgegebene Ausgabe des Philosophischen Taschenwörterbuchs (2020):

Anmerkung 1 (S.78, vierter Satz: kann ich auf den Charakter einwirken, den die Natur mir gegeben hat?): Die Frage, wie man zu seinem Charakter käme, wurde, darin Galenus folgend, entweder der Natur zugeschrieben, oder aber gesellschaftlichen Einflüssen und denen der Erziehung. Eine Position, die mit dem Namen Rousseaus verbunden ist, obwohl auch er von einem natürlicherweise vorhandenen Charakter des Menschen ausgeht, den man in der Erziehung erkennen und – eben als naturgegeben – nicht unterdrücken soll.

Anmerkung 2 (S.78, unten: Doch wenn Franz I sich mit Physiognomien auskennt..): Das Werk Les Charactères des Passions von Martin Cureau de la Chambre (1594 – 1669), in dem er Gefühle wie Hass, Leid, Mut, Trauer, Furcht, Hoffnungslosigkeit untersucht, und sein L’Art de connoistre les hommes bereiten den Weg zur Psychologie unserer Zeit. Er beschäftigt sich auch mit der Frage, wie sich die Leidenschaften eines Menschen erkennen lassen:
„Celui qui donnait avis de consulter son miroir dans la colère, avait raison de croire que les Passions se devaient mieux connaître dans les yeux que dans l’âme même“ (Wer im Zorn die Meinung seines Spiegels einholen wollte, hätte Grund zu der Annahme, dass sich Gefühle besser in den Augen als in der Seele erkennen lassen)
nach: Florence Dumora, Topologie des émotions. Les Caractères des passions de Marin Cureau de La Chambre, in: Littératures classiques 2009/1 (N° 68), pages 161 à 175

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