Voltaire: Rede über den Menschen in Versen (I).
Übersetzt von Rainer Bauer (2025).

Der Discours en vers sur l’homme erschien mit seinen sieben Kapiteln erstmals vollständig gedruckt in Dresden bei Walther, in den Oeuvres de Mr. de Voltaire (1751). Voltaire verfasste den Discours aber bereits im Jahr 1738, in der Zeit, als er mit seiner Geliebten Emilie du Châtelet in Cirey lebte.
Einzelne Kapitel erschienen unter anderem Titel bereits vorher: Kapitel 1, 2 über die Gleichheit, die Freiheit und den Neid 1738 unter dem Titel Épîtres sur le Bonheur, la Liberté et l’Envie  in Amsterdam bei Desbordes. Voltaire schickte selbst Abschriften an Friedrich II. (am 23.1 und das dritte Kapitel über den Neid am 8.3.1738). 

Unsere Übersetzung (zunächst der 1. Rede) ist eine Arbeitsdatei auf der Basis einer ChatGPT Erstübersetzung. Den Arbeitsfortschritt erkennt man an dem gelben Balken, der die Stelle markiert, bis zu der wir die Erstübersetzung korrigiert und in eine eigene Version überführt haben.
Die Computerunterstützung ist einerseits ein großer Vorteil: sie erlaubt es, relativ schnell den ungefähren Sinn des Textes zu erfassen und eine gereimte Version zu erstellen. Andererseits ist sie aber auch ein Nachteil, denn die Maschine verändert den Text nach Plausibilitätskriterien und entstellt dadurch manchen Vers bzw. verändert den Sinn.
Fragte man nach deutschen Übersetzungen, erfand OpenAI einfach schnell und falsch eigene Quellen – zur Literatursuche taugt es bisher nicht.
Die einzige uns bekannte Übersetzung ist diese:
Des Herrn Voltaire Abhandlungen in Versen über den Menschen, In Prosa übersetzt von A. R., Breitkopf: Leipzig 1771
(Stand 21.6.2025)

Erste Rede: Von der Gleichheit unserer Ausgangsbedingungen
Du schaust, o weiser Ariston, mit stiller Gleichmut niederTu vois, sage Ariston d’un oeil d’indifférence 
Auf stolze Macht und überheblich reiche Brüder.La grandeur tyrannique et la fière opulence
Dein Blick lässt sich vom falschen Glanz nicht blenden Tes yeux d’un faux éclat ne sont point abusés. 
Die Welt ist ein Maskenball mit täuschenden Gewänden.Ce monde est un grand bal où des fous, déguisés 
Mit Titeln wie „Eminenz“ und „Hoheit“ lächerlich bestückt,Sous les risibles noms d’Éminence et d’Altesse, 
Bläht sich solch Volk, als wär in höh’re Sphären es entrückt.Pensent enfler leur être et hausser leur bassesse. 
Vergeblich glänzt der Tand in eitler Pracht und Gier:En vain des vanités l’appareil nous surprend: 
Die Menschen sind sich gleich – nur anders ihr Visier.Les mortels sont égaux(24); leur masque est différent. 
Fünf Sinne, unvollkommen, gab uns die NaturNos cinq sens imparfaits donnés par la nature, 
Von unserem Wohl und Wehe sind sie das einzig Maß.De nos biens, de nos maux sont la seule mesure. 
Haben Könige denn sechs? Ist ihr Leib ein andrer Bau?Les rois en ont-ils six? et leur âme et leur corps 
Sind Herz und Geist bei ihnen anders, reiner, schlau?Sont-ils d’une autre espèce, ont-ils d’autres ressorts? 
Aus demselben Lehm sind alle wir geboren,C’est du même limon que tous ont pris naissance
Und in derselben Schwachheit geht der Kindheit Spur verloren.Dans la même faiblesse ils traînent leur enfance? 
Der Reiche wie der Arme, der Schwache wie der Starke,Et le riche et le pauvre, et le faible et le fort, 
Sie gehen gleich zur Ruh auf ihrer letzten Bahre.Vont tous également des douleurs à la mort. 
„Ach was!“, sagt man mir vielleicht, „Wir liegen auseinander!“   « Eh quoi! me dira-t-on, quelle erreur est la vôtre! 
Hat nicht der Eine mehr Glück als ein Andrer?N’est-il aucun état plus fortuné qu’un autre? 
Hat sie der Himmel alle gleich erzeugt?Le ciel a-t-il rangé les mortels au niveau?
Ist wohl die Gattin eines Schreiberlings, der über Bücher sich in Arbeit beugt,La femme d’un commis courbé sur son bureau 
Von gleichem Rang der Fürstin, die nah dem Throne sich erfreut?Vaut-elle une princesse auprès du trône assise? 
Ist’s nicht viel schöner wohl für einen Mann der Kirche,N’est-il pas plus plaisant pour tout homme d’église 
Die Stirn mit rotem oder grünem Hut zu schmücken,D’orner son front tondu d’un chapeau rouge ou vert 
Als in schlechtem dunklen Stoffe vorzurücken Que d’aller, d’un vil froc obscurément couvert,
Und auf Knien zugeteilt, nach  Laudes und Matine,Recevoir à genoux, après laude ou matine, 
Zur Züchtigung vom Prior zwanzig Hiebe?De son prieur cloîtré vingt coups de discipline? 
Lebt man nicht besser unterm dreifach hohen Doktorhut,Sous un triple mortier n’est-on pas plus heureux 
Als ein Schreiber, begraben im Staube seiner Aktenflut?Qu’un clerc enseveli dans un greffe poudreux? » 
Nein: Ungerecht wär’ Gott! Doch die Natur, so weise,Non: Dieu serait injuste; et la sage nature
Mit ihren zugeteilten Gaben, hält stärker Maße.Dans ses dons partagés garde plus de mesure. 
Glaubt man, sie hefte an den Wagen unser Glück,Pense-t-on qu’ici-bas son aveugle faveur 
Den blinder Zufall dann durchs Leben schickt?Au char de la fortune attache le bonheur? 
Ein junger Oberst – frech, wie er war Un jeune colonel a souvent l’impudence 
Hat mehr Lust als ein Marschall gar.De passer en plaisirs un maréchal de France.
„Glücklich wie ein König“, so spricht das dumme Volk « Être heureux comme un roi », dit le peuple hébété
Doch macht ein Zepter froh? Verjagt es jeden Groll?Hélas! pour le bonheur que fait la majesté?
Vergeblich stützt die Majestät sich auf den Thron;En vain sur ses grandeurs un monarque s’appuie;
Sie ist gelangweilt – und gähnt auch schon.Il gémit quelquefois, et bien souvent s’ennuie.
Ihr Günstling hat zu mir nie einen Blick geschafft,
Son favori sur moi jette à peine un coup d’oeil. 
Ein Tier, gebaut aus Stolz und Niedertracht.Animal composé de bassesse et d’orgueil, 
Von Ekel schwer und dennoch Neid erregt,Accablé de dégoûts, en inspirant l’envie, 
Wirst du erst verehrt und dann geschmäht.Tour à tour on t’encense et l’on te calomnie. 
Sag, was hast du gewonnen im Gemach des Königs?Parle; qu’as-tu gagné dans la chambre du roi? 
Ein wenig mehr Lakaien – und Feinde, so wie mich.Un peu plus de flatteurs et d’ennemis que moi. 
Dort oben, auf den Türmen unsres Observatoriums,Sur les énormes tours de notre Observatoire, 
Befragt das Zauberbuch des UranusUn jour, en consultant leur céleste grimoire, 
Eine Schar von dessen Jüngern, die vor Neugier brenntDes enfants d’Uranie un essaim curieux,
Richtet ein Rohr von hundert Fuss aufs FirmamentD’un tube de cent pieds braqué contre les cieux, 
Beobachtet die Geheimnisse der PlanetospähreObservait les secrets du monde planétaire. 
Ein Bauerntölpel rief, was das für Zauber wäre:Un rustre s’écria: « Ces sorciers ont beau faire, 
„Der Sterne Glitzern ist euer ebenso wie mein“.Les astres sont pour nous aussi bien que pour eux. » 
Und das gilt auch fürs Glücklichsein;On en peut dire autant du secret d’être heureux; 
Ein schlichter Mensch, begabt mit sicherem Gespür,Le simple, l’ignorant, pourvu d’un instinct sage, 
Lebt gleich nah am Glück – auch ohne Glanz und Zier.En est tout aussi près au fond de son village 
Auch wie jener stolze Mann, der denkt, er kann es halten,Que le fat important qui pense le tenir, 
Und der traurige Pedant, der sucht, es übers Definieren zu verwalten.Et le triste savant qui croit le définir. 
Man sagt, vor Pandoras Büchse war’n wir gleichgestellt – On dit qu’avant la boîte apportée à Pandore 
Wir sind es heute noch: Das ist, was wirklich zählt.Nous étions tous égaux: nous le sommes encore; 
Die gleichen Rechte auf das Glücklichsein,Avoir les mêmes droits à la félicité, 
lassen uns erst wirklich Gleiche sein.C’est pour nous la parfaite et seule égalité. 

Ab hier ChatGPT Übertragung

 



Siehst du in jenen Tälern die Knechte, die sich plagen,Vois-tu dans ces vallons ces esclaves champêtres 
Fels sprengen, Wasser leiten, und Bäume niederjagen?Qui creusent ces rochers, qui vont fendre ces hêtres, 
Mit Hacken in der Hand durchfurchen sie das Feld,Qui détournent ces eaux, qui, la bêche à la main, 
Sie nähren uns – ihr Werk ist’s, was die Erde hält.Fertilisent la terre en déchirant son sein? 
Sie sind nicht jene Schäfer, von Fontenelle besungen,Ils ne sont point formés sur le brillant modèle 
Die, unter Myrten träumend, süßeste Verse sungen.De ces pasteurs galants qu’a chantés Fontenelle: 
Kein Tyrcis, keine Flöte, kein Kranz aus Rosenduft,Ce n’est point Timarette et le tendre Tyrcis, 
 De roses couronnés, sous des myrtes assis 
 Entrelaçant leurs noms sur l’écorce des chênes, 
Kein kunstreiches Geständnis, das sich in Eichen ruft.Vantant avec esprit leurs plaisirs et leurs peines; 
Es sind Pierrot und Colin, die mit starker HandC’est Pierrot, c’est Colin, dont le bras vigoureux 
Den Wagen aus dem Morast reißen aus tiefem Sand.Soulève un char tremblant dans un fossé bourbeux. 
Perrette ist beim ersten Licht schon draußen auf den Wiesen,Perrette au point du jour est aux champs la première. 
Verschwitzt, verstaubt, doch froh im Tun der schweren Krisen.Je les vois, haletants et couverts de poussière, 
 Braver, dans ces travaux chaque jour répétés, 
Sie trotzen Schnee und Glut, dem Wechsel aller Zeit,Et le froid des hivers, et le feu des étés. 
Und singen dennoch froh ein Lied aus Frömmigkeit.Ils chantent cependant; leur voix fausse et rustique 
Ihr Lohn ist Kraft und Schlaf, Gesundheit und auch Ruh,Gaîment de Pellegrin(25) détonne un vieux cantique(26).
 La paix, le doux sommeil, la force, la santé, 
Und was sie nicht besitzen, das stört ihr Herz nicht zu.Sont le fruit de leur peine et de leur pauvreté.
Wenn Colin Paris sieht, die Stadt in vollem Glanz,Si Colin voit Paris, ce fracas de merveilles, 
Erlauscht er nur den Lärm, nicht aber ihren Tanz.Sans rien dire à son coeur, assourdit ses oreilles: 
Er wünscht sich nicht das Treiben, das Tosen und Getön –Il ne désire point ces plaisirs turbulents; 
Er liebt sein einfach Glück, die Felder, Korn und Höhn.Il ne les conçoit pas; il regrette ses champs; 
Dort ruft ihn selbst die Liebe, so schlicht wie unverstellt,Dans ces champs forunés l’amour même l’appelle; 
Und Damis, der in Pracht durch goldne Decken schnellt,Et tandis que Damis, courant de belle en belle, 
  
 Sous des lambris dorés, et vernis par Martin(27),
Verliert sich in Intrigen, in Künste ohne Treu’, Des intrigues du temps composant son destin, Verliert sich in Intrigen, in Künste ohne Treu’, Des intrigues du temps composant son destin, 
  
  
  
 Dupé par sa maîtresse et haï par sa femme, 
 Prodigue à vingt beautés ses chansons et sa flamme, 
Geht von Chloris zu Églé, von Wahrheit ganz entzwei.Quitte Églé qui l’aimait pour Chloris qui le fuit, 
 Et prend pour volupté le scandale et le bruit,
Colin, stark und treu, kehrt mit dem FrühlingsduftColin, plus vigoureux, et pourtant plus fidèle, 
Zu Lisette zurück, mit Herz und Bauernluft.Revole vers Lisette en la saison nouvelle; 
 Il vient, après trois mois de regrets et d’ennui, 
 Lui présenter des dons aussi simples que lui. 
Er bringt nicht feine Gaben, kein Glitzern, keinen Tand,Il n’a point à donner ces riches bagatelles 
Nicht das, was Hébert schuldet dem halben Liebesland –Qu’Hébert(28) vend à crédit pour tromper tant de belles: 
Doch reicht ihm seine Treue, sein Blick, sein redlich Streben:Sans tous ces riens brillants il peut toucher un coeur; 
Denn Glück braucht keinen Schmuck, um wirklich Glück zu geben.Il n’en a pas besoin: c’est le fard du bonheur. 
Der Adler, stolz und schnell, folgt hoch des Windes Lauf   L’aigle fier et rapide, aux ailes étendues, 
Zum Objekt seiner Glut, in Wolken weit hinauf.Suit l’objet de sa flamme élancé dans les nues; 
Im Tal indes der Stier, der seine Kuh begehrt,Dans l’ombre des vallons le taureau bondissant 
Brüllt zärtlich seine Lust, das Glück in Ruh’ verzehrt.Cherche en paix sa génisse, et plaît en mugissant; 
Die Nachtigall im Hain singt zart zur Frühlingszeit,Au retour du printemps la douce Philomèle 
 Attendrit par ses chants sa compagne fidèle; 
Der Falter summt sein Lied in Luftigkeit und Kleid.Et du sein des buissons le moucheron léger 
 Se mêle en bourdonnant aux insectes de l’air. 
Und keiner fragt dabei, ob andre schöner klingen,De son être content, qui d’entre eux s’inquiète 
Ob irgendwer vollkommner sei im Tun, im Schwingen.S’il est quelque autre espèce ou plus ou moins parfaite? 
Was zählt, ist das Gefühl im Innersten der Brust –Eh! qu’importe à mon sort, à mes plaisirs présents, 
Was soll uns das Vergleichen, wenn Frieden ist die Lust?Qu’il soit d’autres heureux, qu’il soit des biens plus grands? 
„Doch jener Bettler dort, halb Mensch, halb toter Leib,   « Mais quoi! cet indigent, ce mortel famélique, 
 Cet objet dégoûtant de la pitié publique, 
 D’un cadavre vivant traînant le reste affreux, 
Ist der etwa auch glücklich, trotz Not und bösem Treib?“Respirant pour souffrir, est-il un homme heureux? » 
Nein, sicher nicht – wie Thamas, gestürzt vom Thron der Macht,Non, sans doute; et Thamas qu’un esclave détrône, 
Der einst ein stolzer Fürst, nun Kettenknecht der Nacht.Ce vizir déposé, ce grand qu’on emprisonne, 
Denn jedes Leben kennt sein Maß an Leid und Last,Ont-ils des jours sereins quand ils sont dans les fers? 
Und jedem Mensch, ob groß, ob klein, kommt Schmerz zur Rast.Tout état a ses maux, tout homme a ses revers. 
 Moins hardi dans la paix, plus actif dans la guerre, 
Karl, wär er nicht zu zag, hielt England unter Pflicht,Charle(29) aurait sous ses lois retenu l’Angleterre; 
Dufresny, nicht so freigebig, verlor sein Licht.Dufresny(30), moins prodigue, et docile au bon sens,
 N’eût point dans la misère avili ses talents. 
So bleibt’s am Ende gleich: Der Hof hat seine Plagen,Tout est égal enfin: la cour a ses fatigues, 
Die Kirche ihre Nöte, der Krieg sein eignes Jagen.L’Église a ses combats, la guerre a ses intrigues 
Oft ist das stille Gut dem Stolzen nicht beschieden –Le mérite modeste est souvent obscurci; 
Doch Glück und Leid sind frei, und überall in Frieden.Le malheur est partout, mais le bonheur aussi. 
Nicht Stand, nicht Alter zählt, nicht Glanz, nicht Armut bloß,Ce n’est point la grandeur, ce n’est point la bassesse, 
Das wahre Glück ist leise, und überall ist’s groß.Le bien, la pauvreté, l’âge mûr, la jeunesse, 
 Qui fait ou l’infortune ou la félicité. 
Einst war der arme Irus, verachtet, leer, verhöhnt,   Jadis le pauvre Irus, honteux et rebuté, 
Der in den Staub geblickt, dem Reichtum neidisch frönt. 
Er sah auf Crösus’ Glanz, auf Prunk und tausend GüterContemplant de Crésus l’orgueilleuse opulence, 
Und sprach voll Bitterkeit zu seiner stillen Hütte:Murmurait hautement contre la Providence: 
„Wie reich! Welch Überfluss! Welch Gold, welch Ehrenkranz!Que d’honneurs! disait-il, que d’éclat! que de bien! 
Crösus besitzt ja alles – ich nichts als meinen Glanz.“Que Crésus est heureux! il a tout, et moi rien. 
Doch kaum war dieses Wort verklungen aus dem Munde,Comme il disait ces mots, une armée en furie 
Da stürzte schon der Sturm auf Crösus‘ letzte Stunde.Attaque en son palais le tyran de Carie: 
Ein wütendes Heer durchbrach der Feste Tor, 
Die Diener flohn, verrieten ihn sofort.De ses vils courtisans il est abandonné; 
 Il fuit, on le poursuit; il est pris, enchaîné; 
 On pille ses trésors, on ravit ses maîtresses. 
Gefesselt, nackt, verjagt aus seinen goldnen Hallen, 
Sah Crösus seine Welt in Schutt und Asche fallen. 
Man raubt ihm seine Schätze, die Gunst, die ihm gebrach, 
Die Frauen, die ihn rühmten, nun lachen sie ihm nach. 
Er weint, er sieht im Staub, bei diesem Überfall,Il pleure: il aperçoit, au fort de ses détresses,
Den armen Irus trinken im Siegerfestlokal.Irus, le pauvre Irus, qui, parmi tant d’horreurs, 
 Sans songer aux vaincus, boit avec les vainqueurs. 
„O Götter!“, ruft er aus, „ihr spielt zu grob das Spiel –O Jupiter! dit-il, ô sort inexorable! 
Jetzt ist Irus zu glücklich – und ich das letzte Ziel!“Irus est trop heureux, je suis seul misérable. 
Doch irrten sich die zwei, wie wir uns alle irren:Ils se trompaient tous deux; et nous nous trompons tous. 
Denn Neid und Eifersucht nur unser Denken wirren.Ah! du destin d’autrui ne soyons point jaloux; 
Wir schätzen fremdes Glück, das wir nicht wirklich kennen,Gardons-nous de l’éclat qu’un faux dehors imprime. 
Und glauben, dass es besser sei, als wir’s empfinden können. 
O sucht nicht in dem Glanz, in Pomp und Lautem Licht – 
Denn alles, was ihr seht, das wahre Wesen nicht. 
Was im Herzen ruht, das bleibt uns stets verborgen –Tous les coeurs sont cachés; tout homme est un abîme. 
Jeder Mensch trägt in sich Nacht, so gut wie Morgensorgen. 
Ein Lächeln kann betrügen, ein Frohsinn kann vergehen –La joie est passagère, et le rire est trompeur(31).
Was heute scheint zu glänzen, mag morgen nicht mehr stehen. 
Wo ist das Glück? – man fragt in jedem AugenblickHélas! où donc chercher, où trouver le bonheur? 
Wo birgt sich wohl das Ziel, das ewige Geschick? 
Es ist in allen Dingen, in Wäldern, Fluss und Land,En tous lieux, en tous temps, dans toute la nature, 
Doch nie ganz greifbar, nie im vollen Stand.Nulle part tout entier, partout avec mesure, 
Es wohnt ein Stück in allem – mit Maß, mit Frist, mit Zeit, 
Doch ganz ist’s nirgendwo – nur in der Ewigkeit.Et partout passager, hors dans son seul auteur. 
Es gleicht der stillen Glut, die in den Stoffen brennt,Il est semblable au feu dont la douce chaleur 
 Il est semblable au feu dont la douce chaleur 
 Dans chaque autre élément en secret s’insinue, 
Die durch die Meere zieht, durch Stein und Firmament.Descend dans les rochers, s’élève dans la nue, 
Sie wärmt in tiefer Nacht, sie färbt des Koralls Kern,Va rougir le corail dans le sable des mers, 
Sie leuchtet durch den Frost, sie flammt im fernsten Stern.Et vit dans les glaçons qu’ont durcis les hivers(32).
Uns gab der Himmel einst ein Wesen, das sich neigt   Le ciel, en nous formant, mélangea notre vie 
Zum Wunsch, zur Torheit, Freude, die selten lang verbleibt.De désirs, de dégoûts, de raison, de folie, 
Ein Teil ist unser Glück, ein Teil ist unser Leid – 
Und beides macht uns ganz in dieser kurzen Zeit. 
Denn unser Sein besteht aus Irrtum und aus Klarheit,De moments de plaisirs, et de jours de tourments: 
Aus Fieberträumen, Kraft, und auch aus Bitterkeit.De notre être imparfait voilà les éléments; 
Dies ist des Menschen Art, dies ist das Gleichgewicht:Ils composent tout l’homme, ils forment son essence; 
Der Herr wog alle Seelen – und gab uns gleiche Pflicht.Et Dieu nous pesa tous dans la même balance

Voltaire-Förderpreis 2025 an Anselm Breuer vergeben

Die Voltaire-Stiftung verlieh 2025 erstmals den mit 7000 € dotierten Voltaire-Förderpreis. Preisträger ist der Mainzer Komponist Anselm Breuer. Er erhält den Preis für sein Projekt, das bisher noch nie vertonte Libretto Voltaires Tanis et Zélide in barockem Stil zu einer fertigen Oper zu komponieren und 2026 zur Aufführung zu bringen.
Anlässlich einer öffentlichen Werkpräsentation überreichte der Vorstand der Voltaires-Stiftung am 7.6.2025 in Mainz die Urkunde und würdigte den Preisträger.
-> Anselm Breuer, Voltaire-Förderpreisträger 2025 und sein Projekt Tanis et Zélide

Syrien: Massaker an Alawiten

Sind Aleviten und Alawiten dasselbe? Nein, es handelt sich zwei verschiedene Religionsgemeinschaften. Zwar verehren beide den Heiligen Ali, gelten als progressiver, so sind bei beiden die Frauen gleichberechtigt, sie unterscheiden sich jedoch in ihrer Religionsausübung in Bezug auf das Beten, Fasten und rituelle Vorgaben.
Seit Januar mehren sich Augenzeugenberichte, Videos, Bilder von Massakern vor allem an Alawiten, Christen und Drusen in der westlichen Küstenregion Syriens. In Syrien sind 12 Prozent der Bevölkerung Alawiten, auch der ehemalige syrische Präsident Assad war Alawit.
Drei Monate nach dessen Sturz leben syrische Alawiten in großer Angst vor Vergeltung, angeblich, weil sie von der Assad-Regierung privilegiert wurden. Die syrische Übergangsregierung nennt die Massaker bei denen ganze Familien ausgelöscht werden „Ereignisse bzw. Einzelfälle“, es lassen sich jedoch sehr viele stolz von den Tätern gepostete Videos der Hinrichtungen im Internet finden. Bei den Tätern soll es sich um Milizen im Auftrag der HTS (Allianz der Befreiung der Levante, die derzeit die Regierung bildet) handeln. Diese bewaffneten Gruppen aus Zentralasien und Nordafrika stammend, sollen insbesondere in der Nacht vom 6. zum 7. März und bis zum 14. März Tausende Menschen gewaltsam getötet haben. Laut der Übergangsregierung sind die Tötungen beendet und es wurde ein Untersuchungsausschuss von sieben Personen z. T. Richter ins Leben gerufen, die 30 Tage recherchieren sollen, doch Augenzeugen berichten von andauernden Massakern. Die bewaffneten Gruppen besetzen die Häuser und Grundstücke ihrer Opfer, dabei soll es sich um Landinbesitznahmen handeln, eine Art lokale Besiedelung. Tausende Alawiten haben zwischenzeitlich auf dem Gelände der russischen Luftwaffenbasis Zuflucht gefunden. Der noch immer weitergehende mörderische Feldzug gegen religiöse Minderheiten wird möglicherweise ermuntert durch das internationale Schweigen, die EU übernimmt die Nachrichten der Übergangsregierung eher unkritisch, aber zumindest hat der UN-Sicherheitsrat die ethnischen Säuberungen am 14. März 2025 verurteilt.

Voltaire sagt (Artikel Tolérance – Toleranz im Philosophischen Taschenwörterbuch):

„Habt ihr bei Euch zwei Religionen, werden sie sich die Kehle durchschneiden, habt Ihr dreißig, leben sie miteinander in Frieden“.

Der Plan, in Syrien einen sunnitisch-islamischen Staat einzurichten, wirft seine Schatten voraus.

Quellenhinweis:
Blutrache an Unschuldigen (Bistum Regensburg vom 10.3.2025)

Blog-Eintrag vom: 15.3.2025

Philosophisches Taschenwörterbuch: Critique – Kritik (Kommentare)

Dieser Kommentar gibt Hintergrundinformationen zu dem Artikel Critique aus dem Philosophischen Wörterbuch (1764) von Voltaire, das wir 2020 erstmals vollständig ins Deutsche übersetzt und im reclam Verlag herausgegeben haben. Das Buch gibt es gebunden und seit 2023 auch als Taschenbuch. Die Übersetzung des Artikels Critique besorgte Angelika Oppenheimer; es ist die erste Übersetzung ins Deutsche.

Hintergrund: Streit zwischen den Anhängern der Antike mit den Modernen

Voltaires Artikel Critique bezieht sich auf die Debatte zwischen den Freunden der Antike und den Modernen, die in Frankreich Ende des 17. Jahrhunderts begann, aber im 18. Jahrhundert fortgeführt wurde. Schon im einleitenden Abschnitt spielt Voltaire auf diese Debatte an und auch die Schriftsteller, die er erwähnt, waren Protagonisten der sogenannten Querelle des Anciens et des Modernes.
Dabei ging es um die Frage, ob die Kunst der Antike für alle Zeiten Vorbildfunktion haben sollte, oder ob in einer Zeit, wo unter Ludwig XIV. Wissenschaft und Technik in Frankreich bisher unerreichte Höhen erklommen hatten, auch die Gegenwartskunst Mittel und Wege finden sollte, um an den antiken Vorläufern vorbeizuziehen. Die Freunde der Antike versammelten sich um Nicolas Boileau-Despréaux, die der Moderne um Charles Perrault.
Nicolas Boileau-Despréaux (1636-1711) war ein Autor satirischer Komödien, von Elogen auf Ludwig XIV und theoretischer Schriften. Einflussreich wurde vor allem seine Art poétique, in der er die Aristotelischen Regeln für das Theater zum Maßstab aller neueren Werke erhob. Er war mit Molière, Racine und La Fontaine befreundet. Im Unterschied zu diesen ist er heute weitgehend in Vergessenheit geraten. 1684 wurde er in die Académie Française aufgenommen. Als er sich gegen Ende des 17. Jhdts. den Jansenisten zuwandte und die Jesuiten attackierte, fiel er in Ungnade.
Charles Perrault (1628 – 1703) wurde 1671 in die Académie aufgenommen und war dort der Anführer der Modernen. Mit seinem Versepos  Le Siècle de Louis le Grand (1687), das er in der Académie vortrug, eröffnete er den Angriff auf die Freunde des Altertums. Perrault ist heute vor allem durch seine Märchensammlung Les Contes de ma mère l’Oye (1697) [dt.: Märchen nach Perrault neu erzählt) bekannt, die in Deutschland auch die Brüder Grimm inspirierte.

Die Debatte um Antike und Moderne war nicht bloß eine Positionsbestimmung der Kunst, sondern auch der Politik. Die Modernen feierten den französischen Absolutismus als höchste Blüte der menschlichen Geschichte, während, wer die Antike lobte, den Absolutismus indirekt kritisierte, oder sich zumindest ein unangreifbares Rückzugsgebiet schuf. Der Humanismus, in der Renaissance entstanden, wo er die Antike gegen das mittelalterliche Christentum positionierte, sah sich jetzt mit einer neuen Geisteshaltung konfrontiert, deren Protagonisten den Fortschritt in den Mittelpunkt stellten und, der Zukunft zugewandt, mit den Alten nichts mehr anfangen konnten – oder wollten – und gewissermaßen den Humanismus selbst als überholt ansahen.

Die Debatte begann 1687 und spielte sich unter den Mitgliedern der Académie Française ab, die Louis XIV. installiert hatte, um eine ihm genehme Kulturpolitik finanziell mindestens ebenso gut auszustatten, wie es die theologischen Fakultäten waren.

Auch im 18. Jahrhundert wurde über diese Frage noch erbittert gestritten. Die Positionen der Aufklärer waren dabei nicht eindeutig pro oder contra Antike/Moderne. Was die Philosophie angeht, positionierte sich zumindest Voltaire ganz klar: „Locke allein wäre ein hervorragendes Beispiel für den Vorzug, den unser Zeitalter vor den schönsten Tagen Griechenlands voraus hat“ (Zeitalter Ludwig XIV, Bd II, S. 93). Eine eher vermittelnde Position vertrat er in der Kunst.

Die Fortschrittslehre konnte sich generell auf dem Gebiet der Kunst nicht wirklich durchsetzen, im Gegenteil schien es so (z.B. Diderot in seinem Artikel Encyclopedie), als ob die Kunst gerade durch die enormen Fortschritte in der Wissenschaft und Technik unter Druck geraten sei und hier eine Besinnung auf die Antike heilsam sein könnte, um von dort neu aufzusetzen. Die Antike behielt ihre Vorbildfunktion gegenüber der Moderne.
Auch, was die Gesellschaft, das Zusammenleben der Menschen betraf, galt das demokratische Athen für viele noch immer als Prüfstein für die Modelle der neuen Zeit. Und tatsächlich entfaltete sich während der französischen Revolution ein regelrechter Antikenkult. Im Namen der antiken Ideen von Republik, Demokratie und Religionsfreiheit wurde die absolute Monarchie und ihre Einheitsreligion, Idole der Moderne, weggefegt.

Werner Krauss, Professor für Romanistik in der DDR und Spezialist für die Aufklärung, veröffentlichte 1966 ein Buch mit dem Titel Antike und Moderne, in dem er die Diskussion zusammenfasst und mit einer Vielzahl von Texten in Originalsprache illustriert. Er griff damit auch in eine ganz ähnliche, in der DDR geführte Diskussion ein: In der sozialistischen Republik war es die deutsche klassische Literatur, die von den dortigen Eliten, ganz ähnlich wie im 18. Jahrhundert die Antike, zum Maßstab für gute Literatur erklärt wurde. Berthold Brecht, aber auch Peter Hacks stellten sich dem entgegen und forderten, dass eine dem Sozialismus angemessene Kunst zu entwickeln sei. Brecht schuf dafür sein episches Theater und er bezweifelte, dass die Klassik Goethes dazu geeignet sei, das Bewusstsein der Menschen im Sozialismus weiterzuentwickeln.
Speziell auf die Annahme, dass die Katharsis des antiken Theaters für die Menschen im Sozialismus ein adäquates Mittel sei, um gesellschaftliche Widersprüche zu begreifen (aufzuheben – Georg Lukacs), reagierte Brecht ablehnend. Für ihn stand fest, dass Widersprüche nicht geglättet werden dürfen, wenn es – dialektisch – zu einer produktiven Lösung kommen soll.

Vor dem Hintergrund dieser Diskussion arbeitete Krauss in seinem bedeutenden Artikel Der Streit der Altertumsfreunde mit den Anhängern der Moderne und die Entstehung des geschichtlichen Weltbildes heraus, welch gravierenden Folgen die Querelle für das Begreifen der Geschichte hatte:

  • Nicht mehr ein einzelner König, Krieger, Held ist das Subjekt des Weltgeschehens, sondern die Nation und das Volk.
  • Die Theologie verliert ihre Deutungshoheit über die Geschichte. Die Ursache für geschichtliche Veränderungen ist nicht mehr der unerfindliche Wille Gottes. Gesellschaftliche Gründe werden für das Weltgeschehen „entdeckt“: Menschen verantworten ihre Geschichte selbst.
  • Nicht die kriegerischen, sondern die kulturellen Leistung stehen im Mittelpunkt des historischen Interesses.  Voltaire arbeitete dies in seiner Geschichte Karls XII klar heraus. Karl XII. große, aufopfernden militärischen Taten findet er zwar erstaunlich, aber nicht bewundernswert: „…doch steigerte er alle seine heldischen Tugenden bis zu einem Übermaß, wo sie ebenso gefährlich sind, wie die entgegengesetzten Laster…Seine großen Eigenschaften, von denen eine allein einen anderen Fürsten hätte unsterblich machen können, haben Schwedens Unglück bewirkt… Sein Leben sollte Könige lehren, wie hoch eine friedliche, glückliche Regierung über noch so viel Ruhm steht“. (Althaus, 1965, S.294/5)
  • Das zyklische Geschichtsbild, nachdem eine Epoche – ähnlich wie das Menschenleben –entsteht, zu Kraft kommt, um dann aber unterzugehen, wird abgelöst durch ein Geschichtsbild des kontinuierlichen Fortschritts. Auch die kleinsten Errungenschaften bringen die Menschheit voran, indem sie den Berg von Kenntnissen erhöhen. Auf dessen Gipfel reicht der Blick dann weiter als zuvor, sei es auch nur um ein weniges.
  • Die Quellenkritik tritt an die Stelle von suggestiven, meist klerikalen Darstellungen der Geschichte. Sie rückt auch etliche Vorstellungen vom antiken Leben und Denken zurecht. Objektive Tatsachen, die Beschreibung plausibler Abläufe, ersetzten in der Geschichtsschreibung die Darstellung der Geschichte als einer göttlichen Heilsordnung.

C. Quellen
– Werner Krauss, Antike und Moderne in der Literaturdiskussion des 18 Jahrhunderts, Berlin: Akademie, 1966, 383 S. Das Werk wird durch die beiden Grundlagentexte von Krauss und Kortum eingeleitet, es folgen in französischer Sprache eine Auswahl von Grundlagentexten zu der Debatte.
– Voltaire, Le siècle de Louis XIV [dt. Das Zeitalter Ludwigs XIV. Deutsch von Robert Habs, Leipzig: Philipp Reclam jun., 1887, 2 Bd. , oder xenonmoi: Berlin, 2015

D. Literaturhinweise
– Artikel Querelle des Anciens et des Modernes in Wikipedia
– zu Werner Krauss: Artikel in Wikipedia

Die folgenden Anmerkungen zu einzelnen Textstellen beziehen sich mit ihren Seitenangaben auf die von uns bei Reclam herausgegebene Ausgabe des Philosophischen Taschenwörterbuchs (2020):

Anmerkung 1 (S.177, 1. Absatz): Als „scoliaste“ bezeichnete man im 18. Jhdt. Kommentatoren von klassischen Texten der Antike.

Anmerkung 2 (S. 177, 2. Absatz: „las einmal mit mir zusammen Tasso“):
Torquato Tassos (1544-1595) Epos Das befreite Jerusalem, sein Hauptwerk, ist ein Loblied auf das heldenhafte Christentum, wie es sich gegenüber dem Islam behauptet, allerdings mit phantasievollen Einfällen angereichert. Der Modernist Quinault benutzte es als Vorlage für sein Libretto der Lully-Oper Armide (tragédie en musique). Der Anführer der Antiken, Boileau, kritisiert in seinen Satiren (Stanzen IX) den Quinaults Rückgriff auf Tasso („der falsche Glanz, das Flitterwerk“), dem Vergil („das Gold“), der von 70 – 19 v.u.Z lebte, deutlich vorzuziehen sei.
Voltaire las Tasso in der Originalsprache mit seiner Lebensgefährtin Emilie du Châtelet. In seinem Werk Essai sur la poésie épique (1728) widmet er Tasso ein ganzes Kapitel. Er stellt Tasso Homer gleich und hebt seine immense Bedeutung für die Literatur hervor.

Anmerkung 3 (S.178 1. Absatz: „was Euer Boileau Flitterglanz nennt“?): In seinem Zeitalter Ludwig XIV. schreibt Voltaire über Boileau: „Er versuchte sich als Anwalt und dann an der Sorbonne. Als er von diesen beiden Schikanen angewidert war, gab er sich nur seinem Talent hin und wurde zur Ehre Frankreichs“.

Anmerkung 4 (S.178, 2. Absatz: „die Opern von Quinault“): Philippe Quinault (1635 -1688)
Dramatiker, bekanntgeworden als Librettist der Opera Lyrique an der Seite Lullys. Seine Stücke waren ein bevorzugtes Opfer der Kritik Boileaus, während Charles Perrault seinen Freund vehement verteidigte und in ihm den bedeutendsten Dramatiker seiner Zeit sah.
Voltaire : …berühmt durch seine schönen lyrischen Gedichte, mit denen er die höchst unbilligen Satiren Boileaus ertrug » (Habs, II 373). Voltaire schätze ihn als Librettist Lullys höher ein als dessen Musik (372). Vor allem Liebesszenen habe er sehr gekonnt in Verse gesetzt.
Quinaults an Torquato Tassos Jérusaleme angelehnte Tragödie Armide kann als Höhepunkt seines Schaffens angesehen werden. S.a.: https://www.youtube.com/watch?v=8-TyPNWh64E

Anmerkung 5 (S.179, 1. Absatz: „bald Boursault, Hénault und dann wieder Quinault verunglimpfte“): Edme Boursault (1638-1701) griff Molière wegen dessen École des femmes an, weil die Frauen darin nicht dem christlichen Rollenbild entsprechen Molière verteidigte sich mit seinem Einakter Impromptu de Versailles. Als Boursault in seiner Komödie La satire des satires (pdf) Boileau erneut angriff, erwirkte dieser, dass das Stück gerichtlich verboten wurde.
Charles-Jean-François Hénault (1686-1770), auch Président Hénault genannt, weil er am Pariser Gerichtshof den Vorsitz über eine der Kammern innehatte. Schriftsteller u. Historiker, mit Voltaire befreundet, der vor allem dessen Chronologische Geschichte Frankreichs schätzte.

Anmerkung 6 (S. 179, 2. Absatz: „diese schöne Fassade des Louvre durch die sich Perrault unsterblich gemacht hat“): Claude Perrault (1613-1688), der Bruder von Charles (s.o.), war Mediziner und Architekt. Er entwarf die Fassade des Louvre. Die Anhänger der Anciens griffen ihn an, wohl weil er in seinem Bruder den Anführer der Modernisten hatte.

Anmerkung 7 (S.179, 3. Absatz: Sully/Orsat/Villeroi/Louvois/Colbert):
Der Duc de Sully (1559 -1641) war ein Vertrauter Heinrich IV und dessen Finanzminister.
Sullys Antipathie gegen die beiden genannten Orsat (1536 – 1604), Kardinal, Vermittler zwischen Kirche und frz. Regierung; und Villeroi (1542-1617), Außenminister unter vier verschiedenen Königen, brachte er in seinen Memoiren an vielen Stellen zum Ausdruck. Sie waren durch persönliche Animositäten beim Kampf um Einfluss bedingt, wie sie am Hofe nicht ausbleiben konnten.
Louvois (1641-1691), Kriegsminister unter Ludwig XIV und Erfinder der Dragonnaden. Mit dem großen Colbert (1619-1683), wie ihn Voltaire betitelt, Finanzminister unter Ludwig XIV., lag er wegen der Finanzierung seiner Kriege naturgemäß ständig im Streit.

Anmerkung 8 (S.179, 4. Absatz: La Motte: „ein verdienstvoller Mann,…, der Stanzen schrieb“): Antoine La Motte Houdard (1672-1731), war Dramaturg und Kritiker. Sein Hauptwerk ist die Tragödie Ines de Castro. 1714 verarbeitete La Motte einen größeren Ausschnitt aus einer kurz zuvor erschienenen Prosaübertragung der Ilias zu einer Version in Versen, womit er den Nachweis zu führen versuchte, dass dieser antike Autor in seiner Zeit zwar anerkennenswert gewesen sei, mit den modernen Autoren aber nicht mehr mithalten könne. Außerdem fand er, dass die Prosaversion der in Versen vorzuziehen sei. Als er hierauf von der Homerübersetzerin, Anne Dacire, einer Verehrerin der Antike, angegriffen wurde, antwortete La Motte mit der Schrift Réflexions sur la critique und löste damit eine Fortsetzung der Querelle des Anciens et des Modernes von 1687 aus.

Der ewige Frieden: Eine Debatte im 18. Jahrhundert – ihre Illusionen, ihre Aktualität

Von Rainer Neuhaus, Voltaire-Stiftung

Nach dem Ende der Sowjetunion hofften viele, dass jetzt die Zeit des ewigen Friedens gekommen sei. Einige wenige vermuteten, dass wahrscheinlich das Gegenteil eintreten werde und meinten, dass mit dem Untergang des friedenssichernden Gleichgewichts des Schreckens im Kalten Krieg die Menschheit vor dem Schrecken einer unbegrenzten Machtentfaltung der siegreichen Partei stehe, die alle ihr noch im Wege stehenden Grenzen niederreißen könnte. Es scheint, dass diese Wenigen die spätere Entwicklung besser vorhergesehen haben.
Waren also alle Überlegungen, die man in der Vergangenheit, vor allem aber im Zeitalter der Aufklärung, über das Ausbrechen und zur Verhinderung von Kriegen angestellt hat, nichts als Illusionen? Gleichen Kriege etwa Epidemien, deren Ende man abzuwarten hat, weil es Heilmittel für sie nicht gibt?
Oder lassen sie sich eben doch vermeiden, wenn man von den Gründen für diese Geißel der Menschheit weiß?

Sehen wir, ob sich aus der Diskussion über Krieg und Frieden, die vor über 500 Jahren in der Renaissance mit Erasmus von Rotterdam begann und bis heute andauert, dafür Hinweise, gar Erkenntnisse gewinnen lassen:
Welche Ursachen haben unsere Vordenker für das Entstehen von Kriegen identifiziert (1) und welche Mittel, welche Maßnahmen empfehlen sie, um dieser Geißel der Menschheit beizukommen und vielleicht sogar um einen ewigen Frieden herzustellen? (2)

1. Von den Ursachen der Kriege

Wer Aufklärung und Wissenschaft gering schätzt,  hält Kriege für unabänderlich, weshalb es sinnlos sei, Ursachen zu suchen; allenfalls ließe sich ihr Verlauf beschreiben. In solchen Sichtweisen entspringen Kriege entweder Gottes unerfindlichem Willen, oder, was auf das gleiche hinausläuft, sie gehören unabänderlich zur Natur des Menschengeschlechts. So wie Regen und  Sonnenschein sich naturgemäß abwechseln, folge auf Frieden Krieg und auf Krieg, was man Frieden nennt.

In der Renaissance gab man sich mit diesen religiösen Deutungsmustern nicht mehr zufrieden. Zu auffällig war, dass Kriege von Machthabern angezettelt wurden, die das Niedermetzeln und die Verarmung ihres eigenen und erst recht des besiegten Volkes in Kauf nahmen und darüber hinaus den Krieg auch noch mit einem Kult des ritterlichen Helden ideologisch verbrämten. Erstmals wurde der Krieg in allen seinen grausamen Einzelheiten literarisch vorgeführt (Rabelais, Gargantua et Pantagruel, 1532), der Ritterkult lächerlich gemacht und in der bildenden Kunst angeprangert (Jaques Callot, Les Misères et les  Malheurs de la guerre 1633 ). Es waren weltliche Ursachen und weltliche Täter mit sehr egoistischen Machtinteressen, die verhinderten, dass in der Welt Frieden einkehrt.
Für Erasmus von Rotterdam (1466–1536) war der Frieden das höchste gesellschaftliche und menschliche Gut (Querela Pacis, Die Klage des Friedens, 1517). In seiner Schrift Dulce Bellum Inexpertis von 1515  verurteilt er die Propaganda der Herrscher, die den Krieg als ehrenhaft und notwendig darstellen („Der Krieg ist süß für die, die ihn nie erfahren haben“) und betont die menschlichen und moralischen Kosten, die durch Kriege entstehen.
Mit Hobbes (1588-1679) kam es zu einer von religiösen Deutungsmustern vollkommen befreiten Sicht der Dinge, wobei er von der These ausgeht, dass im Naturzustand (also wenn Menschen ohne staatliche Organisation zusammenleben) Kriege der Normalfall sind. Unter dem Eindruck der Bürgerkriege in England sieht er in einer schwächelnden Zentralgewalt und in deren mangelnden Legitimität die Ursache für das Ausbrechen von Bürgerkriegen, folglich plädiert er für einen starken Staat mit autokratischer Machtausübung.

Die englischen Quäker, insbesondere William Penn (1644-1718), verurteilten Kriege zwischen Staaten deutlich und glaubten an die Möglichkeit, dauerhaften Frieden herzustellen. Kriege sind äußerst schädlich für die bürgerliche Ordnung, weil dabei Eigentumswerte vernichtet werden und jegliche Moral zugrunde geht. Erst wenn der Frieden gesichert ist, kann die bürgerliche Gesellschaft gedeihen. Weniger an Hobbes, sondern an die Position der Renaissance schlossen die Philosophen der Aufklärung an: würden die Machthaber vernünftigen Grundsätzen folgen, käme es nicht zu Kriegen. Krieg sind der klare Ausdruck dafür, dass es nicht gelungen ist, das menschliche Zusammenleben nach vernünftigen Grundsätzen zu regeln.

Dass in der Vergangenheit immer wieder Kriege ausbrachen, so sah es der heute fast vergessene Abbé de Saint-Pierre (1658 – 1743), lag daran, dass Frieden sichernde  Modelle nicht ausgearbeitet waren und dass andererseits der Macht der Herrscher keine Schranken gesetzt wurden.
„Man greift zu den Waffen, um sich Macht, Reichtümer oder Ansehen zu erringen“ sagt auch Rousseau (Fragment über den Krieg). Er ist außerdem davon überzeugt, dass die bloße Existenz von stehenden Heeren eine wichtige Ursache von Kriegen ist, da sie zwangsläufig zum Kriegführen verleiten.
Darüber hinaus – und diese Position ist ebenfalls eng mit Rousseau verbunden, birgt gerade ein System mit starker Zentralgewalt, wie es Hobbes vorschlägt, die Gefahr, dass es zu großer Ungleichheit im Inneren einer (staatlich konstituierten) Gesellschaft kommt, was der herrschenden Schicht viele Mittel in die Hand gibt, um mit Kriegen ihren Machtbereich zu erweitern: „Wer nichts hat, begehrt wenig, … wer viel hat, will alles haben; und der Wahnwitz einer Weltherrschaft hat stets nur die Herzen großer Könige heimgesucht“ (S. 62).
Außerdem kritisiert Rousseau die Gewaltbereitschaft der einzelnen Menschen – er hält sie, anders als Hobbes, nicht für naturgegeben, sondern für eine Folge gesellschaftlicher Missstände – sieht sie als Grund dafür an, dass es immer wieder zu Konflikten kommt, die man durch Gewalt für sich entscheiden will und dafür, dass man so viele Menschen für die Kriege in großem Maßstab begeistern kann.

Voltaire, in dem Artikel Guerre – Krieg des Philosophischen Wörterbuchs, beschreibt eindrücklich die schrecklichen Folgen von Kriegen. Die Ursachen sieht er in der Gewaltbereitschaft und Willkür der Herrscher, gepaart mit seiner Verherrlichung (Heldenkult) und  ideologischen Rechtfertigung durch die christliche Kirche.

Im Wesentlichen sind es also vier Ursachen, die in der Debatte bis zum Ende des 18. Jahrhunderts für das Ausbrechen von Kriegen genannt wurden:

  • Die übergroße Machtfülle an der Spitze der Gesellschaft
  • Unverantwortliches, nicht am Allgemeinen Wohl interessiertes Verhalten der Herrscher
  • Die Gewaltbereitschaft der einzelnen Menschen
  • Die ideologische Verherrlichung des Kriegführens

2. Die Heilmittel gegen das Kriegführen

Wenn Kriege, wie es die Kirche predigt, ähnlich den Krankheiten, von Gott geschickte Strafen für die sündhafte Menschheit sind, braucht man über Heilmittel nicht nachzudenken. Frieden und Erlösung treten eher mit dem Tod ein, als dass sie zu Lebzeiten auch nur ein erstrebenswertes Ziel wären. Viel mehr als mit dem Frieden beschäftigten sich die Heiligen der Kirche daher mit der Frage, wie man Kriege rechtfertigen könnte. So betrieb Augustinus (in Civitas Dei) einige Hirnakrobatik, um zu beweisen, dass es einen „gerechten Krieg“ gebe. An keiner Stelle seiner Schriften findet man eine prinzipielle Ablehnung des Krieges, oder auch nur eine klar formulierte Abscheu vor den sich dabei ereignenden Greueln. Er fragt, „was denn am Krieg so schädlich und verderblich sei“. Und findet: „Die Antwort ergibt sich leicht: offenbar die Gegnerschaft und der Widerstreit der Dinge untereinander“ (19. Buch 28, Übers. Ottmar Strüber). An einer anderen Stelle (Contra Faustum) bringt er seine Haltung so auf den Punkt: „Was ist denn so falsch am Krieg? Dass Menschen sterben, die ohnehin irgendwann sterben werden, damit jene, die überleben, Frieden finden? Ein Feigling mag darüber jammern, aber gläubige Menschen nicht.“
Diese Position ist eine Haltung zum Krieg und nicht zum Frieden.
Alles andere wäre auch erstaunlich, wurden doch zahlreiche Kriege von der Kirche mit Eifer angeheizt oder darüber hinaus, wie die Kreuzzüge, selbst organisiert. Auch an die Rechtfertigung der Gemetzel und Versklavung der kolonisierten Gebiete sei erinnert, in denen die christliche Kirchen den Ungläubigen weder das Recht auf ein Leben in Frieden, noch überhaupt das Recht zu leben zugestanden. Solche „Vorläufer“ der Friedensphilosophen waren keine; sie waren die Krankheit selbst, zu deren Heilung die Mittel erst noch gefunden werden mussten.

Erst in der Zeit der Renaissance und des Humanismus kritisierte man den Krieg und machte sich Gedanken über die Heilmittel, mit denen das Ausbrechen dieser Krankheit zu verhindern sei. Erasmus von Rotterdam entwarf ein Regelwerk, das den Frieden sichern sollte. Er fordert die Unverletzlichkeit der Grenzen, dass Machthaber nicht das Recht besitzen sollten, Teile des Territoriums nach außerhalb zu verkaufen, da es sich nicht um ihr Privateigentum handelt und zur Verhinderung von Kriegen empfiehlt er, einen Ältestenrat einzurichten, dessen Anweisungen der Herrscher zu folgen habe. Mit diesem Regelwerk sollten zwischenstaatliche Konflikte friedlich statt durch Gewalt gelöst werden können, indem der unumschränkten Macht der Herrscher, wenn auch zunächst nur moralisch,  Schranken gesetzt werden.

Thomas Hobbes sah im Krieg einen Zustand, der zwischen den Menschen im Naturzustand normalerweise  herrscht. Weil in diesem das Recht aller auf alles besteht, kann kein Frieden herrschen. Erst das Zusammenleben in einem geordneten Staatswesen entzieht dem Einzelnen das Recht, jederzeit zu Gewaltmitteln zu greifen, wenn dem Herrscher allein das Gewaltmonopol übertragen wird, ist den Staatsbürgern dauerhafter Frieden garantiert:
„Dadurch, dass die Menschen sich freiwillig vereinigen, und übereinkommen, dem Einen oder der Gesellschaft gemeinschaftlich zu gehorchen, welchem oder welcher die Stimmenmehrheit das Recht überträgt, ihr allgemeiner Stellvertreter zu sein, wird ein Staat errichtet. Jeder von ihnen wird dadurch verpflichtet, er mag demselben seine Stimme gegeben haben oder aber nicht, dem zu gehorchen, den die größere Anzahl gewählt hat; und er muss von der Zeit an die Handlungen desselben als seine eigenen ansehen.“ (Erster Absatz Kap 18.: Von den Rechten der Besitzer der höchsten Gewalt in einem errichteten Staat).
Für Hobbes ist Krieg, darin den christlichen Theologen ähnlich, das Normale, Frieden dagegen eine zivilisatorische Errungenschaft, die mit der Unterordnung unter einen , aus welchen Gründen auch immer akzeptierten weltlichen Herrscher einhergeht. Hobbes überträgt die christliche Friedensidee aus der religiösen Sphäre der Unterordnung unter einen Gott auf die weltliche, in der es der Herrscher ist, dem man Gehorsam schuldet – und dafür Frieden bekommt. Wie Kriege zwischen Staaten verhindert werden könnten, überlegt er sich nicht; den naheliegenden Gedanken, auch hier eine übergeordnete friedensstiftende Instanz, eine Art Weltbeherrscher zu schaffen, der sich alle Einzelstaaten unterwirft, verfolgt Hobbes nicht.

William Penn schlägt in seinem  An Essay Towards the Present and Future Peace of Europe (1693) [dt.: Friedensplan für Europa, übers. von Margarete Rothbarth, 1920, 40 S.] vor, ein überstaatliches europäisches Parlament als Mittel zur Friedenssicherung zu gründen. Es soll sich mit der Konfliktlösung und mit friedenssichernden Maßnahmen befassen. Er hoffte, dass schon  regelmäßige Treffen zwischen den Staaten Vertrauen aufbauen und dazu beitragen würden, den Frieden zu sichern.

Penns Vorschlag war seiner Zeit weit voraus, er kann als früher Vorläufer moderner internationaler Organisationen wie der Vereinten Nationen betrachtet werden. Voltaire sagte von ihm (Philosophische Briefe, Kap. 4): „William Penn konnte sich rühmen, das viel besungene Goldene Zeitalter auf Erden gebracht zu haben – es hat wohl nur in Pennsylvania existiert“. Da man im 18. Jahrhundert die Ursachen für Krieg einerseits im unvernünftigen, oft selbstsüchtigen Verhalten der Herrscher sah, forderte man von ihnen zum Wohle der Menschheit Frieden im Namen der Vernunft und des Naturrechts. Der unermüdliche Abbé de Saint-Pierre sah vor allem in den Kriegen ein Haupthindernis für die Entfaltung des Fortschritts in Wissenschaft und Gesellschaft. Er unterbreitete (1712, also drei Jahre vor dem Tod Ludwig XIV.) den Herrschern seiner Zeit ganz konkrete Vorschläge zur Friedenssicherung. Ein Bund einzelner, unabhängiger Nationen und ein internationales Schiedssystem sollten Kriege ein für alle mal verhindern, dauerhaften Frieden garantieren und die Grundvoraussetzung für das Gedeihen der Vernunft zum Wohle Aller schaffen.
Rousseau schloss sich den Vorschlägen des Abbé de Saint-Pierre an, darüber hinausgehend forderte er eine republikanische Verfassung, um die empörende Ungleichheit im Inneren zu beseitigen, dann würden Kriege zur Bereicherung einzelner Potentaten nicht mehr stattfinden. Um die im Laufe der „Zivilisation“ entstandene Gewaltbereitschaft der einzelnen Menschen zu verringern, schlägt er außerdem die Einrichtung eines humanen Erziehungswesens vor, was in der ganzen Gesellschaft zu mehr Toleranz führe.

Voltaire war, was die mögliche Umsetzung der Vorschläge Saint-Pierres und Rousseaus angeht, skeptisch. Angesichts der im 18. Jahrhundert üblichen Bündnispolitik, mit der die kleineren Staaten über Beistandsverträge der dominierenden Militärmacht entgegentraten und der von England praktizierten „Balance of Power“, mit der es erreichte, dass ihm auf dem Kontinent nie ein einzelner übermächtiger Gegner entstehen konnte, hielt er die Chance einer übernationalen friedensstiftenden Institution, wie sie Saint-Pierre und Rousseau vorschlugen, für eine Träumerei, über die er sich in seinem 1761 erschienenen Rescrit de l’Empereur de la Chine [Erlass des Kaiser von China] mit beißender Ironie lustig machte. Seine eigene Position zur Frage, wie man Kriege vermeiden könnte, erläuterte er in dem Essay Vom ewigen Frieden (De la Paix perpétuelle, par le docteur Goodheart 1769). Dort beschreibt er den verheerenden Einfluss des Christentums, insbesondere dessen andauernde Gewaltbereitschaft und Aufstachelung zu Kriegen in der Geschichte, die allein durch die Fortschritte von Wissenschaft und Aufklärung zurückgedrängt worden sei und noch weiter eingeschränkt werden müsse. Voltaire sieht die Chance zum friedlichen Miteinander der Menschen erst dann gekommen, wenn man in der Gesellschaft dem Prinzip religiöser Toleranz Geltung verschafft und damit die Voraussetzung für eine allumfassende Entfaltung der Vernunft herstellt. Um aber dieses Ziel zu erreichen, muss man unbedingt die Macht der christlichen Kirchen brechen.
Seine Schrift ist das einzige Werk, die Voraussetzung für den Erfolg friedenssichernder Maßnahmen darin sieht, den ideologischen und weltlichen Einfluss der Hauptsprachrohre der Mächtigen, zu seiner Zeit die christlichen Kirchen, einzuschränken und zu überwinden.

Immanuel Kant nun, dessen Schrift Zum ewigen Frieden, obwohl erst 1795 erschienen, noch ganz zum 18. Jahrhundert gehört, fasste die Debatte zusammen, jedoch in einer Sprache, die eher an einen Juristen als an einen Schriftsteller der Aufklärung erinnert. Am lustigsten ist der Anfang, wo er den Ewigen Frieden mit einem Friedhof in Beziehung setzt, der auf dem Firmenschild eines gleichnamigen holländischen Wirtshauses abgebildet war. Es folgen Präliminarartikel, Definitivartikel und ein Anhang zum Thema Moral und Politik. Kant geht wie Hobbes von der „Bösartigkeit der menschlichen Natur“ aus, folgt aber Rousseau, was die republikanische Verfassung als Bedingung eines dauerhaften Friedens angeht. Er entwickelt sehr pragmatisch und weniger hoffnungsvoll als die meisten französischen Aufklärer ein friedenssicherndes System, das dem des Abbé de Saint Pierre sehr nahe steht: ein Bündnis souveräner Staaten soll sich in einem Völkerbund vereinen, den er als eine Art Überstaat konzipiert, der aber nicht über eigene Zwangsmittel verfügt. Wie Bentham ist auch Kant überzeugt, dass die Ausweitung der zwischenstaatlichen Handelsbeziehungen allen beteiligten Völkern den Frieden aus Eigennutz nahelegt: „Es ist der Handelsgeist, der mit dem Kriege zusammen nicht bestehen kann und der früher oder später sich jedes Volkes bemächtigt (226)“.

3. Schlussfolgerungen

Frieden wäre dauerhaft, wenn die Vernunft regieren würde….
Welche Umstände sind es aber, die verhindern, dass sie regiert?


1. Massive Ungleichheit in einem Staat führt zur Herausbildung von Machtstrukturen, die kriegerische Auseinandersetzungen begünstigen. Die Aristokraten verfügen über Mittel, die es ihnen erlauben, nach eigenem Willen Kriege zu führen, ohne das allgemeine Wohl zu berücksichtigen. Einer dauerhafte Friedensordnung kann nur das Ergebnis einer gerechten politischen Ordnung sein.

2. Eine ähnliche Auswirkung hat es, wenn die Macht der herrschenden Monarchen nicht rechtlich – wie in England – durch eine konstitutionelle republikanische Verfassung beschränkt wird. Auch hier führt die unbeschränkte Macht zu willkürlich angezettelten Kriegen. Eine dauerhafte Friedensordnung kann nur das Ergebnis einer Verfassung sein, in der die Gesetze auch für den Herrscher gelten.

3. Das Christentum als intolerante Religion war von Anfang an der Gegenpart aller Vernunft. Es ist unmöglich, das Zusammenleben in  Gesellschaft auf vernünftige Weise zu regeln, wenn Intoleranz herrscht, wenn keine geistige Freiheit existiert. Spannungen und kriegerische Konflikte sind dann unvermeidbar. Toleranz ist die Voraussetzung für ein friedliches Miteinander von Menschen und Staaten, denn sie ist das Lebenselixir der Vernunft.

4. Es fehlen übernationale Institutionen,  um Interessensgegensätze auf diplomatischem Wege auszugleichen. Penn, Saint-Pierre und Rousseau, Kant u.v.a. unterbreiteten konkrete Vorschläge zu ihrer Ausgestaltung und überlegten, mit welchen Zwangsmitteln sie ausgestattet sein müssten, um Wirkung zu erzielen.
 
5. Handelsbeziehungen, überhaupt Kontakte zwischen den einzelnen Staaten und ihrer Bürger reduzieren die Gefahr, dass es zu Kriegen kommt, denn sie schaffen Abhängigkeiten und tragen zu einer Rationalisierung der Beziehungen zwischen den Staaten, aber auch unter den Menschen, bei.

Am Vorabend der französischen Revolution hofften viele, dass nach Beseitigung der religiösen Bevormundung, der geistigen Fesseln, eine neue Zeit anbreche, in der die Vernunft regiert um, wie es Bentham formulierte, das größte Glück für die größte mögliche Zahl zu erreichen. Die Vernunft, allen Menschen verfügbar, würde einen beispiellosen Aufschwung von Wissenschaft und Kultur anstoßen und der ewige Frieden in greifbare Nähe rücken. Viele Modelle und Vorschläge wurden erarbeitet, wie zwischenstaatliche Konflikte friedlich geregelt werden könnten und den Herrschern im Absolutismus unterbreitet.
Einzig Voltaire war skeptisch und vertrat die Position, dass ohne das Reich der Vernunft auch der ewige Friede eine Illusion bleibt. Er hatte bereits bei seinem ersten Aufenthalt in Berlin erfahren, wie schnell sich die vermeintlich aufgeklärte Haltung eines Potentaten in einen fast ewigen Krieg verwandeln konnte.
Rousseau kommt das Verdienst zu, den Geltungsbereich der Vernunft auf das ganze Volk ausgedehnt zu haben. Erst wenn die Mehrzahl der Menschen nicht wie Arbeitssklaven, sondern als republikanisch gleichberechtigte, denkende Staatsbürger mitregieren, besteht die Chance, dass dem kriegerischen Treiben ein Ende gesetzt wird. Und selbstverständlich war es die Französische Revolution, die, indem sie die Adelsherrschaft beendete, die Hoffnung nährte, dass jetzt die Zeit der Vernunft und des ewigen Friedens anbrechen würde.

Dass es anders kam, lag an der erneuten Ungleichheit, auch sie, wie zuvor, ideologisch von den christlichen Kirchen gerechtfertigt. Es kam zum Kolonialismus, zur industriellen Revolution, zu enormem Reichtum auf der einen, bedrückender Armut auf der anderen Seite und, fast natürlich, zu den verheerenden Kriegen des 19. und 20. Jahrhunderts.

Der Versuch, mit dem Sozialismus die Ungleichheit zu beseitigen, gelang zwar weitgehend, war jedoch gegen alle Erwartung nicht mit individueller Freiheit verbunden. Heute, 35 Jahre nach dem Untergang der Sowjetunion, steht die Welt erneut vor einer Situation extremer Ungleichheit, die sich noch weiter zuzuspitzen droht. Nur die ideologische Rechtfertigungsmaschinerie hat sich verändert: an die Stelle der christlichen Kirchen sind die gedankenlenkenden Massenmedien mit ihren modernen Psychotechniken  getreten.

Wenn die Aussagen aus dem 18. Jahrhundert zutreffen – sie haben sich in den beiden Jahrhunderten, die zwischen uns und der Aufklärung liegen, ausreichend bestätigt, wird es zukünftig vermehrt zu Kriegen und Willkürherrschaft kommen, wenn, ja wenn es nicht – wie durch ein Wunder – doch noch gelingen sollte, unsere Welt so einzurichten, dass in ihr die Vernunft regiert.

4. Die einzelnen Werke

Wir stellen im Folgenden die wichtigsten Werke vor, die sich im 18. Jahrhundert mit der Frage beschäftigen, wie ein dauerhafter Friede zu erreichen sei. Nicht alle Inhaltsangaben entspringen eigener Lektüre, wir verweisen auf die Quellenangaben am Ende dieses Artikels.

1. William Penn, Toward the present and future peace of Europe by the establishment of a European Diet, parliament or estates (1693).

 [dt.: Friedensplan für Europa, übers. von Margarete Rothbarth, 1920, 40 S.]

William Penn (1644-1718), der Anführer der Quäker und Gründer des nach ihm benannten Pennsylvanias. Penn sah, dass ein dauerhafter Frieden zum Schutz des Eigentums notwendig ist, weil sich das Eigentum nur im Frieden entwickeln und gedeihen kann. Daher müssen alle Bürger interessiert sein, die Herrschafter dazu zu bewegen, ihre Regierung friedlich auszuüben Sein Konzept sieht vor, den Frieden durch ein zwischenstaatliches Parlament zu sichern, wobei im Parlament der Reichere mehr Stimmen haben sollte als der ärmere Potentat.


2. Saint-Pierre, Charles Irénée Castel de, Projet pour rendre la paix perpétuelle en Europe (1712 und 1717)

[dt.: Der Traktat vom ewigen Frieden 1713. Hg. und mit einer Einleitung versehen von Wolfgang Michael. Übers. v. F. Oppeln-Bronikowski, Berlin: Hobbing, 1922]

Der französische Gesellschaftswissenschaftler und Frühaufklärer Charles-Irénée Castel, Abbé de Saint-Pierre (1658–1743), erreichte mit seinem Vorschlag für eine europäische Friedensordnung, eine ungemein große Beachtung. Es geht ihm um einen internationalen Zusammenschlusses der Staaten Europas, damit Konflikte verhindert und diplomatische Lösungen für Streitigkeiten erarbeitet werden können. Der Völkerbund verfügt über Schiedsgerichte, die Konflikte friedlich lösen. Wenn ein Mitgliedsstaat gegen die Entscheidungen des Bundes verstößt oder Gewalt anwendet, sind die anderen Staaten berechtigt, gemeinsam gegen diesen Aggressor vorzugehen. Dabei besteht die Souveränität der einzelner Staaten weiterhin, ist jedoch zugunsten des Friedens einschränkt. Diese Idee beruht auf dem Grundsatz der kollektiven Sicherheit: Ein Angriff auf einen Mitgliedsstaat wird als Angriff auf alle betrachtet, und alle anderen Staaten müssen gemeinsam den Angreifer zur Ordnung rufen.

Regelmäßige Konferenzen zwischen den Staatsoberhäuptern und Diplomaten der beteiligten Länder helfen, Konflikte rechtzeitig zu entschärfen und gemeinsame Lösungen zu finden. Abbé de Saint-Pierre argumentiert, dass es sowohl moralisch als auch praktisch sinnvoll ist, Frieden zu wahren. Er sieht den Krieg nicht nur als unmoralisch, sondern auch als irrational an, da er enorme Kosten verursacht und letztlich alle Beteiligten schwächt.
Wichtig ist eine Reduzierung der Militärausgaben, denn die enormen Kosten für Armeen und Kriege behindern die gesellschaftliche Entwicklung. Statt Ressourcen in Militärapparate zu investieren, sollten die Staaten diese Gelder in die Verbesserung der Lebensumstände ihrer Bürger und in den Handel stecken. Eine dauerhafte Friedensordnung würde es den Nationen ermöglichen, sich zu entmilitarisieren, da die Gefahr von Kriegen stark reduziert wäre.

Saint-Pierre war ein Kritiker des absolutistischen Systems seiner Zeit, das in Europa vorherrschte. Er sieht in der Willkür der Monarchen eine der Hauptursachen für Kriege. Deshalb wurde ihm sein Sitz in der Akademie Française entzogen. Er sah ganz klar und hielt mit seiner Meinung nicht hinter dem Berg, dass ein permanenter Frieden nur erreicht werden kann, wenn die Staaten nicht von Einzelpersonen regiert werden, die ihre Macht oft für persönliche Ambitionen und Eroberungen missbrauchen. Obwohl Saint-Pierre die Monarchie als Staatsform anerkennt, plädiert er dafür, dass sie durch internationale Verträge und Institutionen gebunden wird, die das allgemeine Wohl über die Machtinteressen der einzelnen Herrscher stellen.


3. Rousseau, Jean Jacques, Extrait du Projet de la paix perpetuelle de M. l’abbé de Saint-Pierre (1761) und Jugement du Projet de paix perpetuelle (1782)


Jean-Jacques Rousseaus (1712-1778) Friedenskonzept ist eng mit seinen politischen und philosophischen Überlegungen über Gesellschaft, Freiheit und die menschliche Natur verknüpft. Rousseau verfasste 1761 und 1782 je einen Kommentar zum Friedensprojekt des Abbé de Saint-Pierre und entwickelte darin einen über diesen hinausgehenden, eigenen Entwurf. Die Ursachen von Kriegen sieht er in der Machtkonzentration bei den Monarchen, verbunden mit extremer sozialer Ungleichheit. Dies  führt zu ständigen Rivalitäten und Kriegen zwischen den Staaten.

Rousseau bezweifelt, dass eine Föderation von Staaten, wie sie Saint-Pierre vorschlägt, durchsetzbar ist, so lange die Herrschaft von Monarchen fortbesteht. Er bezweifelt, dass bloße Verträge und Bündnisse zwischen Monarchen deren Bestrebungen, nach außen ihre Besitzungen auszudehnen und im Inneren selbstherrlich zu herrschen, eindämmen könnten. Während Saint-Pierre bei seiner Friedenskonzeption alle Hoffnung auf die Vernunft der Herrscher setzt, denen er sein Projekt unermüdlich anempfahl, steht für Rousseau fest, dass diese gerade das Hindernis auf dem Weg zu einer dauerhaften Friedensordnung darstellen, die nur als Ergebnis einer gerechten politischen Ordnung entsteht, auf dem allgemeinen Willen (volonté générale) der Bürger der einzelnen Staaten aufbaut, Gesetzen gehorcht, denen sich auch die Regierenden unterwerfen müssen.

Rousseau betont auch die Bedeutung der Erziehung. Er hofft, dass Menschen, die geistig und moralisch gebildet sind, ihre Freiheit in sozialer Verantwortung ausüben und weniger geneigt sind, Konflikte zu suchen.

In seinem Werk Droit de la guerre (Über das Kriegsrecht) fordert er, dass Zivilisten in Kriegszeiten gesetzlich geschützt werden, und nur das Militär an Kampfhandlungen beteiligt sein soll.

4. Voltaire, Rescrit de l’empereur de la Chine à l’occasion du projet de paix perpétuelle (1761)

Dies ist eine kleine satirische Schrift gegen Rousseau und somit auch gegen den Abbé de Saint-Pierre. Sie ist lustig, ironisch, polemisch, wendet sich vor allem auf die Beschränkung des Friedenspaktes auf das christliche Europ, ist aber kein Ruhmesblatt für Voltaire, weil er versucht, Rousseau als Einzelnen, der sich anmaßt, den Großen, gar Staaten, Empfehlungen geben zu wollen, lächerlich zu machen.

5. Voltaire, De la Paix perpétuelle, par le docteur Goodheart, traduction de M. Chambon (1769)
[dt.: Vom ewigen Frieden,  hrsg. Voltaire-Stiftung, übers. u. kommentiert v. R. Neuhaus, www.correspondance-voltaire.de/ voltaire-vom-ewigen-frieden]

Voltaire erklärt kategorisch, dass auf einen ewigen Frieden nicht zu hoffen ist, solange das Christentum die Köpfe vernebelt und die Menschen zum Religionshass aufstachelt. Erst wenn man sich von dieser Sekte, die bereits im römischen Staat gegen alle anderen Glaubensgemeinschaften gehetzt und gestänkert hat, befreit hat, kann über die Möglichkeit, unter den Menschen Frieden herzustellen, nachgedacht werden. Solange das Christentum Einfluss besitzt, sind alle Projekte in dieser Richtung illusorisch und vergebens. In der fiktiven Befragung, der sich ein Christ und ein Jude durch Marc Aurel unterziehen müssen, erweist sich das Christentum als intolerant, verstandeswidrig und gefährlich, währen die Juden zwar ebenfalls alle anderen Religionen verdammen, jedoch wenigstens nicht gegen sie zur Tat schreiten und insofern harmlos sind. Das ist Voltaires Fazit:  „Es ist offensichtlich, dass die christliche Religion ein Netz ist, mit dem Betrüger über siebzehn Jahrhunderte lang die Dummen eingefangen, und ein Dolch, mit dem Fanatiker über vierzehn Jahrhunderte lang ihren Brüdern die Kehle durchgeschnitten haben“.
Daher: Bevor eines Tages die Völker in Frieden zusammenleben und ihre Beziehungen vernunftgemäß organisieren können, müssen sie sich zuallererst von dem erbittertsten Feind der Vernunft, dem Christentum, befreien

6. Bentham, Jeremy, Principles of International Law. – A Plan for an Universal and Perpetual Peace (1786)


[dt.: Grundsätze für ein künftiges Völkerrecht und einen dauernden Frieden, eingel. u. hg. v. Oskar Kraus, Halle: Max Niemayer, 1915]

Jeremy Bentham (1748–1832), Philosoph und Jurist, ist bekannt als Begründer des Utilitarismus, einer Ethik, die darauf abzielt, das größtmögliche Glück für die größtmögliche Anzahl von Menschen zu fördern. Er betont die enormen Kosten von Kriegen – sowohl in Form von menschlichem Leid als auch in Form von wirtschaftlicher Zerstörung – die den möglichen Nutzen für die Krieg führenden Staaten bei weitem überwiegen. Kriege führen zu Instabilität, Zerstörung und langfristigen Spannungen, während der Friede den Wohlstand und die Lebensqualität aller steigert.

Wie Saint-Pierre glaubt auch Bentham, dass der Frieden durch internationale Zusammenarbeit und die Entwicklung globaler Institutionen gesichert werden könne. In seinem Plan für einen dauerhaften Frieden schlägt er eine Reihe von Maßnahmen vor, um friedliche Beziehungen zwischen den Nationen zu fördern: Ein internationales Rechtssystem soll die Beziehungen zwischen den Staaten auf der Grundlage von Gesetzen und Verträgen regeln, anstatt auf Gewalt und Eroberung. Ein internationaler Gerichtshof soll zwischenstaatliche Streitigkeiten schlichten  und so militärische Konflikte verhindern.

Bentham fordert die Staaten auf, abzurüsten. Die Aufrechterhaltung großer stehender Armeen ist nicht nur eine immense wirtschaftliche Belastung, sondern schürt auch Misstrauen und Spannungen zwischen den Nationen, was das Risiko von Kriegen erhöht.

Der freie Handel ist ein wichtiges Mittel zur Friedenssicherung. Wirtschaftliche Verflechtungen zwischen den Nationen führen dazu, dass Kriege weniger wahrscheinlich werden, weil die wirtschaftlichen Kosten eines Konflikts für alle Beteiligten zu hoch werden. Freie Handelsbeziehungen bringen die Staaten in gegenseitige Abhängigkeit, die den Frieden fördert, indem sie die Nationen dazu anregen, miteinander zu kooperieren: Weltfrieden folgt aus Welthandel.

Demokratische Staaten gehen eher friedlich miteinander um als autokratische Regime. Die Demokratie, indem sie die Interessen der Mehrheit bündelt, wird Krieg eher meiden, da Kriege in der Regel gegen die Interessen der Bevölkerung gerichtet sind, denn sie ist es, die die Kosten in Form von Leben und Ressourcen direkt zu tragen hat. Despoten oder Monarchen hingegen neigen dazu, Kriege für persönliche oder dynastische Interessen zu führen, ohne Rücksicht auf das Wohl ihrer Untertanen. Der Frieden maximiert das Wohl der Menschen und sollte daher das Ziel politischer und internationaler Maßnahmen sein.

7. Wettbewerb der Académie Française (1766), Preis für die beste Arbeit zum Thema: Des malheurs de la guerre, et des avantages de la paix

[dt: Vom Unglück des Krieges und über Vorteile des Friedens]

Der Wettbewerb von 1766 mit dem Thema über Krieg und Frieden war ein bedeutender Versuch der Académie, angesichts der Verwüstung des zu Ende gegangenen Siebenjährigen Krieges über die Möglichkeit, den Frieden zu sichern, nachzudenken. Die Preisträger waren Jean-François de La Harpe,  Gabriel Henri Gaillard, Louis-Sébastien Mercier und Gabriel Bonnot de Mably.
Gleichzeitig zu diesem Wettbewerb veranstaltete die Académie des Beaux-Arts einen Wettbewerb für das beste Gemälde zum Thema „Les Malheurs de la Guerre“  Preisträger waren die Künstler Joseph-Marie Vien , Louis-Jean-François Lagrenée , Gabriel-François Doyen.

Die Académie-Preisträger:

Francois de la Harpe, Des Malheurs de la guerre et les avantages de la paix, 40 S.

Jean-François de La Harpe (1739–1803) kritisiert die autokratische Herrschaft und die Tyrannei der Monarchen. Er argumentiert, dass viele Konflikte und Kriege auf Machtmissbrauch und die Gier von Herrschern zurückzuführen sind, die ihren eigenen Ruhm oder territorialen Gewinn über das Wohl ihrer Untertanen stellen. La Harpe sieht, ganz in der Tradition Voltaires stehend,  Vernunft, Toleranz und Freiheit als Grundlage für eine friedliche Gesellschaft an. Für ihn ist die Aufklärung der Weg, um Kriege zu verhindern.
Ähnlich wie Rousseau sieht er die moralische Erziehung und die Förderung von Tugendhaftigkeit als Schlüssel zu einem dauerhaften Frieden. Frieden kann nur in einer Gesellschaft existieren, die auf moralischen Prinzipien aufbaut. Menschen sollten nicht nur durch Gesetze und Institutionen zum Frieden gezwungen werden, sondern sollen ihn durch eine tiefe moralische Überzeugung selbst anstreben. Der Frieden muss von innen heraus kommen, Gesellschaften sollen auf Gerechtigkeit, Toleranz und gegenseitigem Respekt aufgebaut sein.

Wie Voltaire sieht La Harpe im religiösen Fanatismus eine der Hauptquellen von Konflikten und Kriegen. Religiöse Toleranz ist eine zentrale Voraussetzung für den inneren Frieden in einer Gesellschaft. Nur wenn Despotismus und Aberglauben überwunden sind, ist ein friedliches Zusammenleben möglich.

Gabriel Henry Gaillard Des malheurs de la guerre et les avantages de la paix

Gabriel Henri Gaillard (1726–1806) betrachtet die Geschichte als eine Abfolge von Kriegen und Eroberungen, wobei er der Meinung ist, dass viele Kriege vermeidbar gewesen wären, wenn die Herrscher und politischen Führer ihre Entscheidungen auf Vernunft und nicht auf Emotionen wie Stolz, Gier oder Ehrgeiz gegründet hätten.

In der Ungerechtigkeit, ob auf persönlicher, nationaler oder internationaler Ebene, sieht er eine der Hauptursachen von Konflikten. Ein gerechtes politisches System, das die Rechte und Freiheiten der Menschen respektiert, wäre die Voraussetzung für einen dauerhaften Frieden.

Gaillard verurteilt imperialistische Eroberungskriege, die viele europäische Staaten, einschließlich Frankreich, in der Geschichte geführt hatten. Er sieht im Streben nach territorialer Expansion und Macht eine weitere wichtige Ursache von Kriegen, die zu langanhaltenden Spannungen und Konflikten zwischen Staaten führt.

Staaten sollen sich auf die Verteidigung ihrer legitimen Interessen beschränken und auf Eroberung und Aggression verzichten.  Wichtig sind Diplomatie und friedliche Verhandlungen zur Lösung internationaler Konflikte. Er zeigt, dass Kriege häufig aus Missverständnissen, fehlender Kommunikation oder falschen politischen Kalkulationen entstehen. Die Errichtung eines mit Zwangsgewalt ausgestatteten internationalen Schiedsgerichts, das Streitigkeiten zwischen den Nationen klärt und dem sich die einzelnen Staaten unterwerfen müssen, ist Voraussetzung für einen dauerhaften Frieden.


Louis Sébastien Mercier , Des malheurs de la guerre et les avantages de la paix, 67 S.

Louis-Sébastien Mercier (1740–1814) war vor allem durch sein utopisches Werk L’an deux mille quatre cent quarante, 1771 (dt.: Das Jahr 2240, übersetzt von Ch. F. Weiße, 1772) bekannt geworden.

Er beschreibt die verheerenden Auswirkungen des Krieges, schildert die Zerstörung von Städten, das Leid der Zivilbevölkerung, die Hungersnöte und die sozialen und wirtschaftlichen Schäden. Krieg zerstört aber nicht nur das Leben von Menschen, sondern auch die moralischen Werte. Krieg bedeutet die Herrschaft des Chaos und der Barbarei, und steht im Widerspruch zur Zivilisation und zum Fortschritt. Ein notwendiges Übel ist er ganz und gar nicht.

Eine friedliche Welt setzt Gerechtigkeit, Vernunft und Humanität voraus, Zustände in denen Konflikte durch Diplomatie und Verhandlungen gelöst werden, anstatt durch Gewalt,  Machtgier und dem Egoismus der politischen Führer, den Hauptursachen der Kriegstreiberei. Mercier fordert die Veränderung der Gesellschaft, um die Ursachen von Kriegen zu beseitigen.

In seinem utopischen Roman L’an deux mille quatre cent quarante (Das Jahr 2440) sind die Ursachen für Kriege – wie Gier, Territorialansprüche und Machtstreben – überwunden: Es gibt keine Aristokratie mehr, alle Bürger sind gleich. Die Menschen sind hochgebildet. Priester haben keine politische Macht, die Religion dient der Förderung von Tugend und Vernunft. Folter und die Todesstrafe sind abgeschafft. Es gibt keine übermäßigen Luxusgüter oder verschwenderischen Bräuche.

Die Abschaffung von Krieg geht einher mit einer allgemeinen moralischen Verbesserung der Menschheit. Die Menschen haben ihre egoistischen und destruktiven Triebe überwunden, sie folgen der Vernunft und lösen ihre Konflikte durch Dialog und Verständnis statt durch Gewalt.

Gabriel Bonnot de Mably , Des malheurs de la guerre et les avantages de la paix

Gabriel Bonnot de Mably (1709–1785) Rousseau eng verbunden, sieht Kriege als Ausdruck von Machtgier und Ungerechtigkeit. Sie werden oft auf Kosten der einfachen Bevölkerung geführt und sind in erster Linie das Resultat der Ambitionen von Herrschern und Mächtigen auf Expansion und Machtgewinn, Herrschern, die ihre eigenen Interessen über das Wohl ihrer Untertanen stellen.

Er fordert eine grundlegende Reform der politischen Strukturen, um eine friedlichere Weltordnung zu schaffen, das heißt, eine Gesellschaft, die auf Prinzipien von Gerechtigkeit, Gleichheit und Wohlstand basiert, da soziale Ungleichheit und Ungerechtigkeit häufig Konflikte und Kriege hervorrufen.

Staatliche Macht sei so zu organisieren, dass sie dem Wohl der Allgemeinheit dient und nicht den Interessen einzelner Herrscher oder Eliten. Eine gerechte und verantwortungsvolle Regierung sollte die Bedürfnisse und das Wohl der Bevölkerung in den Mittelpunkt ihrer Politik stellen. Anstelle eines absoluten Herrschers fordert Mably die Volkssouveränität.

Ist sie gegeben, sieht er die Möglichkeit, internationale Konflikte durch Verhandlungen und diplomatische Mittel zu klären, anstatt durch Krieg. Die Betonung liegt auf dem Dialog und der Zusammenarbeit zwischen den Staaten, um friedliche Lösungen für Differenzen zu finden.


8. Encyclopédie, Article Paix

Der kurze Artikel beginnt mit einer Definition des Begriffs „Frieden“ als Zustand der Ruhe und des Ausgleichs im Inneren einer Gesellschaft, und mit gute Beziehungen zwischen den Völkern untereinander.

Kriege sind wie Krankheiten und es stimmt nicht,  dass sie ein natürliches Merkmal menschlichen Wesens sind, wie etwa Hobbes es behauptet. Ganz im Gegenteil entspricht dem natürlichen Zustand die Gesundheit und nicht die Krankheit und ebenso der Frieden und nicht der Krieg. Frieden ist Grundvoraussetzung für Wohlstand und die Entwicklung der Zivilisation.

Ihre blinden Leidenschaften bringen die Fürsten dazu, die Grenzen ihrer Staaten ausdehnen zu wollen; sie kümmern sich nicht um das Wohl ihrer Untertanen, oft genug nicht einmal um ihre eigenen Interessen.

„Wenn die Vernunft die Menschen regieren würde, wenn sie über die Führer der Nationen die ihr gebührende Macht hätte, würde es nicht vorkommen, dass sie sich gedankenlos der Wut des Krieges hingeben“.

9. Ange Goudar, La Paix en Europe (1757)

Goudar kritisiert die ständigen Kriege und Konflikte zwischen den europäischen Mächten, die über kurz oder lang dazu führen werden, alle zusammen zugrunde zu richten. Um dem zu entgehen, sollen die europäischen Nationen einen 20 jährigen Frieden einhalten und in dieser Zeit ihre Zusammenarbeit entwickeln und sich weitgehend zusammenschließen (zu einer république universelle). Danach wären sie in der Lage, Konflikte zu vermeiden und zu lösen.

« Une Trêve générale , ou une suspension d’armes, pendant vingt ans, entre toutes les Puissances politiques , donneroit à chaque Etat des idées relatives à la paix, & par là-même, y conduiroit (207)

Man muss die Ursachen der Kriege bekämpfen, sonst sind Friedensschlüsse nichts anderes als Verschnaufpausen, in denen man Kräfte sammelt, um wieder zuzuschlagen. Wirtschaftliche Verflechtungen und Handelsbeziehungen  würden die Interessen der Nationen  miteinander in Einklang bringen und so die Spannungen verringern.

Sein 20 jähriger Friedensvertrag folgt im wesentlichen den Gedanken des Abbé de Saint Pierre, mit dem einen Unterscheid, dass am Ende der zwanzig Jahre alle wieder auseinandergehen und auch wieder Kriege führen dürfen, wobei Goudar hofft, dass sich durch die zwanzigjährige institutionelle Verflechtung der Dialog und die Verhandlungsbereitschaft zwischen den europäischen Mächten soweit entwickeln , dass es zu einer dauernden Friedenssicherung kommt.

10. Formey, Jean Henry Samuel, Anti-St. Pierre, Ou Refutation De L’Enigme Politique De L’Abbé de St. Pierre, 37 S (1742).

Jean Henry Samuel de Formey (1711–1797) war ein Sohn französischer Hugenotten, die nach der Aufhebung des Edikt von Nantes 1685 nach Berlin geflohen waren. Geboren in Berlin, spielte er dort eine etwas zwiespältige Rolle, er suchte sich am Hofe Friedrich zu behaupten, was ihm manche Winkelzüge und Bücklinge abverlangte.
Die Schrift darf zu letzteren gezählt werden. Formey wehrt die Kritik Saint-Pierres gegen den Krieg Friedrichs (sog. Österreichische Erbfolgekrieg v. 1740 – 1748) in einer Weise ab, die seinen Status als Höfling nur allzu deutlich unter Beweis stellt.
Er lobt die Weitsicht seines Königs, dessen Recht auf Schlesien, dessen Klugheit usw. und kritisiert die Anmaßung des kleinen Schriftstellers Saint-Pierre, der sich berechtigt fühle, einem so hochgestellten Mann alternative Möglichkeiten, die angeblich den Frieden erhalten hätten, vorschlagen zu dürfen.
Der Text ist allein interessant als Beispiel für die Arroganz der Macht, vermittelt durch einen seiner untertänigsten und abhängigen Diener (Formey war langjähriger Präsident der Berliner Akademie der Wissenschaften).
81 Artikel von Formey wurden in die Enzyklopädie aufgenommen, auch mit Voltaire stand er bis es zum Bruch mit Friedrich kam, auf gutem Fuß, anschließend aber äußerste er sich gehässig.

Literaturhinweise

  • Bahner, Werner, Die Friedensideen der französischen Aufklärung, in  Aufklärung, Gesellschaft, Kritik, Berlin: Akademie (1985),   S.79 – 165
    Aufklärung, Gesellschaft, Kritik – Google Books
  • Bahner, Werner, Die Position des Abbé de Mably in der französischen Aufklärung, in: ders., Formen, Ideen, Prozesse in den Literaturen der romanischen Völker, Bd.2., Berlin: Akademie, 1977, S. 187-219
  • Fetscher, Iring, Modelle der Friedenssicherung : mit e. Anh. Marxistisch-leninistische Friedenskonzeptionen, München: Piper, 1972
  • Reuvers, Hans-Bert, Philosophie des Friedens gegen friedlose Wirklichkeit, Köln: Pahl-Rugenstein, 1983
  • Wollgast, Siegfried, Zur Friedensidee in der Reformationszeit. Texte von Erasmus, Paracelcus, Franck, Berlin: Akademie, 1968
  • Raumer, Kurt v., Ewiger Friede. Friedensrufe und Friedenspläne seit der Renaissance, Freiburg-München: Karl Alber, 1953


Voltaire: Vom ewigen Frieden (De la Paix perpétuelle, par le docteur Goodheart, traduction de M. Chambon, 1769),
übersetzt und kommentiert von Rainer Neuhaus

auf der Basis der deutschen Erstübersetzung von W.Ch.S. Mylius. [1]

I. Frieden durch übernationale Institutionen ist eine Illusion

Der einzige ewige Frieden, der unter den Menschen geschaffen werden kann, ist der der Toleranz: Der Frieden, den sich ein Franzose namens Abbé de Saint-Pierre ausgedacht hat, ist ein Hirngespinst, das zwischen Fürsten ebenso wenig Bestand haben wird wie zwischen Elefanten und Nashörnern, zwischen Wölfen und Hunden. Die fleischfressenden Tiere werden sich immer bei der ersten Gelegenheit zerfleischen [2].

II. Die Wissenschaften haben die Sitten gemildert

Wenn es schon nicht gelungen ist, das Ungeheuer des Krieges aus der Welt zu verbannen, so ist es doch gelungen, es weniger barbarisch zu machen: Wir sehen heute nicht mehr, dass die Türken einem Bragadini [3], dem Gouverneur von Famagusta, die Kehle durchschneiden lassen, weil er seine Festung tapfer gegen sie verteidigt hat. Wenn man einen Fürsten gefangen nimmt, wird er nicht in Ketten gelegt oder in den Kerker geworfen, wie es Philipp, genannt Augustus, mit Ferrand, dem Grafen von Flandern, tat [4] und wie Leopold von Österreich noch nichtswürdiger mit unserem Richard Löwenherz verfuhr [5].

Die Folterungen Konradins, des rechtmäßigen Königs von Neapel, und seines Vetters, die von einem tyrannischen Vasallen angeordnet und von einem souveränen Priester genehmigt wurden [6], wiederholen sich nicht mehr: Es gibt keinen Ludwig XI. mehr, genannt der Allerchristlichste oder Phalaris, der Verliese bauen lässt, ein Taurobolus in den Markthallen aufstellt und junge souveräne Prinzen [7] mit dem Blut ihrer Väter übergießt: Wir sehen nicht mehr die Schrecken der roten und der weißen Rose [8], noch fallen auf unserer Insel gekrönte Häupter unter dem Beil der Henker; die Humanität scheint endlich der Grausamkeit der christlichen Fürsten zu folgen; sie haben nicht mehr die Gewohnheit, Botschafter zu ermorden, wenn sie vermuten, dass diese gegen ihre Interessen intrigieren, so wie Karl V. die beiden Gesandten von Franz I., Rincon und Frégose, töten ließ [9]; niemand führt mehr so Krieg wie der berühmte Bastard von Papst Alexander VI, der Gift, Stilett und die Hand der Henker mehr als sein Schwert benutzte [10]: Die Wissenschaften haben haben endlich die Sitten gemildert.

Es gibt viel weniger Kannibalen in der Christenheit als früher; das ist immerhin ein Trost bei der schrecklichen Geißel des Krieges, die Europa niemals zwanzig Jahre lang in Ruhe atmen lässt [11].

III. Die Scheiterhaufen brennen seltener

Wenn der Krieg selbst weniger barbarisch geworden ist, scheinen auch die Regierungen der einzelnen Staaten weniger unmenschlich und weiser zu werden. Die guten Werke, die seit einigen Jahren geschrieben wurden, sind in ganz Europa vorgedrungen, ungeachtet der Trabanten des Fanatismus, die an allen Wegen Wache hielten. Die Vernunft und das Mitleid sind bis zu den Pforten der Inquisition vorgedrungen. Die Taten der Menschenfresser, die man Glaubenshandlungen nannte, preisen den Gott der Barmherzigkeit nicht mehr so oft im Licht der Scheiterhaufen und inmitten der Ströme von Blut, die von den Henkern vergossen werden. In Spanien beginnt man zu bereuen, dass man die Mauren, die das Land bebauten, vertrieben hat; und wenn es heute zur Debatte stünde, das Edikt von Nantes zu widerrufen, würde es niemand wagen, eine so verhängnisvolle Ungerechtigkeit vorzuschlagen [12].

IV. Die christliche Intoleranz als Ursache von Krieg

Wenn die Welt nur aus einer wilden Horde bestünde, die von Raubzügen lebt, so wäre ein ehrgeiziger Schlaukopf vielleicht zu entschuldigen, wenn er diese Horde betrügt, um sie zu zivilisieren, und sich dazu des Beistands der Priester bediente. Aber was würde dann geschehen? Bald würden die Priester den Ehrgeizigen selbst unterwerfen, und zwischen seinen Nachkommen und ihnen würde ein ewiger, teils versteckter, teils offener Hass entstehen: Diese Art, eine Nation zu zivilisieren, würde in kurzer Zeit schlimmer sein als das Leben in der Wildnis. Denn welcher Mensch würde nicht lieber mit den Hottentotten und Kaffern auf die Jagd gehen, als unter Päpsten wie Sergius III, Johannes X, Johannes XI, Johannes XII, Sixtus IV, Alexander VI. und vielen anderen Ungeheuern dieser Art zu leben? Welche wilde Nation hat sich jemals mit dem Blut von hunderttausend Manichäern befleckt, wie die Kaiserin Theodora [13]? Welche Irokesen oder Algonkin haben religiöse Massaker wie die Bartholomäusnacht [14], den heiligen Krieg in Irland [15], die heiligen Morde des Kreuzzugs von Montfort [16] und hundert ähnliche Gräuel zu verantworten, die das christliche Europa in ein großes, mit Priestern, Henkern und Geplagten bedecktes Schafott verwandelt haben? Die christliche Intoleranz allein hat diese schrecklichen Katastrophen verursacht; nun muss die Toleranz sie beseitigen.

V. Ohne das intolerante Christentum keine Religionskriege

Warum hauste das Monster der Intoleranz im Schlamm der Höhlen, die die ersten Christen bewohnten? Wie kommt es, dass es aus diesen Kloaken, in denen es sich ernährte, in die Schulen von Alexandria gelangte, wo jene Halbchristen und Halbjuden lehrten? Wie kommt es, dass es sich bald auf den Bischofsstühlen niederließ und schließlich auf dem Thron neben den Königen saß, die gezwungen waren, ihm Platz zu machen, und die oft von ihm von ihrem Thron gestürzt wurden? Bevor dieses Monster geboren wurde, gab es auf der Erde nie Religionskriege und nie einen Streit über den Gottesdienst. Nichts ist wahrer; und die entschlossensten Betrüger, die heute noch gegen die Toleranz schreiben, würden es nicht wagen, dieser Wahrheit zu widersprechen.

VI. Ägypten als Quelle der Intoleranz

Die Ägypter scheinen die ersten gewesen zu sein, die die Idee der Intoleranz hervorgebracht haben; jeder Fremde war bei ihnen unrein, es sei denn, er ließ sich in ihre Mysterien einbinden: Man war unrein, wenn man von einem Gericht aß, das er benutzt hatte, unrein, wenn man ihn berührte, und manchmal sogar unrein, wenn man mit ihm sprach. Dieses elende Volk, welches nur dafür berühmt war, dass es seine Armen dazu benutzte, die Pyramiden, Paläste und Tempel seiner Tyrannen zu bauen, und das von allen, die es angriffen, immer unterworfen wurde, zahlte einen hohen Preis für seine Intoleranz [17] und wurde nach den Juden das am meisten verachtete Volk aller Völker.

VII. Juden führten keine Kriege aus religiösen Gründen

Die Hebräer, die den Ägyptern benachbart waren und einen Großteil ihrer Riten übernahmen, ahmten auch deren Intoleranz nach und übertrafen sie sogar noch; in ihren Geschichtsbüchern wird jedoch nicht erzählt, dass das Ländchen Samaria jemals gegen das Ländchen Juda nur aus religiösen Gründen Krieg geführt hätte. Die judäischen Hebräer sagten zu den Samaritischen nicht: „Kommt und opfert auf dem Berg Moriah [18], oder ich werde euch töten“, und ebenso wenig die samaritanischen nicht zu jenen: „Kommt und opfert in Garizim [19], oder wir werden euch umbringen“. Die beiden Völker verabscheuten sich als Nachbarn, als Ketzer, als von Minikönigen mit gegensätzlichen Interessen regiert; aber trotz dieses grausamen Hasses ist nicht zu erkennen, dass jemals ein Einwohner Jerusalems einen Bürger Samarias zum Wechsel der Glaubensrichtung zwingen wollte: Ich bin damit einverstanden, dass mich ein Dummkopf hasst, aber ich will nicht, dass er mich unterwirft und tötet. Minister Louvois sagte zu den gelehrtesten Männern, die es in Frankreich gab: „Glaubt an die Transsubstantiation, über die ich mich selber in den Armen von Frau Du Fresnoy lustig mache, oder ich lasse euch rädern.“ [20] Bis zu diesem abscheulichen Despotismus haben es die Juden, so barbarisch sie auch waren, es doch niemals getrieben.

VIII. Das handeltreibende Holland und sein Sündenfall

Die Tyrer [21] gaben den Juden ein großes Beispiel, von dem diese Horde, die sich neu bei ihnen niedergelassen hatte, jedoch keinen Gewinn zog; sie brachten die Toleranz zusammen mit dem Handel und den Künsten unter alle Nationen. Die heutigen Holländer könnten mit ihnen verglichen werden, wenn sie sich nicht ihr Konzil von Dordrecht gegen die guten Werke und das Blut des ehrwürdigen Barneveldt, der im Alter von einundsiebzig Jahren verurteilt wurde, weil er die Kirche Gottes so sehr wie möglich verärgert hatte, vorwerfen lassen müssten [22]. O Menschen! O Ungeheuer! Calvinistische Kaufleute, die sich in Sümpfen niedergelassen haben, beleidigen den übrigen Teil des Universums! Es ist wahr, dass sie für dieses Verbrechen gesühnt haben, indem sie die christliche Religion in Japan verleugneten [23].

IX. Von der Toleranz in der Antike

Die alten Römer und Griechen, die so hoch über die anderen Menschen erhaben waren, wie ihre Nachfolger unter sie herabgesunken sind, zeichneten sich nicht nur durch ihre Kriegskunst, sondern ebenso durch Toleranz, durch die schönen Künste und durch die Rechtsprechung aus.

Die Athener errichteten Sokrates einen Tempel und verurteilten die ungerechten Richter, die diesen ehrwürdigen alten Mann, diesen Barneveldt von Athen, vergiftet hatten, zum Tode [24]. Es gibt kein einziges Beispiel für einen Römer, der wegen seiner Ansichten verfolgt wurde, bis zu der Zeit, als das Christentum kam, um die Götter des Reiches zu bekämpfen. Die Stoiker und die Epikureer lebten friedlich miteinander. Wiegt diese große Wahrheit ab, ihr armseligen Magistrate unserer barbarischen Länder, deren Eroberer und Gesetzgeber die Römer waren; errötet, ihr Sequaner, Septimaner, Kantabrer und Allobroger [25].

X. Rom verfolgte Christen als Aufrührer

Es steht fest, dass die Römer den schändlichen Aberglauben der Ägypter und Juden tolerierten; und zur selben Zeit, als Titus Jerusalem einnahm und Hadrian es zerstörte, hatten die Juden in Rom eine Synagoge, durften Lumpen verkaufen und ihr Passahfest, ihre Pfingsten und ihr Laubhüttenfest feiern: Man verachtete sie, aber man ertrug sie [26]. Warum vergaßen die Römer ihre übliche Nachsicht so weit, dass sie manchmal Christen, für die sie genauso viel Verachtung empfanden wie für die Juden, mit dem Tode bestraften? Es stimmt, dass nur sehr wenige von ihnen hingerichtet wurden. Origenes selbst gibt dies in seinem dritten Buch Gegen Celsus mit folgenden Worten zu: „Es gab nur sehr wenige Märtyrer, und auch das nur in großem zeitlichen Abständen; dennoch“, sagt er, „lassen die Christen nichts unversucht, um alle Menschen dazu zu bringen, ihre Religion anzunehmen; sie ziehen in die Städte, in die Dörfer und in die Dörfer.“ [27] Aber bei alldem ist es doch wahr, dass einige Christen mit dem Tod bestraft wurden; wir wollen also sehen, ob sie als Christen oder als Aufrührer bestraft wurden.

Einen Menschen unter Folter umzubringen, nur weil er nicht so denkt wie wir, ist eine Abscheulichkeit, zu der selbst Kannibalen nicht fähig sind. Wie hätten also die Römer, diese großen Gesetzgeber, ein solches Verbrechen zum Gesetz erheben können? Man könnte antworten, dass die Christen diesen Schrecken so oft begangen haben, dass auch die alten Römer sich damit befleckt haben könnten. Aber der Unterschied ist bemerkenswert. Die Christen, die eine unzählige Menge ihrer Brüder abgeschlachtet haben, waren von einem heftigen Glaubenswahn besessen; sie sagten: „Gott ist für uns gestorben, und die Ungläubigen kreuzigen ihn zum zweiten Mal; lasst uns mit ihrem Blut das Blut Jesu Christi rächen.“ Die Römer haben niemals eine solche Überheblichkeit an den Tag gelegt. Wenn es Verfolgungen gab, dann geschah dies offensichtlich, um eine Partei zu unterdrücken, und nicht, um eine Religion abzuschaffen.

XI. Kirchenväter als Hetzer und Fanatiker

Beziehen wir uns auf Tertullian selbst. Niemals hat ein Mensch mit mehr Heftigkeit geschrieben; Ciceros Philippika gegen Antonius sind Komplimente im Vergleich zu den Beleidigungen, die dieser Afrikaner gegen die Religion des Reiches ausstößt, und den Vorwürfen, die er gegen die Sitten seiner Herren erhebt. Man beschuldigte die Christen, sie tränken Blut, und in der Tat stellt der Wein, den sie beim Abendmahl trinken, das Blut Jesu Christi dar. Dies kontert er mit der Beschuldigung, die römischen Damen würden ein Likörchen trinken, das noch kostbarer ist als das Blut ihrer Liebhaber, ein Etwas, das ich nicht nennen kann und woraus dereinst Menschen hätten werden sollen: Quia futurum sanguinem lambunt.(Kap.IX). [28]

Tertullian beschränkt sich in seiner Apologetik nicht darauf, zu sagen, dass man die christliche Religion tolerieren soll, sondern er gibt an hundert Stellen zu verstehen, sie müsse allein herrschen, sie vertrage sich schlechterdings nicht mit den anderen.

Wer in mein Haus aufgenommen werden will, wird aufgenommen, wenn er klug und nützlich ist; wer es aber nur betritt, um mich zu vertreiben, ist ein Feind, den ich loswerden muss. Offensichtlich wollten die Christen die Kinder aus dem Haus vertreiben, daher war es nur recht und billig, sie zu unterdrücken: Man bestrafte nicht das Christentum, sondern deren intoleranten Teil von Unruhesiftern; und auch dies geschah so selten, dass Origenes und Tertullian, die beiden heftigsten Deklamatoren, in ihren Betten gestorben sind. Unter den ersten Cäsaren wurde keiner der sogenannten Päpste von Rom gefoltert. Sie waren in der Hauptstadt der Welt intolerant und wurden doch darin toleriert. Die armselige Zweideutigkeit des Wortes Märtyrer darf nicht zu der Annahme verleiten, der Papst Telesphorus sei wirklich hingerichtet worden [29]. Märtyrer bedeutete Zeuge, Bekenner.

XII. Der Geisterglaube der Kirchenväter

Um die Intoleranz der ersten Christen kennenzulernen, brauchen wir uns nur auf sie selbst zu beziehen. Wenn wir Tertullians berühmtes Apologetikum aufschlagen, sehen wir dort die Quelle des Hasses zwischen den beiden Parteien [30]. Beide glaubten fest an Zauberei; vom Euphrat und vom Nil bis zum Tiber war dies ein allgemeiner Irrtum des Altertums. Für die unbekannten Krankheiten, die die Menschen plagten, wurden unbekannte Wesen verantwortlich gemacht: Je mehr die Natur ignoriert wurde, desto mehr war das Übernatürliche in Mode. Jedes Volk glaubte an Dämonen und bösartige Geister; und überall gab es Scharlatane, die sich damit brüsteten, die Dämonen mit Worten austreiben zu können.  Ägypter, Chaldäer, Syrer, Juden, griechische und römische Priester – sie alle hatten ihre eigene Zauberformel. In Ägypten und Phönizien wurden Wunder bewirkt, indem man das Wort Jaha, Jehova, auf die gleiche Weise aussprach, wie es im Himmel ausgesprochen wird. Mit dem Wort Abraxas wurden verschiedene Beschwörungen vorgenommen. Durch dieses Wort wurden alle bösen Dämonen, die die Menschen quälten, vertrieben. Tertullian bestreitet die Macht der Dämonen nicht. In Kapitel xxii sagt er: „Apollon erriet, dass Krösus in seinem Palast in Lydien eine Schildkröte mit einem Lamm in einem ehernen Topf kochte. Warum war er so gut informiert? Weil er im Handumdrehen nach Lydien gereist und genauso schnell wieder zurückgekehrt war.“

Tertullian wusste nicht genug, um dieses lächerliche Orakel zu widerlegen; er war so unwissend, dass er es begründete und erklärte. Er fährt fort: „Die Dämonen halten sich in der Luft zwischen den Wolken und den Gestirnen auf. Sie kündigen den Regen an, wenn sie sehen, dass er bereit ist zu fallen, und sie verordnen Heilmittel für Krankheiten, die sie selbst den Menschen gesandt haben.“

Weder er noch ein anderer Kirchenvater bestreitet die Macht der Zauberei, aber alle behaupten, sie könnten durch eine höhere Macht die Dämonen austreiben. Tertullian drückt sich folgendermaßen aus: „Man führe einen vom Teufel Besessenen vor euer Gericht; wenn ein Christ dem Dämon befiehlt zu sprechen, wird er gestehen, dass er nur ein Teufel ist, obwohl er sonst ein Gott ist. Lasst eure himmlische Jungfrau, die den Regen verspricht, und Äskulap, der die Menschen heilt, vor einem Christen erscheinen; wenn er sie nicht im selben Augenblick zwingt zu gestehen, dass sie Teufel sind, dann vergießt das Blut dieses verwegenen Christen.“

Welcher vernünftige Mensch wird beim Lesen dieser Worte nicht davon überzeugt sein, dass Tertullian ein Narr war, der andere Narren übertrumpfen wollte und das Privileg des Fanatismus für sich alleine beanspruchte?

XIII. Der christliche Kampf gegen Rom

Die römischen Magistrate waren in den Augen der Menschen zweifellos entschuldbar, wenn sie das Christentum als für das Reich gefährliche Unruhestifter betrachteten. Sie sahen, wie sich undurchsichtige Leute heimlich versammelten, und dann hörte man, wie sie lautstark gegen alle in Rom üblichen Bräuche deklamierten. Sie hatten eine unglaubliche Menge an falschen Legenden erfunden. Was sollte ein Magistrat denken, wenn er so viele fingierte Schriften sah, so viele Betrügereien, welche die Christen selbst als Betrügereien bezeichneten und mit frommen, betrügerischen Titeln schmückten? Da gab es Briefe von Pilatus an Tiberius über die Person Jesu; Pilatus Lebensgeschichte; Briefe von Tiberius an den Senat und vom Senat an Tiberius über Jesus; Briefe von Paulus an Seneca und von Seneca an Paulus; Kampf des Petrus und des Simon vor Nero; angebliche Sibyllinische Verse; mehr als fünfzig Evangelien, die sich alle voneinander unterscheiden und von denen jedes für den Bezirk, in dem es verbreitet wurde, fabriziert wurde; ein halbes Dutzend Apokalypsen, die nur Vorhersagen gegen Rom enthielten, etc, etc. [31]

Welcher Senator, welcher Rechtsgelehrte hätte an diesen Merkmalen nicht eine Gruppe verderbliche  Unruhestifter erkannt? Die christliche Religion ist ohne Zweifel himmlisch, aber kein römischer Senator hätte das erraten können.

XIV. Beispiele christlicher Fanatiker

Ein gewisser Marcellus (der Soldat) in Afrika wirft seinen Waffengürtel auf den Boden, zerbricht an der Spitze seiner Truppe seinen Kommandostab und erklärt, dass er nur noch dem Gott der Christen dienen will; dieser Aufrührer wird zum Heiligen gemacht.

Ein Diakon namens Laurentius (von Rom), anstatt wie ein normaler Bürger zu den Bedürfnissen des Reiches beizutragen, übergibt er die dem Präfekten versprochenen Geldzahlungen an Einäugige und Lahme. Dieser Aufsässige wird zum Heiligen erklärt.

Polyeuktos, von einem höchst strafbaren Fanatismus mitgerissen, zerschlägt die heiligen Gefäße und Statuen eines Tempels, in dem man dem Himmel für den Sieg des Kaisers dankte; und man macht diesen Störenfried der öffentlichen Ruhe, der das Verbrechen der Majestätsbeleidigung verübte, zu einem Heiligen.

Ein Theodor (Tiro), ein Nachahmer des Herostratus, brennt im Jahr 305 den Tempel der Kybele in Amasia (Amasya) nieder; und dieser Brandstifter wird zum Heiligen erklärt! Die Kaiser und der Senat, die nicht vom Glauben erleuchtet waren, konnten also nicht anders, als das Christentum als eine intolerante Sekte und eine Gruppe verwegener Unruhestifter zu betrachten, die früher oder später für die Menschheit schlimme Folgen haben würde. [32]


XV. Ein römischer Senator befragt einen Christen

Eines Tages erschienen ein Jude mit gesundem Menschenverstand und ein Christ vor einem aufgeklärten Senator, in Gegenwart des weisen Mark Aurel, der sich über ihre Dogmen informieren wollte. Der Senator befragte sie einen nach dem anderen.

Der Senator an den Christen: Warum stört ihr den Frieden des Reiches? Warum begnügt ihr euch nicht wie die Syrer, Ägypter und Juden damit, eure Riten ruhig zu praktizieren? Warum wollt ihr, dass eure Sekte alle anderen auslöscht?

Der Christ: Weil sie die einzig wahre ist. Wir beten einen Juden als Gott an, der in einem Dorf in Judäa unter Kaiser Augustus im Jahr 752 oder 756 des römischen Reiches geboren wurde. Sein Vater und seine Mutter wurden dem heiligen Lukas zufolge in diesem Dorf registriert, als der Kaiser das ganze Universum zählen ließ und Cyrenius zu dieser Zeit Statthalter von Syrien war.

Der Senator: Ihr Lukas hat Sie getäuscht. Cyrenius war erst zehn Jahre nach der Zeit, von der Sie sprechen, Statthalter von Syrien: Damals war Quintilius Varus; das geht aus unseren Annalen hervor, Prokonsul von Syrien. Augustus hatte nie die unsinnige Absicht, die ganze Welt zählen zu lassen, und es gab unter seiner Herrschaft nicht einmal eine vollständige Zählung der römischen Bürger. Selbst wenn eine solche durchgeführt worden wäre, so hätte sie sich nicht auf Judäa erstreckt, das von Herodes regiert wurde, der dem Reich tributpflichtig war, und nicht von Beamten des Kaisers. Der Vater und die Mutter eures Gottes [33] waren, wie ihr sagt, Bewohner eines jüdischen Dorfes; sie waren also keine römischen Bürger und konnten nicht in den Zensus einbezogen werden.

Der Christ: Unser Gott hatte keinen jüdischen Vater. Seine Mutter war eine Jungfrau. Es war Gott selbst, der sie durch die Wirkung eines Geistes, der auch Gott war, schwängerte, ohne dass die Mutter aufhörte, eine Jungfrau zu sein. Und das ist so wahr, dass drei Könige oder drei Philosophen aus dem Osten kamen, um ihn in dem Stall, in dem er geboren wurde, anzubeten, geleitet von einem neuen Stern, der mit ihnen reiste.

Der Senator: Ihr seht es wohl, mein armer Mann, dass man sich über euch lustig gemacht hat. Wenn damals ein neuer Stern erschienen wäre, hätten wir ihn gesehen; die ganze Erde hätte davon gesprochen; alle Astronomen hätten das Phänomen berechnet [34].

Der Christ: Aber doch steht das in unseren heiligen Büchern.

Der Senator: Zeigen Sie mir Ihre Bücher.

Der Christ: Wir zeigen sie keinem Profanen, keinem Gottlosen; Sie sind ein Profaner und ein Gottloser, weil Sie nicht zu unserer Sekte gehören. Wir haben nur sehr wenige Bücher. Sie bleiben in den Händen unserer Meister. Man muss eingeweiht sein, um sie zu lesen. Ich habe sie gelesen, und wenn Ihre Kaiserliche Majestät es gestattet, werde ich Ihnen in ihrer Gegenwart darüber berichten, und sie wird sehen, dass unsere Sekte die Vernunft selbst ist.

Der Senator: Sprechen Sie, der Kaiser befiehlt es Ihnen, und ich möchte gerne vergessen, dass Sie als Christ, der Sie würdiger Weise sind, mich als Gottlosen bezeichnet haben.

Der Christ: Oh, Herr, gottlos ist keine Beleidigung; es kann einen rechtschaffenen Mann bedeuten, der das Pech hat, nicht unserer Meinung zu sein. Aber um dem Kaiser zu gehorchen, werde ich alles sagen, was ich weiß.

Erstens: Unser Gott wurde von einer Jungfrau geboren, die von vier Prostituierten abstammte: Bathseba, die mit David hurt; Thamar, die mit Juda, dem Patriarchen, hurt; Ruth, die mit dem alten Boas hurt; und die Freudentochter Rahab, die mit jederman hurt. Das alles, um zu zeigen, dass die Wege Gottes nicht die Wege der Menschen sind [35].

Zweitens solltet ihr wissen, dass unser Gott durch die Todesstrafe starb, denn ihr habt ihn wie einen Sklaven und einen Dieb ans Kreuz schlagen lassen; denn die Juden hatten damals nicht das Recht, über Leben und Tod zu entscheiden. Es war Pontius Pilatus, der Jerusalem im Namen des Kaisers Tiberius regierte: Sie werden nicht leugnen, dass dieser Gott, nachdem er öffentlich gehängt worden war, insgeheim wieder auferstand. Aber was Sie vielleicht nicht wissen, ist, dass seine Geburt, sein Leben und sein Tod von allen jüdischen Propheten vorhergesagt worden sind. So hell wie der Tag leuchtet es ein, dass, wenn Jesaja sieben [36] oder vierzehnhundert Jahre vor der Geburt unseres Gottes verkündet: „Ein Mädchen oder eine Frau wird ein Kind gebären, das Butter und Honig essen wird, und es wird Immanuel heißen“ [37], dies bedeutet, dass Jesus Gott sein wird.

In einer unserer Überlieferungen [38] heißt es, dass Juda wie ein junger Löwe sein würde, der sich auf seine Beute stürzt, und dass die Jungfrau nicht aus Judas Schenkeln hervorkommen würde, bis dass der Held (Schilo) komme. Die ganze Welt wird zugeben, dass jedes dieser Worte beweist, dass Jesus Gott ist. Jene anderen bemerkenswerten Worte: Er bindet sein Eselchen an den Weinstock, beweisen geradewegs und vollends, dass Jesus Gott ist.

Es ist wahr, dass er nicht plötzlich Gott war, sondern nur Sohn Gottes. Aber er wurde bald erhöht, als wir in Alexandria mit einigen Platonikern Bekanntschaft machten. Sie lehrten uns, was das Wort wäre, von dem wir noch nie etwas gehört hatten, und dass Gott alles durch sein Wort, durch seinen Logos, tue. So wurde Jesus zum Logos Gottes, und da der Mensch und das Wort ein und dasselbe sind, ist es klar, dass Jesus, der das Wort ist, offenkundig auch Gott ist.

Wenn Sie uns fragen, warum Gott nach Judäa gekommen ist, um sich dort hinrichten zu lassen, so steht fest, dass er gekommen ist, um die Sünde von der Erde tilgen; denn seit seiner Hinrichtung hat niemand unter seinen Auserwählten auch nur den geringsten Fehler begangen. Und seine Auserwählten, zu denen ich gehöre, machen die ganze Welt aus; der Rest ist ein Haufen von Verworfenen, der als Nichts gelten muss. Die Welt ist nur für die Auserwählten geschaffen. Unsere Religion geht auf den Ursprung der Welt zurück, denn sie beruht auf der jüdischen, die sie zerstört, und diese jüdische beruht auf der Religion eines Chaldäers namens Abraham; die Religion Abrahams hat die Religion Noahs, die ihr nicht kennt, weiterentwickelt, und die Religion Noahs ist eine Reform der Religion Adams und Evas, die die Römer noch weniger kennen. So hat Gott seine universelle Religion fünfmal verändert, ohne dass jemand davon wusste, außer den Juden damals und außer uns heute, die wir an die Stelle der Juden getreten sind. Diese Abstammung, die so alt ist wie die Erde, die Sünde des ersten Menschen, die durch das Blut des hebräischen Gottes erlöst wurde, die von allen Propheten vorhergesagte Menschwerdung dieses Gottes, sein Tod, der in allen Ereignissen der jüdischen Geschichte dargestellt wird, seine Wunder, die vor den Augen der ganzen Welt in einem Winkel Galiläas geschehen sind, sein Leben, das außerhalb Jerusalems geschrieben wurde, fünfzig Jahre nachdem er in Jerusalem hingerichtet wurde. Platons Logos, den wir mit Jesus identifiziert haben, entfacht die Feuer der Unterwelt, die wir jedem androhen, der nicht an ihn und an uns glaubt [39] – all dieses große Bild leuchtender Wahrheiten zeigt, dass das römische Reich uns unterworfen sein wird und dass der Thron der Cäsaren zum Thron der christlichen Religion wird.

Der Senator: Das könnte geschehen. Der Pöbel lässt sich gerne verführen; es gibt immer mindestens hundert dumme und fanatische Gesellen gegen einen klugen Bürger. Sie erzählen mir von den Wundern Ihres Gottes: Gewiss, wenn man sich von Prophezeiungen und Wundern betören lässt, sie mit Platos Logos verknüpft, und wenn man auf diese Weise die Augen, die Ohren und den Verstand der einfachen Leute fasziniert, wenn man mit Hilfe einer unsinnigen Metaphysik, die als göttlich angesehen wird, die Phantasie der Menschen, die immer das Wunderbare lieben, erhitzt, dann kann man es eines Tages schaffen, das Reich umzustürzen. Aber, sagen Sie uns, welche Wunder hat Ihr Judengott vollbracht?

Der Christ: Das erste ist, dass der Teufel ihn auf einen Berg führte [40]; das zweite, dass er auf einer Bauernhochzeit, wo alle betrunken waren [41] und der ganze Wein getrunken war, das Wasser in Wein verwandelte und in Krüge füllen ließ. Aber das schönste aller seiner Wunder ist: Er schickte obwohl es in dem Land keine Schweine gab, doch zweitausend solchen Tieren ein paar Teufel in den Leib, so dass sie sich in einen See stürzten und ertranken [42].

XVI. Marc Aurel bitten einen Juden, Stellung zu nehmen

Marc Aurel war gelangweilt von diesen göttlichen Dingen, die seinem verblendeten Geist nur wie ausgemachte Tollheiten vorkamen, und befahl dem Christen, der sonst noch lange fortgeschwatzt haben würde, zu schweigen. Dann verlangte er, der Jude solle sich erklären und ihm sagen, ob die christliche Sekte wirklich ein Zweig der jüdischen sei und was er von der einen wie von der anderen halte. Der Jude verbeugte sich tief, erhob die Augen gen Himmel und äußerte sich wie folgt:

„Heilige Majestät, zuerst will ich Euch sagen, dass die Juden weit davon entfernt sind, so herrschsüchtig wie die Christen zu sein. Wir sind nicht so verwegen, die ganze Welt unseren Ansichten unterwerfen zu wollen; sondern sind schon zufrieden, wenn man uns nur toleriert, und respektieren alle eure Gebräuche, allerdings ohne sie anzunehmen; man sieht uns in euren Städten und Lagern keinen Aufruhr stiften; wir haben noch keinem Römer die Vorhaut abgeschnitten, während die Christen sie taufen. Wir glauben an Moses, aber wir ermahnen keinen Römer, dies auch zu tun; wir sind (zumindest jetzt) so friedlich und ergeben, wie die Christen unruhig und aufrührerisch sind.

Ihr habt erfahren, welch schöne Wunder unsere grausamen Feinde ihrem angeblichen Gott zuschreiben. Handelte es sich hier um Wunder, würden wir euch zuerst eine Schlange [43] zeigen, die mit unserer guten gemeinsamen Mutter spricht; eine Eselin, die sich mit einem götzendienerischen Propheten [44] unterhält, und diesen Propheten selbst, der gekommen ist, um uns zu verfluchen, und uns wider Willen segnete. Ich würde Euch einen Moses zeigen, der alle Zauberer des ägyptischen Königs an Wundern übertrifft, ein ganzes Land mit Fröschen und Läusen überzieht und nach dem Vorbild des alten Bacchus, zwei oder drei Millionen Juden trockenen Fußes durch das Rote Meer führt [45]. Ich würde Euch einen Josua zeigen, der um elf Uhr morgens einen Steinhagel auf die Bewohner eines feindlichen Dorfes niedergehen lässt und die Sonne und den Mond um zwölf Uhr mittags anhält, um Zeit zu haben, seine Feinde, die bereits tot waren, besser zu töten. Ihr werdet zugeben, Heilige Majestät, dass die zweitausend Schweine, in welche Jesus den Teufel schickt, eine Kleinigkeit sind im Vergleich zu Josuas Sonne und Mond und Moses‘ Rotem Meer; aber ich will nicht auf unseren alten Wundern herumreiten, sondern die Weisheit unseres Geschichtsschreibers Josephus Flavius aufgreifen, der, indem er diese Wunder so wiedergibt, wie sie von unseren Priestern aufgeschrieben wurden, dem Leser die Freiheit gibt, sich darüber lustig zu machen.

Ich komme zu dem Unterschied, der zwischen uns und den christlichen Sektierern besteht. Eure Heilige Majestät wird wissen, dass es zu allen Zeiten in Ägypten und Syrien Enthusiasten gab, die, ohne rechtlich dazu befugt zu sein, sich anmaßten, im Namen der Gottheit zu sprechen; wir haben viele von ihnen unter uns gehabt, besonders in unseren Unglückszeiten; aber gewiss hat keiner von ihnen einen Mann wie Jesus vorhergesagt und konnte es auch nicht. Hätten sie unmöglicherweise wirklich von diesem Mann prophezeit, so hätten sie zumindest seinen Namen bekannt gegeben, der aber in keiner ihrer Schriften zu finden ist; sie hätten gesagt, Jesus werde von einer Frau namens Mirja geboren, die von den Christen lächerlicherweise Maria genannt wird; ferner: Die Römer würden ihn auf Drängen des Hohen Rates aufhängen lassen. Die Christen antworten auf diesen starken Einwand, dass die Propheten dann zu deutlich gewesen wären und dass es notwendig gewesen wäre, Gott zu verbergen. Was für eine Antwort von Scharlatanen und Fanatikern! Wie, wenn Gott durch den Mund eines von ihm selbst inspirierten Propheten spricht,  soll er nicht deutlich sprechen? Wie, der Gott der Wahrheit soll sich nur durch Zweideutigkeiten erklären, die zur Lüge gehören? Dieser schwachsinnige Fanatiker, der vor mir sprach, zeigte die ganze Schändlichkeit seines Systems, indem er die angeblichen Prophezeiungen wiedergab, die die christliche Sekte durch absurde Interpretationen zu Gunsten von Jesus zu verfälschen versucht.

Die Christen suchen überall nach Prophezeiungen; sie treiben den Wahnsinn so weit, dass sie Jesus in einer Ekloge [46] von Vergil finden; sie wollten ihn in den Versen der Sibyllen finden; und als sie damit nicht fertig wurden, hatten sie die absurde Kühnheit, eine Prophezeiung in griechischen Akrostichen zu fälschen, die sogar gegen die Gesetze der Quantität sündigen: Ich führe sie Eurer Heiligen Majestät einmal vor Augen.

Der Jude griff daraufhin in seine schmutzige und fettige Tasche und holte die Vorhersage hervor, die der heilige Justinus und andere den Sibyllen zugeschrieben hatten: 

Mit fünf Broten und zwei Fischelein
Macht er in der Wüste fünftausend Menschen satt,
Die übrig gebliebenen Brocken sammelt er ein.
Und damit noch zwölf Körbe gefüllet hat. [47]

XVII. Der Jude kritisiert das Christentum

Mark Aurel zuckte mitleidig die Schultern, und der Jude fuhr fort: „Ich will nicht verhehlen, dass wir in unserer Notzeit auf einen Befreier gewartet haben. Damit trösten sich alle unglücklichen Nationen, besonders in Sklaverei geratene. Jeden, der uns Gutes erwies, nannten wir immer einen Messias, so wie die Bettler jeden, der ihnen ein Almosen gibt, domine, gnädiger Herr nennen; denn wir dürfen hier nicht die Stolzen spielen wollen: Non tanta superbia victis [48]. Wir können uns durchaus mit Bettlern vergleichen, ohne deshalb rot zu werden.

Messias bedeutet gesalbt. Die jüdischen Könige waren gesalbt; Jesus war nie gesalbt, und wir sehen nicht, warum seine Jünger ihn als gesalbt, als Messias bezeichnen. Nur einer ihrer Geschichtsschreiber gibt ihm den Titel ‚Messias‘, ‚Gesalbter‘, nämlich Johannes oder derjenige, der eines der fünfzig Evangelien unter dem Namen Johannes geschrieben hat [49].

Jesus war ein Mann aus dem gemeinen Volk, der den Propheten geben wollte wie viele andere, aber er hat nie behauptet, ein neues Gesetz aufstellen zu wollen. Diejenigen, die seine Lebensgeschichte unter den Namen Matthäus, Markus, Lukas und Johannes aufschrieben, sagen an hundert Stellen, er habe das Gesetz des Mose befolgt. Nach diesem Gesetz wurde er beschnitten, nach diesem Gesetz ging er in den Tempel. Er sagte: ‚Ich bin gekommen, das Gesetz zu erfüllen, das durch Mose gegeben ist; ihr habt das Gesetz und die Propheten. Das Gesetz des Mose darf nicht zerstört werden [50]‚.

Jesus war also wirklich nur einer unserer Juden, der das jüdische Gesetz predigte. In diesem jüdischen Gesetz steht, es solle ewig sein. ‚Fügt nicht ein einziges Wort hinzu und entfernt auch nicht ein einziges Wort [51].‘

Und mehr noch: Wir finden in diesem Gesetz die folgenden Worte: ‚Wenn unter euch ein Prophet aufsteht oder einer, der sagt, er habe im Traum eine Vision gehabt, und er sagt Zeichen und Wunder voraus, und wenn diese Zeichen und Wunder geschehen und er zu euch sagt: Lasst uns neuen Göttern folgen, dann soll dieser Prophet mit dem Tod bestraft werden, weil er euch von dem Weg abbringen will, den Gott, der Herr, euch geboten hat. Wenn dein Bruder oder der Sohn deiner Mutter oder dein Sohn oder deine Tochter oder deine Frau oder dein Freund, den du wie deine Seele liebst, zu euch sagt: Lasst uns gehen und anderen Göttern dienen usw., dann tötet ihn sofort, und das ganze Volk soll ihn nach euch erschlagen [52]‚.

All diesen Geboten zufolge, von denen ich nicht behaupten will, dass sie gar zu mild sind, hätte Jesus hingerichtet werden müssen, wenn er wirklich am mosaischen Gesetz etwas hätte ändern wollen. Aber wenn wir dem eigenen Zeugnis derer glauben, die zu seinen Gunsten geschrieben haben, werden wir sehen, dass er nur deshalb vor den Römern angeklagt wurde, weil er stets die Obrigkeit beleidigt und die öffentliche Ordnung gestört hatte. Sie sagen [53], dass er die Obrigkeit ständig als als Heuchler, Lügner, Verleumder, Ungerechte, Schlangenbrut, übertünchte Gräber bezeichnete.

Ich frage aber, welchen Römer man nicht bestrafen würde, wenn er jeden Tag zum Fuß des Kapitols ginge und die Senatoren als Scheintote, als Schlangenbrut bezeichnete. Man beschuldigte ihn Gott gelästert [54], Händlern im Vorhof des Tempels geschlagen zu haben dass er behauptete, den Tempel zu zerstören und ihn in drei Tagen wieder aufzubauen; alles Unsinn, der nur die Peitsche verdiente.

Es wird gesagt, dass er auch deshalb beschuldigt wurde, weil er sich selbst als Sohn Gottes bezeichnet habe; aber die unwissenden Christen, die seine Geschichte geschrieben haben, wissen nicht, dass bei uns ‚Sohn Gottes‘ ‚Guter Mensch‘ bedeutet, so wie ‚Sohn Belials‘ einen bösen Menschen bezeichnet. Eine Äquivokation hat dies alles bewirkt, und es ist eine reine Wortklauberei, der Jesus seine Göttlichkeit verdankt. So kommt es, dass unter den Christen derjenige, der sich den Titel eines Bischofs von Rom anmaßt, behauptet, er stehe über den anderen Bischöfen, weil Jesus eines Tages zu ihm gesagt haben soll: ‚Du bist Petrus [55], und auf diesen Stein werde ich meine Gemeinde bauen.‘

Gewiss dachte Jesus trotz der Doppeldeutigkeit jenes Ausdrucks niemals daran, sich im buchstäblichen Sinn für einen Sohn Gottes auszugeben, wie es Alexander, Bacchus, Perseus und Romulus getan hatten. Das Johannes zugeschriebene Evangelium sagt selbst ausdrücklich, dass ihn Philippus und Nathanael als den Sohn Josephs, des Zimmermanns aus dem Dorf Nazareth, ansahen [56]

Andere Christen haben unter den Namen Matthäus und Lukas lächerliche und widersprüchliche Genealogien von ihm zusammengestellt: Sie sagen, Mirja oder Maria sei von einem Geist schwanger geworden, und gleichzeitig bringen sie die Genealogie von Joseph, seinem mutmaßlichen Vater. Diese beiden Genealogien weichen jedoch sowohl in den Namen als auch in der Anzahl seiner angeblichen Vorfahren völlig voneinander ab: Es steht fest, Heilige Majestät, dass ein so gewaltiger und lächerlicher Schwindel für immer in dem Schlamm begraben worden wäre, in dem das Christentum geboren wurde, wenn die Christen in Alexandria nicht auf Platoniker gestoßen wären, denen sie einige Ideen entnommen haben, und wenn sie ihre Mysterien nicht durch diese vorherrschende Philosophie untermauert hätten. Das ist es, was sie bei denen erfolgreich gemacht hat, die sich mit großen Worten und philosophischen Hirngespinsten begnügen.

Mit irgendeiner Platonischen Dreieinigkeit, mit irgendwelchen emphatischen Mysterien wurde die unwissende, nach Neuem gierende Menge berührt und beeindruckt. Die Moral dieser Neulinge ist gewiss nicht besser als die Eure und unsere, ja sie ist sogar schädlich. Sie lassen diesen Jesus sagen [57]: ‚Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert [58]; Ihr sollt eure Freunde nicht zum Essen laden, wenn sie reich sind; wer nicht ein schönes Kleid zum Festmahl trägt, soll in den Kerker geworfen werden; ihr sollt die Vorübergehenden nötigen, zu eurem Festmahl hereinzukommen‘, und hundert empörende Dummheiten der gleichen Art mehr.

Da sich die christlichen Bücher auf jeder Seite widersprechen, lassen sie ihn auch sagen, man solle seinen Nächsten lieben, obwohl er an anderer Stelle sagt, man müsse Vater und Mutter hassen, um seiner würdig zu sein [59]; aber durch einen unfassbaren Irrtum finden wir in dem Johannes zugeschriebenen Evangelium seine eigenen Worte: ‚Ein neues Gebot gebe ich auf [60], nämlich dass ihr einander liebt.‘ Wie kann er diesem Gebot das Epitheton ’neu‘ geben, da dieses Gebot zu allen Religionen gehört und in der unsrigen ausdrücklich mit unendlich stärkeren Worten ausgesprochen wird: ‚Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst‘? [61]

Ihr seht also, großer Kaiser, wie die Christen in die vernünftigsten Dinge Betrug und Unvernunft einbauen. Sie verhüllen alle ihre Neuerungen mit den Schleiern des Geheimnisses und dem Anschein von Heiligkeit. Man sieht sie von Stadt zu Stadt, von Dorf zu Dorf laufen, Frauen und Mädchen aufhetzen und ihnen das Ende der Welt predigen. Sie sagen, dass die Welt untergehen wird. Ihr Jesus hat prophezeite, dass in seiner Generation [62], die Erde zerstört werden würde und dass er in einer Wolke mit großer Macht und Herrlichkeit kommen würde. Der Apostel Saulus prophezeite es ebenso; er schrieb den Fanatikern in Thessaloniki [63], dass sie mit ihm in der Luft Jesus entgegengehen würden.

Aber die Welt gibt es noch trotzdem erwarten die Christen noch immer ihr baldiges Ende; sie sehen schon einen neuen Himmel und eine neue Erde entstehen; zwei Narren, Justin und Tertullian genannt, haben schon vierzig Nächte lang [64] mit ihren eigenen Augen das neue Jerusalem gesehen, dessen Mauern, wie sie sagen, einen Umfang von fünfhundert Meilen haben, und in dem die Christen tausend Jahre lang wohnen und den köstlichen Wein eines Weinstocks trinken sollen, von dem jede Rebe zehntausend Rispen und jede Rispe zehntausend Trauben tragen wird.

Eure Majestät wundere sich nicht, wenn sie Rom und euer Reich hassen, da sie nur auf ihr neues Jerusalem setzen. Sie machen es sich zur Pflicht, niemals öffentlich über eure Siege zu jubeln; sie krönen ihre Säulenhallen nicht mit Blumen, sie sagen, das sei Götzendienst. Wir hingegen lassen es nie daran fehlen. Ihr habt sogar geruht, Geschenke von uns anzunehmen; wir sind treue Besiegte, sie aber sind aufrührerische Untertanen. Richtet nun selbst zwischen uns und ihnen“.

Der Kaiser wandte sich an den Senator und sagte: „Ich halte sie für gleichermaßen närrisch; aber das Reich hat von den Juden nichts zu befürchten, wohl aber alles von den Christen.“ Mit dieser Vermutung irrte sich Mark Aurel keineswegs.

XVIII. Konstantin und das Konzil von Nicäa

Es ist hinlänglich bekannt, dass die Christen, nachdem sie fast dreihundert Jahre lang durch Handel enorm reich geworden waren, Constantius Chlorus und Constantius, dem Sohn dieses Constantius und seiner Konkubine Helena, Geld liehen. Frömmigkeit war sicherlich nicht der Grund, warum ein Monster wie Konstantin, der mit dem Blut seines Schwiegervaters, seines Schwagers, seines Neffen, seines Sohnes und seiner Frau befleckt war, das Christentum annahm. Das Reich steuerte von da an sichtbar auf seinen Untergang zu.

Konstantin begann zunächst damit, allen Religionen Freiheit zu gewähren, und sofort wurde diese Freiheit von den Christen auf bemerkenswerte Weise missbraucht. Jeder, der ein wenig gelesen hat, weiß, dass sie den jungen Candidius, den Sohn des Kaisers Galerius, und die Hoffnung der Römer ermordeten; dass sie den Sohn des Kaisers Maximin, fast noch in der Wiege, und seine siebenjährige Tochter abschlachteten; dass sie ihre Mutter im Orontes ertränkten; dass sie die Kaiserin Valeria, die Witwe des Galerius, von Antiochia bis Thessaloniki verfolgten; dass sie ihren Leib in Stücke hackten und ihre blutigen Glieder ins Meer warfen.

So bereiteten sich diese sanftmütigen Christen auf das große Konzil von Nizäa vor; durch diese heiligen Taten brachten sie den Heiligen Geist dazu, inmitten ihrer Streitigkeiten zu entscheiden, dass Jesus vom Wesen her Gott war aber nicht wesensgleich, was für das römische Reich sehr wichtig war. Im letzten Teil der Akten dieses Konzils der Zwietracht lesen wir von dem Wunder, das der Heilige Geist bewirkte, indem er die kanonischen Schriften von den Büchern, die Apokryphen genannt werden, unterschied. Man legte sie alle auf einen Tisch, und die apokryphischen fielen samt und sonders auf den Boden.

Ich wünschte, Gott hätte nur die Bücher auf dem Tisch gelassen, die Frieden, allgemeine Nächstenliebe, Toleranz und Abneigung gegen all die absurden und grausamen Streitigkeiten empfehlen, die den Osten und den Westen verwüstet haben. Aber solche Bücher gab es nicht.

XIX. Die Kirche: blutig und verheerend

Der Geist der Zwietracht, der Unentschlossenheit, der Spaltung und des Streits hatte an der Wiege der Kirche Pate gestanden. Paulus, jener Verfolger der ersten Christen, den sein Zorn über seinen Lehrer Gamaliel selbst zum Christen gemacht hatte, dieser ungestüme Paulus, Stephans Mörder, ließ seinen rücksichtslosen Charakter auch gegen Simon Barjonas ausbrechen. Unmittelbar nach diesem Streit spalteten sich die Jünger Jesu, die sich noch nicht Christen nannten, in zwei Parteien, von denen die eine die Armen und die andere die Nazarener genannt wurde. Die Armen, d. h. die Ebioniten, waren Halbjuden wie ihre Gegner und wollten das mosaische Gesetz beibehalten; die man Nazarener, nach Nazareth, Jesus Herkunftsort, nannte, wollten nichts vom Alten Testament wissen und betrachteten es nur als Vorläufer des Neuen, als eine fortlaufende Prophezeiung im Hinblick auf Jesus, als ein Mysterium, das ein neues Mysterium ankündigte; diese Lehre war viel wunderbarer als die andere und gewann am Ende die Oberhand; und die Ebioniten verschmolzen mit den Nazarenern.

Unter diesen Christen entstand in jeder syrischen, ägyptischen, griechischen und römischen Stadt eine eigene Sekte, die sich von den anderen unterschied. Diese Spaltung hielt bis Konstantin an, und zur Zeit des großen Konzils von Nizäa wurden alle diese kleinen Parteien von den beiden großen Sekten der Omoiousianer und Omousianer unterdrückt, wobei die ersten für Arius und Eusebius, die zweiten für Alexander und Athanasius standen; es wie im Prozess um des Esels Schattens [65]: Niemand verstand etwas davon. Selbst Konstantin hatte die Lächerlichkeit des Streits gespürt und beiden Parteien geschrieben, „dass es eine Schande sei, sich wegen eines so unbedeutenden Themas zu streiten.“ Je absurder der Streit, desto blutiger wurde er; ein Diphthong mehr oder weniger verwüstete das Römische Reich dreihundert Jahre lang.

XX. Das tyrannische Christentum

Seit dem 4. Jahrhundert begann sich die Kirche des Ostens von der Kirche des Westens zu trennen. 342 versammelten sich die Bischöfe des Ostens in Philippopoli und exkommunizierten den Bischof von Rom, Julius. Und der Hass, der seither unversöhnlich zwischen den christlichen Priestern, die Griechisch sprechen, und den christlichen Priestern, die Latein sprechen, war, brach aus. Überall stellt man Konzil gegen Konzil, und der Heilige Geist, der sie inspirierte, vermochte nicht zu verhindern, dass sich die Väter manchmal mit Stöcken bekämpften. Das Blut floss unter den Kindern Konstantins, die wie ihr Vater Ungeheuer der Grausamkeit waren, auf allen Seiten. Kaiser Julian, der Philosoph, konnte der Wut der Christen keinen Einhalt gebieten. Man sollte sich immer den 52. Brief dieses großen Kaisers vor Augen halten.

„Unter meinem Vorgänger wurden viele Christen vertrieben, eingekerkert und verfolgt; eine große Menge der sogenannten Häretiker wurde in Samosata, Paphlagonien, Bithynien, Galatien und vielen anderen Provinzen ermordet; Städte wurden geplündert und verwüstet. Unter meiner Herrschaft wurden die Verbannten zurückgerufen und die beschlagnahmten Güter zurückgegeben. Dennoch ist ihre Wut so ausgeartet, dass sie sich darüber beschweren, weil es ihnen nicht mehr erlaubt ist, grausam zu sein und sich gegenseitig zu tyrannisieren.“

XXI. Das grausame Christentum und Theodosius

Man weiß zur Genüge, dass der unbarmherzige Theodosius, ein Emporkömmling, der es vom spanischen Soldat zum Kaiser gebracht hatte, grausam wie Sylla und verschlagen wie Tiberius, dem Volk von Thessaloniki, der Stadt, in der er die Taufe empfangen hatte, zunächst vorspielte, ihm zu vergeben, dass es im Jahr 390 bei den Zirkusspielen einen Aufruhr veranstaltet hatte. Doch sechs Monate nachdem er versprochen hatte, alles zu vergessen, lud er das Volk zu neuen Spielen ein, und sobald der Zirkus voll war, ließ er ihn von Soldaten umstellen und befahl, alle Zuschauer abzuschlachten, ohne einem einzigen zu vergeben. Es ist kaum zu glauben, dass es jemals auf der Erde eine so abscheuliche Tat gegeben hat. Dieser kaltblütige Horror, der nur allzu wahr ist, scheint nicht in der menschlichen Natur zu liegen, aber was noch mehr gegen die Natur verstößt, ist, dass die Soldaten gehorchten und dass diese Ungeheuer für einen geringen Sold fünfzehntausend wehrlosen Menschen, Greisen, Frauen und Kindern, ermordeten.

Um Theodosius zu entschuldigen, sagen einige Autoren, es seien nur siebentausend Menschen niedergemetzelt worden; aber es ist ebenso statthaft, zwanzigtausend aufzuzählen, wie die Zahl auf sieben zu reduzieren. Es wäre besser gewesen, wenn diese Soldaten Kaiser Theodosius getötet hätten, wie sie so viele andere getötet haben, als fünfzehntausend ihrer eigenen Landsleute zu ermorden. Das römische Volk hatte den Spanier nicht gewählt, damit er es nach seinem Belieben abschlachtete. Das ganze Reich war empört über ihn und seinen Minister Rufinus, der das Hauptwerkzeug dieses Gemetzels war. Er befürchtete, dass ein neuer Konkurrent diese Gelegenheit nutzen würde, um ihm die Krone zu entreißen; so reiste er rasch nach Italien, wo das Entsetzen über sein Verbrechen alle gegen ihn aufbrachte; und er verzichtete, um das Volk zu besänftigen, eine Weile darauf, in die Kirche in Mailand zu gehen. Was für eine allerliebste Wiedergutmachung! Sühnt man das Blut seiner Untertanen, indem man nicht zur Messe geht? Alle Kirchengeschichten, alle von der Kirche autorisierten Erklärungen feiern die Buße des Theodosius, und alle Lehrer katholischer Prinzen stellen ihren Schülern noch heute die Kaiser Theodosius und Konstantin als Vorbilder vor. Zwei der bluttrünstigsten Tyrannen, die den Thron der Titus, Trajan, Mark Aurel, Alexander Severus und des Philosophen Julian besudelt haben, der stets kämpfte und vergeben konnte.

XXII. Ketzerverfolgung

Unter der Herrschaft dieses Theodosius bewilligte im Jahr 383 ein anderer Tyrann namens Maximus den spanischen Bischöfen, um sie auf seine Seite zu ziehen, das Blut des Priscillianus und seiner Anhänger, die von diesen als Ketzer verfolgt wurden. Was die Ketzerei dieser armen Leute war, wissen wir nur aus den Anschuldigungen, die ihre Feinde gegen sie erhoben. Sie waren nicht der Meinung der anderen Bischöfe, und allein deswegen gingen zwei von den anderen delegierte Prälaten nach Trier, wo Kaiser Maximus weilte, und ließen Priscillian und sieben Priester in ihrer Gegenwart foltern und durch die Hand der Henker hinrichten.

Seit dieser Zeit war es in der christlichen Kirche ein Grundgesetz, dass das schreckliche Verbrechen, nicht die Meinung der mächtigsten Bischöfe zu teilen, mit dem Tod bestraft werden müsse; und da die Ketzerei als das größte aller Verbrechen angesehen wurde, übergab die Kirche, die Blut verabscheut, bald alle Schuldigen den Flammen. Der Grund dafür ist offensichtlich: Es ist gewiss, dass ein Mensch, der nicht mit dem Bischof von Rom übereinstimmt, in der anderen Welt auf ewig verbrannt wird; Gott ist gerecht, die Kirche Gottes muss gerecht sein wie er; sie muss also in dieser Welt die Körper verbrennen, die Gott dann in der anderen Welt verbrennt.

XXIII. Die Ermordung der Philosophin Hypatia

Noch unter der Herrschaft von Theodosius, im Jahre 415, wurden fünfhundert von göttlichem Eifer erfüllte Mönche vom heiligen Cyrillus dazu aufgefordert, in Alexandria jeden zu ermorden, der nicht an unseren Herrn Jesus glaubte. Sie wiegelten das Volk auf und verletzten den Statthalter mit Steinen, weil er so unverschämt war, ihren heiligen Zorn dämpfen zu wollen. Zu jener Zeit lebte in Alexandria ein Mädchen namens Hypatia, das als Wunder der Natur angesehen wurde. Ihr Vater, der Philosoph Theon, hatte sie in den Wissenschaften unterrichtet. Sie war achtundzwanzig Jahre alt als sie diese lehrte. Die Historiker, selbst die christlichen, berichten, dass ihre seltenen Talente durch ihre außergewöhnliche Schönheit, verbunden mit der größten Bescheidenheit, noch verstärkt wurden. Aber sie gehörte der alten ägyptischen Religion an und Orestes, der Gouverneur von Alexandria, beschützte sie; das war schon genug. Der Heilige Cyrillus schickte einen seiner Subdiakone namens Petrus an der Spitze der Mönche und anderer Aufrührer zu Hypatias Haus; sie brachen die Türen auf, suchten sie in jedem Winkel, in dem sie sich verstecken konnte, und als sie sie nicht fanden, steckten sie das Haus in Brand: Sie entkommt, wird ergriffen, in eine Kirche namens Caesarea geschleppt und nackt ausgezogen. Die Reize ihres Körpers rühren einige dieser Tiger; doch die anderen sehen, dass sie nicht an Jesus Christus glaubt, steinigen sie zu Tode, reißen sie in Stücke und schleifen ihren Leichnam in der Stadt umher.

Welch ein Kontrast bietet sich dem aufmerksamen Leser hier! Diese Hypatia hatte einen reichen Mann namens Synesius  in Geometrie und platonischer Philosophie unterrichtet, der noch nicht getauft war. Die ägyptischen Bischöfe wollten Synesius, den Reichen, unbedingt als Kollegen haben und ließen ihm das Bistum Ptolemaida verleihen.

Er erklärte ihnen, dass er sich, wenn er Bischof wäre, nie von seiner Frau trennen würde, obwohl den Prälaten die Trennung seit einiger Zeit befohlen worden war; dass er nicht auf das Vergnügen der Jagd verzichten wolle, das man ebenfalls verboten hatte; dass er nie Mysterien lehren würde, die den gesunden Menschenverstand beleidigen würden; er könne nicht glauben, dass die Seele erst nach dem Körper geschaffen worden sei; die Auferstehung und viele andere Lehren der Christen seien für ihn Hirngespinste; er werde sich nicht öffentlich dagegen aussprechen, aber er werde sie niemals lehren; wenn man ihn um diesen Preis zum Bischof machen wolle, sei er sich noch nicht einmal sicher, ob er einwilligen würde.

Die Bischöfe blieben hartnäckig: Er wurde getauft, zum Diakon, Priester und Bischof gemacht; er brachte seine Tugend mit seinem Amt in Einklang; dies ist eine der am besten belegten Tatsachen der Kirchengeschichte.

So wurde also ein Platoniker, ein Deist, ein Feind der christlichen Dogmen mit der Zustimmung aller seiner Kollegen Bischof, und er war der beste aller Bischöfe, während Hypatia auf Befehl oder zumindest mit dem Einverständnis eines Bischofs von Alexandria, der als Heiliger geehrt wurde, in der Kirche frommerweise ermordet wurde. Leser, denke nach und urteile; und ihr, Bischöfe, versucht, Synesius nachzuahmen.

XXIV. Der blutige Streit um Bilder

Wenn man nur ein wenig in der Geschichte liest, wird man feststellen, dass es keinen einzigen Tag gibt, an dem die christlichen Dogmen nicht zu Blutvergießen geführt haben, sei es in Afrika, Kleinasien, Syrien, Griechenland oder in den anderen Provinzen des Kaiserreichs. Und die Christen hörten in Afrika und Asien erst dann auf, sich gegenseitig umzubringen, als die Muslime, ihre Sieger, sie entwaffneten und ihrer Raserei Einhalt geboten.

Doch in Konstantinopel und in den übrigen christlichen Staaten gewann die alte Wüterei neue Kraft. Jederman weiß, was der Streit um die Bilderverehrung das Römische Reich gekostet hat. Wer ist nicht entrüstet, wessen Herz empört sich nicht, wenn man zwei Jahrhunderte lang unzählige Mordtaten geschehen sieht, bloß um einen Kult für die Bilder der heiligen Potamiana und der heiligen Ursula zu etablieren? Wer weiß nicht, dass die Christen in den ersten drei Jahrhunderten es sich zur Pflicht machten, gar keine Bilder zu besitzen? Hätte es damals ein Christ gewagt, ein Bild oder eine Statue in einer Kirche aufzustellen, wäre er wie ein Götzendiener aus der Gemeinde vertrieben worden. Diejenigen, die an diese frühen Zeiten erinnern wollten, wurden lange Zeit als schändliche Ketzer angesehen: Sie wurden Ikonoklasten genannt, und über diese blutigen Streitereien haben die Kaiser von Konstantinopel den Occident verloren.

XXV. Die Kirche: Eine Verbrecherorganisation

Wir wollen hier nicht wiederholen, auf welchen Stufen voll Blut die Bischöfe von Rom aufgestiegen sind, wie sie es geschafft haben, Könige dazu zu bringen, sich ihnen vor die Füße zu werfen, bis hin zu der lächerlichen Vorstellung, unfehlbar zu sein. Wir wollen nicht wiederholen, wie sie alle Throne des Abendlandes verschenkten und allen Völkern das Geld aus der Tasche zogen; auch nicht, wie in siebenundzwanzig blutigen Schismen Päpste und Gegenpäpste sich um uns als ihre Beute stritten. Diese Zeiten des Schreckens und der Schmach sind nur allzu bekannt. Es wurde schon oft genug gesagt, dass die Geschichte der Kirche die Geschichte der Torheiten und Verbrechen ist.

XXVI. Dass man die Greueltaten nicht vergessen soll

„Omnia,jam vulgata“.

              Virgil, Georg, III, v. 4.

Alles sank schon verbraucht, Vergil, Vom Landbau

Jeder sollte am Kopfende seines Bettes eine Tafel haben, auf der in großen Buchstaben steht: „Blutige Kreuzzüge gegen die Einwohner Preußens und des Languedoc; Massaker in Merindol; Blutbäder in Deutschland und Frankreich wegen der Reformation; Bartholomäus-Blutbad; Blutbäder in Irland; Massaker in den Tälern Savoyens; Justiz-Blutbäder; Inquisitions-Blutbäder; unzählige Einkerkerungen und Verbannungen wegen Streitigkeiten über des Esels Schatten“.

Man würde jeden Morgen mit Abscheu auf dieses Verzeichnis religiöser Verbrechen blicken und beten: „Mein Gott, befreie uns vom Fanatismus.“

XXVII. Vom Unheil der Dogmen

Um die Gnade göttlicher Barmherzigkeit zu erlangen, ist es nötig, unter allen Menschen, die Redlichkeit und einige Aufklärung besitzen, die absurden und verhängnisvollen Dogmen zu zerstören, die so viele Grausamkeiten hervorgebracht haben. Ja, unter diesen Dogmen gibt es womöglich solche, die Gott ebenso beleidigen wie sie die Menschheit verderben.

Um vernünftig darüber zu urteilen, versetze sich jeder, der dem gesunden Menschenverstand nicht abgeschworen hat, nur in die Lage der Theologen, die diese Dogmen bestritten, noch bevor sie angenommen waren; denn es gibt nicht eine einzige theologische Meinung, die nicht lange Zeit ihre Gegner hatte und noch ha. Wägen wir die Gründe dieser Gegner ab und sehen wir, wie das, was man früher für eine Gotteslästerung hielt, zu einem Glaubensartikel geworden ist. Wie, der Heilige Geist waltete gestern nicht, und heute tut er es? Wie? Vorgestern hatte Jesus nur eine Natur und einen Willen, und heute hat er zwei. Wie? Das Abendmahl war eine Gedenkfeier, und heute….? Fahren wir nicht fort, damit wir nicht mehrere Provinzen Europas mit unseren Worten erschrecken. Ach, meine Freunde, was macht es schon, ob all diese Mysterien wahr oder falsch sind? Was haben sie mit dem Menschengeschlecht, mit der Tugend zu tun? Ist man in Rom ein ehrlicherer Mensch als in Kopenhagen? Erweist man den Menschen mehr Gutes, wenn man glaubt, man esse Gott leibhaftig, als wenn man denkt, ihn kraft seines Glaubens zu essen?

XXVIII. Dogma und Tugend: Ein Gegensatz

Wir bitten Dich, aufmerksamer Leser, weiser und guter Mensch, den unendlichen Unterschied zwischen Dogmen und Tugend zu bedenken. Es ist erwiesen, dass, wenn ein Dogma nicht an jedem Ort und zu jeder Zeit notwendigerweise gilt, es weder zu irgendeiner Zeit noch an irgendeinem Ort notwendig ist. Nun wurden die Dogmen, die lehren, dass der Geist vom Vater und Sohn ausgeht, von der lateinischen Kirche erst im achten Jahrhundert und niemals von der griechischen angenommen. Jesus wurde erst im Jahr 325 für konsubstantiell mit Gott erklärt; die Höllenfahrt Jesu stammt erst aus dem fünften Jahrhundert; erst im sechsten Jahrhundert hat man entschieden, dass Jesus zwei Naturen, einen zweifachen Willen und eine Person gehabt habe; die Transsubstantiation nahm man sogar erst im zwölften Jahrhundert an.

Jede Kirche hat auch heute noch unterschiedliche Meinungen zu all diesen grundlegenden metaphysischen Dogmen: Sie sind also nicht absolut notwendig für den Menschen. Wo ist das Ungeheuer, das es wagt, kaltblütig zu sagen, dass man auf ewig verbrannt wird, wenn man in Moskau auf eine Weise denkt, die der in Rom entgegengesetzt ist? Welcher Narr würde es wagen zu behaupten, dass diejenigen, die unsere Dogmen vor 1600 Jahren nicht kannten, auf ewig bestraft werden, weil sie früher geboren wurden als wir?

Mit der Anbetung eines Gottes und der Erfüllung unserer Pflichten verhält es sich ganz anders. Diese Dinge sind überall und zu jeder Zeit notwendig. Zwischen dem Dogma und der Tugend liegt also ein unendlicher Unterschied.

Einen Gott, mit Herz und Mund anbeten und alle seine Pflichten erfüllen, das macht das Universum zu einem Tempel und aus allen Menschen Brüder. Dogmen machen die Welt zu einer Höhle der Zankerei und zu einem Schauplatz von Bluttaten. Dogmen wurden nur von Fanatikern und Betrügern erfunden: Die Moral kommt von Gott.

XXIX. Kirchengold und Wohltätigkeit

Die unermesslichen Güter, die die Kirche der menschlichen Gesellschaft geraubt hat, sind die Ernte des Dogmenstreits; jeder Glaubensartikel hat Schätze eingebracht, und um sie zu bewahren, wurde Blut vergossen. Das Fegefeuer allein hat hunderttausend Tote gefordert; man zeige mir in der ganzen Geschichte der Welt einen einzigen Streit über dieses Glaubensbekenntnis: „Ich bete Gott an, und ich muss wohltätig sein.

XXX. Zurück zur Urreligion

Jedermann spürt die Kraft dieser Wahrheiten. Man muss sie also laut verkünden; und die Menschen, so weit wie möglich zur Urreligion zurückführen, zu der Religion, von der die Christen selbst behaupten, dass sie die Religion der Menschheit zur Zeit ihres Chaldäers oder Inders Abraham war; zur Zeit ihres angeblichen Noahs, von dem außer den Juden keine Nation je etwas gehört hat; zur Zeit ihres noch unbekannteren angeblichen Henochs. Wenn die Religion in diesen Zeiten die wahre war, dann ist sie es auch heute. Gott kann sich nicht ändern; das Gegenteil ist Blasphemie.

XXXI. Die christliche Religion ist ein Betrug

Es ist offensichtlich, dass die christliche Religion ein Netz ist, mit dem Betrüger über siebzehn Jahrhunderte lang die Dummen eingefangen, und ein Dolch, mit dem Fanatiker über vierzehn Jahrhunderte lang ihren Brüdern die Kehle durchgeschnitten haben.

XXXII. Den Fanatismus zerschlagen – heißt Frieden herstellen

Der einzige Weg, den Menschen Frieden wiederzugeben, besteht also darin, alle Dogmen, die sie trennen, zu zerstören und die Wahrheit, die sie vereint, wiederherzustellen; das ist also in der Tat der ewige Frieden. Dieser Friede ist kein Hirngespinst; er wird von allen ehrlichen Menschen von China bis Quebec gehalten; zwanzig Fürsten Europas bekennen sich öffentlich zu ihm.

Nur Dummköpfe bilden sich ein, an Dogmen zu glauben; diese Dummköpfe sind zwar in großer Zahl vorhanden, aber die wenigen, die denken, werden mit der Zeit die vielen anführen. Der Götze fällt, und die allgemeine Toleranz erhebt sich täglich mehr auf seinen Trümmern; die Verfolger sind dem Menschengeschlecht ein Gräuel.

Jeder rechtschaffene Mensch sollte daher, jeder nach seinen Kräften, daran arbeiten, den Fanatismus zu zerschlagen und den Frieden wiederherzustellen, den dieses Ungeheuer aus den Königreichen, den Familien und den Herzen der unglücklichen Sterblichen verbannt hatte. Jeder Familienvater ermahne seine Kinder, nur den Gesetzen zu gehorchen und nur Gott zu verehren.


Anmerkungen

[1] Bibliographischer Hinweis: Die erste Ausgabe von De la Paix perpétuelle, par le docteur Goodheart erschien zuerst 1769 in Genf und enthält auch die Instruktionen des Oberhaupts der Kapuziner von Ragusa an Bruder Pediculoso, der ins Heilige Land aufbricht (pp 56-74).

Eine weitere Ausgabe erschien 1770 (L’Evangile du Jour), sie enthält außer den Instruktionen auch noch Tout en Dieu (Alles über Gott), und Dieu et les Hommes (Gott und die Menschen). 

Auf Deutsch übersetzte den Text erstmals W.Ch.S.Mylius 1788 und fügte ihn in Band 13 (S. 445-514) seiner 29 bändigen Werkausgabe (Voltaire’s sämmtliche Schriften, Berlin:Wever,1786-1794) ein. Seither wurde der Text nicht mehr auf Deutsch publiziert.

De la Paix perpétuelle kam durch Dekret des vatikanischen Gerichtshofs vom 3. Dezember 1770 auf den Index der verbotenen Bücher (Index librorum prohibitorum, Modaetiae, 1850, S. 135).

[2] Der französische Theologe und Diplomat Charles-Irénée Castel, Abbé de Saint-Pierre (1658–1743), fordert (Projet pour rendre la paix perpétuelle en Europe (1712 und 1717)) als Basis für eine europäische Friedensordnung die Gründung eines internationalen Zusammenschlusses der Staaten Europas, um Konflikte zu verhindern und diplomatische Lösungen für Streitigkeiten zu erarbeiten. J.J. Rousseau bezog sich positiv auf ihn, veröffentlichte einen Auszug aus dem Werk und verfasste eine eigene Stellungnahme, die Gedanken des Abbé erweiternd. Siehe dazu unsere Studie Der ewige Frieden: Eine Debatte im 18. Jahrhundert – ihre Illusionen, ihre Aktualität.

[3] Marco Antonio Bragadino (1523-1571), ein venezianischer Offizier, verteidigte die letzte zypriotische Festung Famagusta  gegen die osmanischen Truppen unter Mustafa Pasha. Nach fast einjährigem Widerstand musste Bragadino kapitulieren. Mustapha Pascha ließ Bragadin foltern und bei lebendigem Leib häuten. -> Artikel in Wikipedia

Diese Begebenheit findet sich bereits in Voltaires Essay sur les moeurs (1753) Kap. 159 und 160 [dt. in:  Geschichte der Völker, übers. v. K.A.F.Schnitzer 1827 Bd. 12, S.110 ff

[4] Philipp II. (1165-1223), König von Frankreich, siegte in der Schlacht von Bouvines (1214). Ferrand von Portugal, Graf von Flandern und eigentlich ein Vasall Philipps, hatte die Seiten gewechselt und sich mit England und dem Deutschen Reich verbündet, wurde gefangen genommen, im Festungsturm des Louvre inhaftiert und erst 1227 wieder freigelassen.

[5] Leopold V. von Österreich (1157-1194) und Richard Löwenherz (1157-1199), König von England, waren Teilnehmer des Dritten Kreuzzugs (1189–1192), bei dem sie Jerusalem von den Muslimen zurückerobern wollten. In dessen Verlauf kam es zum Streit um die Oberherrschaft im „Heiligen Land“. Auf dem Rückweg ließ Leopold Richard am 21. Dezember 1192 im Wien gefangennehmen. Erst nach Zahlung eines Lösegeldes von 150.000 Silbermark, was etwa dem jährlichen Einkommen der englischen Krone entsprach, wurde Richard 1194 freigelassen.
Die Begebenheit findet sich bereits in Voltaires Essay sur les moeurs (1753) Kap. 49, [dt. in: Versuch einer allgemeinen Weltgeschichte, übersetzt von K.F.Romanus (1760-1762), dort Kapitel 39 ]

[6] Konradin von Hohenstaufen (1252–1268) erhob Anspruch auf das Königreich Sizilien, zu dem auch Neapel gehörte, was ihm die Gegnerschaft Papstes Clemens IV. eintrug. 1268, in der Schlacht bei Tagliacozzo, wurde Konradin von Karl von Anjou (1226–1285), einem Verbündeten des Papstes, gefangen genommen, zum Tode verurteilt und am 29. Oktober 1268 auf dem Marktplatz in Neapel öffentlich enthauptet.

Diese Begebenheit findet sich bereits in Voltaires Essay sur les moeurs (1753) Kap. 61 [dt. in: Versuch einer allgemeinen Weltgeschichte, übersetzt von K.F.Romanus (1760-1762), dort Kapitel 49]

[7] Louis XI. (1423-1483), König von Frankreich, baute regelrechte Folterverliese, oft mit Metallkäfigen versehen, in die er seine Gegner einsperren ließ. Im Pariser Stadtzentrum ließ er einen monumentalen Stierkopf aufstellen, mit dem er in Anlehnung an die römischen Stieropfer (als „Taurobolus“ bezeichnet), seine Macht demonstrierte. Der mächtige Adlige Jean V. d‘ Armagnac (1420-1473) war einer seiner ernstzunehmenden Gegner, also wollte er ihn beseitigen. Es kam zu bewaffneten Auseinandersetzungen. Jean V. verschanzte sich 1473 mit seinen Truppen in der Stadt Lectoure. Ludwig XI. entsandte Kardinal Jean Jouffroy zur Belagerung der Stadt. Jean V. kapitulierte, ließ die Stadttore öffnen, es kam zu einem Massaker, dem auch Jean V. zum Opfer fiel.

[8] Die Schrecken der roten und der weißen Rose beziehen sich auf die Kämpfe und das Leid während der Rosenkriege (engl. Wars of the Roses), die von 1455 bis 1487 England verheerten. Dieser dynastische Konflikt wurde zwischen den Adelshäusern Lancaster und York ausgetragen, die sich durch einer rote Rose (Lancaster), bzw.eine weißen Rose (York) zu erkennen gaben. Zahlreiche Gräueltaten, Schlachten und Verwüstungen weiter Landstriche Englands prägten diese Zeit.

Diese Geschehnisse finden sich bereits in Voltaires Essay sur les moeurs (1753) Kap. 115 [dt. in: Versuch einer allgemeinen Weltgeschichte, übersetzt von K.F.Romanus (1760-1762), dort Kapitel 94]

[9] In den Auseinandersetzungen um die Vorherrschaft in Italien wurde in der Schlacht bei Padua 1525 der französische König François I. von  Karl V., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches geschlagen und gefangen genommen. François I. entsandte César Frégose und Antoine de Rincon als Botschafter, um über die Bedingungen seiner Freilassung zu verhandeln. Karl V. ließ die beiden Gesandten hinrichten.

Diese Geschehnisse finden sich auch in Voltaires Annales de l’Empire vol. 13 p. 481

[10] Cesare Borgia (1475-1507), unehelicher Sohn des späteren Papstes Alexander VI., Herzog von Valentinois, Kardinal und Erzbischof von Valencia, galt als besonders gewissenlos, weil er, um seine politischen Gegner zu beseitigen, auf Gift, Stilett und die Hand des Henkers zurückgriff.

Diese Begebenheit findet sich bereits in Voltaires Essay sur les moeurs (1753) Kap. 111 [dt. in: Versuch einer allgemeinen Weltgeschichte, übersetzt von K.F.Romanus (1760-1762), dort Kapitel 89]

[11] Pierre-Ange Goudar (1720-1791) schlug in seinem Werk La Paix en Europe  (1757) vor, in Europa einen zwanzigjährigen Frieden einzuhalten, damit sich die Nationen erholen und entwickeln könnten.

[12] Im Jahr 1685 hob Louis XIV das Edikt von Nantes auf, das den Protestanten Frankreichs (den Hugenotten) gewisse Rechte einräumte. Die Auflösung löste eine starke Emigrationswelle aus. Die verbliebenen Protestanten überzog man mit Repressalien.

[13] Die Religion der Manichäer (nach Mani, ihrem Stifter benannt), verstand das Weltgeschehen als Kampf zwischen dem Guten und dem Bösen, zwischen Licht und Dunkel. Von der byzantinischen Kirche wurde sie als Konkurrenzreligion mit Hilfe des Staates bekämpft. Kaiser Justinian, dessen Ehefrau Theodora war, erließ 567 ein Gesetz, das den Manichäismus als staatsfeindlich und schädlich für die öffentliche Ordnung verdammte.

[14] In der Nacht vom 23. auf den 24. August 1572, der Nacht zum Heiligen Bartholomäus,  ließ Katharina von Medici tausende führende Hugenotten in Paris abschlachten.

[15] Im heiligen Krieg in Irland erhoben sich 1641 die katholischen Iren gegen die protestantischen englischen Besatzer. England schlug den Aufstand militärisch nieder. 1649 ließ Oliver Cromwell, der englische General, die Stadt Drogheda belagern und nach ihrer Einnahme tausende der katholischen Einwohner niedermetzeln.

[16] Simon de Montfort führte die papsttreue Armee an, um den Widerstand der protestantischen Katharer in Südfrankreich zu brechen. Als die Stadt Bezier 1209 eingenommen wurde, fragte er den Abt von Cîteaux, wie er Katharer von Katholiken unterscheiden könne, der ihm antwortete: „Tötet sie alle, Gott wird die Seinen erkennen.“ 20.000 Einwohner wurden abgeschlachtet.

[17] Siehe dazu den Artikel Apis im Philosophisches Taschenwörterbuch.

[18] Der Berg Moriah  wird im Alten Testament als der Ort erwähnt, an dem Abraham seinen Sohn Isaak opferte (Genesis 22,2) und später auch als der Ort, an dem der Tempel von Jerusalem gebaut wurde (2. Chronik 3,1).

[19] Der Berg Garizim war der heiligste Ort für die Samariter, er liegt bei Nablus (früher Sichem), siehe dazu Johannesevangelium 4,20.

[20] François-Michel Le Tellier de Louvois (1639–1691), Kriegsminister unter Louis XIV., wurde eine Liebesbeziehung zu der einflußreichen Kunstmäzenin Marie-Françoise du Fresnoy (1641-1729) nachgesagt.

[21] Die Tyrer waren ein Volk in Phönizien, das zwischen 1500 und 300 v.u.Z. an der Küste des heutigen Libanon lebte und nach ihrem Zentrum, der Stadt Tyros benannt wurden. Sie bauten eine mächtige Handelsflotte auf.  s. Wikipedia zu Tyros.

[22] Das Konzil von Dordrecht (1618-1619) war eine Veranstaltung der Calvinisten. Vordergründig ging es um die Frage, ob der Mensch einen freien Willen hat, oder ob sein Schicksal göttlicherseits vorherbestimmt ist. Über diesen Streit ließ der Statthalter Wilhelm von Oranien  seinen Widersacher Johan van Oldenbarnevelt verhaften und am 12. Mai 1619 hinrichten (Wikipedia zu Oldenbarnevelt). Mit ihm wurde auch der berühmte Rechtsgelehrte Hugo Grotius (De Jure Belli et Pacis) festgenommen und zu lebenslanger Haft verurteilt (Wikipedia zu Grotius).

[23] Ab 1614 wurde das Christentum in Japan verboten. Um ihre Handelsvorteile nicht zu verlieren, hielten die holländischen Kaufleute keinen Gottesdienst mehr ab und enthielten sich missionarischer Aktivitäten.

[24] Voltaire könnte sich auf Diogenes Laertios (3. Jdt.) und sein Werk Über Leben und Lehren berühmter Philosophen bezogen haben, S.82.

[25] Sequaner, Septimaner, Kantabrer und Allobroger: Gallische Stämme, die sich im 1. Jhdt. v.u.Z. gegen die ihnen militärisch und kulturell überlegenen römischen Eroberer hartnäckig zur Wehr setzten.

[26] Im antiken Rom gab es mehrere jüdische Gemeinden von denen jede ihre Synagoge hatte, so etwa in Trastevere, wo auch heute eine bedeutende Synagoge steht (um 1900 erbaut). Folgt man Cicero (in seiner Verteidigungsrede Für Flaccus ), arbeiteten Juden in den verschiedensten Berufen, denn es gab für sie seitens der römischen Gesetzgebung keinerlei Einschränkungen.

[27] Contra Celsum –  Gegen Celsus (Kap. III, 9, s.158 – eine Word Datei der dt. Übersetzung v. P. Koetschau), S.158,  ist eine christliche Kampfschrift gegen den „Antichristen“ Celsus.

[28]Tertulian, Apologeticus IX, [dt.1797, übers. v. J.F.Kleuker: Des Quintus Septimius Florens Tertullianus Vertheidigung der christlichen Sache gegen die Heiden]. Tertullian ist von dem Thema der Fellatio so besessen, dass er sich damit an verschiedenen Stellen befasst. Der Herder-Verlag apostrophiert das Pamphlet als „als Meisterwerk der christlichen Apologetik“.

[29]Telesphorus (lebte um 100 u.Z.) wird in vielen Heiligenbüchern als Märtyrer aufgeführt, ohne Belege für seinen unnatürlichen Tod anzugeben. Diese wurden dann im Nachhinein erfunden.

[30] Tertullian (150-220), Jurist, wandelte sich nach seiner Konversion zum Christentum zu einem religiösen Fanatiker. Alles körperlich-sinnliche hält er für verderblich, das Schminken der Frauen, das Theater… Siehe zu Tertullian die Dissertation von Paul Wolf (1897)
 
[31] Voltaire bezieht sich auf J. A. Fabricius (16668-1738), dt. Philologe und Theologe, Codex apocryphus Novi Testamenti 3 Bd.

[32] Voltaire bezieht sich bei diesen Märtyrergeschichten auf Claude Fleurys  mehrbändige Histoire ecclésiastique (dt. Allgemeine Kirchengeschichte).

[33](Anmerkung Voltaire) Hist. Romaine, d.i. Tacitus, Historiae Buch V.9

[34]In seinem Artikel Christianisme – Christentum, Historische Untersuchungen über das Christentum im Philosophischen Taschenwörterbuch beschäftigt sich Voltaire ausführlich mit dieem Thema des aufgehenden Sternes, der zur Geburt Jesus alles erleuchtet haben soll.

[35]Matthäus, i, 3-6;https://www.bibleserver.com/EU/Matth%C3%A4us1, was die Bibel über den Lebenswandel dieser 4 Frauen erzählt, qualifiziert Tamar (Genesis 38 https://www.bibleserver.com/EU/1.Mose38) und Bathseba  (2. Samuel 11–12 https://www.bibleserver.com/EU/2.Samuel11), anders als Rahab (Josua 2 https://www.bibleserver.com/search/EU/josua%202), nicht unbedingt als Prostituierte. Ruth (Buch Ruth https://www.bibleserver.com/EU/Rut1 ) keinesfalls. 

[36] (Anmerkung von Voltaire) Die Chronologien der Bibel unterscheiden sich derartig. 

[37] Jesaia, xvii,12 – 14

[38] Genesis, xlix 9, 10 in der Vulgata heisst die Stelle: „non auferetur sceptrum de Iuda et dux de femoribus eius donec veniat qui mittendus est et ipse erit expectatio gentium”, vgl. die verschiedenen Übersetzungsvarianten hier

[39] Petrus, ii 

[40] Matthäus, iv, 8;

[41] Johannes, ii, 9.

[42] Matthäus, viii, 32

[43] Genesis, iii, 1.

[44] Numeri, xxii, 28 ; und xxiii, 11

[45] Exodus, xiv, 15 https://www.die-bibel.de/bibel/EUE/EXO.14; zur Bacchus/Mose Parallele siehe die gute Synopse bei Hmolpedia. Voltaire bezog sich auf Pierre Daniel Huet, Demonstratio evangelica (1680).

[46] Es ist die vierte Ekloge Vergils in der er die Geburt eines göttlichen Knaben besingt.

[47] Voltaire könnte diese Verse bei Conveyors Middleton gefunden haben, in: A free inquiry into the miracoulous powers (1749), S.36 .

[48] Virgil, Aeneis, i, 533.

[49] S. dazu den Artikel Messias im Philosophischen Taschenwörterbuch.

[50] Johannes, Kap. xxiii. (Anmerkung Voltaire)  Es sind die Kapitel vii, 19, oder Matthäus v,17.

[51] Deuteronium, iv, 2.

[52] Deuteronomium, Kap. xiii.

[53] Matthäus, xxiii.

[54] Johannes, ii, 15, 20.

[55] Matthäus, xvi, 18.

[56] Johannes, Kap. i, Vers 45.

[57] Matthäus, Kapitel x, V. 34.

[58] Lukas, Kap. xiv, V. 12.

[59] Lukas, Kap. xiv, V. 26.

[60] Johannes, Kap. xiii, Vers 34.

[61] Lévit., chap. xix.

[62] Lukas, Kap. xxi, Vers 27.

[63] Thessal., iv, 17.

[64] Siehe Irenäus.

[65] Der griechische Redner Demosthenes beschämte seine Zuhörer, in dem er Ihnen zeigte, dass sie eher an dem Fortgang eines Prozesses um des Esels Schatten interessiert waren, als an seiner Rede. 

Anselm Breuers Voltaire Oper Samson in Mainz uraufgeführt

Dem Mainzer Komponisten Anselm Breuer kommt das Verdienst zu, nach fast 300 Jahren das Libretto von Voltaire (in französischer Sprache mit deutschen Untertiteln), mit seiner in der Tradition des Barock stehenden Vertonung zu neuem Leben erweckt zu haben. Am 7.9.2024 kam die Oper in der Augustinerkirche unter der Schirmherrschaft des dortigen Bischofs (!) in Mainz zur Uraufführung.
Die Oper Samson, zu der Voltaire 1733 das Libretto verfasste und Rameau die Musik komponierte, kam nie öffentlich zur Aufführung, weil die königliche Zensur ein Aufführungsverbot wegen Gotteslästerung verhängte. Voltaire hatte den biblischen Text (siehe Richter, 16) ausgewählt, weil er an ihm ohne große Veränderungen den ihm verhassten religiösen Fanatismus vorführen konnte.
Der Text erschien erstmals 1745 in Amsterdam, die Partitur Rameaus blieb nicht erhalten. Allerdings nutzte Rameau seine Samson-Kompositionen in diversen seiner späteren Stücke.

Tagung zu Voltaire im Schloss Schwetzingen

Die Tagung, die vom 19. bis 21. September 2024 im Rahmen des Carl-Theodor Jahres im Schloss Schwetzingen stattfindet, soll die Voltaire-Rezeption in den deutschsprachigen Wissenschaften und Künsten herausarbeiten. Zu den Veranstaltern zählen Professor Dr. Susan Richter, Historisches Seminar, Universität Kiel, PD Dr. Björn Spiekermann, Germanistisches Seminar, Universität Heidelberg, Professor Dr. Dieter Hüning, Universität Trier und Professor Dr. Gideon Stiening, Universität München. Die Veranstaltung ist öffentlich. Eine Anmeldung ist per E-Mail an srichter@histosem.uni-kiel.de notwendig.

Die Titel der Vorträge (Man kann sich den Veranstaltungsflyer als pdf herunterladen) versprechen nicht sehr viel Gutes, jedenfalls nicht im Sinne derer, die sich in der Tradition der Aufklärung sehen. Aber sicherlich wird es später eine Veröffentlichung der Vorträge geben, die wir dann vorstellen werden.

Die Voltaire-Stiftung erhielt Anfragen, warum sie als einzige Stiftung in Deutschland, die sich, in der Tradition Voltaires stehend, seinem Leben und Werk widmet, an der Veranstaltung nicht teilnimmt. Wir können nur antworten: weil sie nicht eingeladen wurde.

Philosophisches Taschenwörterbuch: Égalité – Gleichheit (Kommentare)

Dieser Kommentar gibt Hintergrundinformationen zu dem Artikel Égalité aus dem Philosophischen Wörterbuch (1764) von Voltaire, das wir 2020 erstmals vollständig ins Deutsche übersetzt und im reclam Verlag herausgegeben haben. Zu jedem der 73 Artikel wird es eine Kommentarseite geben, die die Vorteile des Internets mit der soliden Basis eines gedruckten Buches verbindet (ungefähr die Hälfte der Artikel haben wir bisher kommentiert, siehe dazu unsere Übersichtsseite) , außerdem eine kurze Inhaltsgabe und zu jedem Artikel den französischen Originaltext. Das Buch gibt es gebunden und seit 2023 auch als Taschenbuch. Die exklusive Vorzugsausgabe in 300 Exemplaren ist ausverkauft.

A. Gleichheit als Naturrecht – Ungleichheit als Schicksal?

Um die Gleichheit in einer Gesellschaft zu messen, verfügen wir heute über verschiedene statistische Verfahren. Sie zeigen, dass in vielen Staaten die Vermögen mehr noch als die Einkommen sehr ungleich verteilt sind, dass die Chance, in der sozialen Stufenleiter aufzusteigen, meist nicht all zu hoch ist und dass die höheren Bildungseinrichtungen dem ärmeren Teil der Bevölkerung nahezu verschlossen bleiben . Wenn also die Wahrscheinlichkeit sehr hoch ist, dass die Kinder der ärmeren Bevölkerung ebenso arm bleiben wie ihre Eltern, sie ihrer Lage nur äußerst selten entkommen können, fragt es sich, ob es etwa an ihren defizitären Erbanlagen liegt, oder aber an der Art und Weise wie die Gesellschaft organisiert ist, in der sie leben. Die Antwort ist einfach. Wenn die DDR auch der Vergangenheit angehört, so hat sie doch lange genug existiert, um  eines zu beweisen: Dass Kinder aus den sogenannten unteren Gesellschaftsschichten ebenso „bildsam“ sind wie die der oberen.

Seit der Aufklärung hängen wir ohnehin der Vorstellung an, dass alle Menschen von Natur aus gleich sind und zumindest bei der Geburt die gleichen Erbanlagen und theoretischen Fähigkeiten besitzen (das versteht man unter naturrechtliche Gleichheit), und wir wissen, dass die spätere Ungleichheit, also ob man Erntehelfer oder Professor, selbständiger Unternehmer wird, stark von der Art und Weise abhängt, wie eine Gesellschaft organisiert ist: ob ihre Verfassung verhindert, dass enorme Vermögen auf Kosten der Mehrheit entstehen, ob Bildungseinrichtungen so organisiert sind, dass sie es jedem ermöglichen, seine Fähigkeiten – unabhängig vom Einkommen der Eltern – zu entfalten u.v.a. mehr.

Die Beziehungen, die zwischen den beiden Polen Gleichheit von Natur aus und materieller, sozialer Gleichheit bestehen, versuchte Christoph Menke, ein Professor für Philosophie, in Spiegelungen der Gleichheit (2014) herauszudestillieren. Das Werk ist leider äußerst spitzfindig, doch sein Kapitel über Babeuf „Die Verschwörung für die Gleichheit“ ist wirklich lesenswert und auch für Nichtphilosophen verständlich. Um was es dabei geht, kann man an einem einfachen Beispiel aufzeigen: Wenn in einer Gesellschaft allen Bürgern Diebstahl per Gesetz verboten ist (Gleichheit vor dem Gesetz) so macht es doch einen Unterschied, ob sich ein Besitzloser an fremdem Eigentum vergreift, oder aber ein wohlsituierter Bürger, der – zumindest, was einfache Diebstähle angeht – es nie nötig hätte, solche zu begehen. Ein Urteil über den Dieb kann somit niemals gerecht sein, wenn es die materielle Situation des Diebes unberücksichtigt lässt. Wenn er aus extremer Armut stiehlt, hat sich eine Gesellschaft, die ihm keine bessere Perspektive bot, mitschuldig gemacht.

B. Hintergrund: Die Diskussion um die Frage nach der sozialen Gleichheit im 18. Jahrhundert

Hobbes, Locke, Bayle, Montesquieu, Hume, Condillac, Rousseau und schließlich auch Voltaire: Sie alle stimmen darin überein, dass die Menschen von Natur aus gleich sind. Was die materielle Ungleichheit betrifft, lehnen sie zumindest die kirchliche Lehre ab, dass die Stellung, die jeder Einzelne in der Gesellschaft einnimmt, eine göttliche Fügung sei. Eine Lehre, nach der jeder, der für sich mehr einfordert, als ihm nach seiner Klassenzugehörigkeit – ein ebenso wie „Gleichheit“ unbeliebter Begriff – gesetzlich zusteht, oder sich gar gegen die herrschenden Zustände (damals gegen die Adelsherrschaft) wehrt, ein blasphemischer Aufrührer ist, weil er sich in seinem Verlangen nach Glück nicht mit dem Jenseitsversprechen der Religion begnügte.

In Voltaires 1738 erschienenem Gedicht De l’égalité des conditions heißt es:

Les mortels sont égaux ; leur masque est différent.
Nos cinq sens imparfaits, donnés par la nature,
De nos biens, de nos maux sont la seule mesure.
Les rois en ont-ils six ? Et leur âme et leur corps
Sont-ils d’une autre espèce, ont-ils d’autres ressorts ?
C’est du même limon que tous ont pris naissance ;
Dans la même faiblesse ils traînent leur enfance ;
Et le riche et le pauvre, et le faible et le fort,
Vont tous également des douleurs à la mort.
[Die Sterblichen sind gleich; ihre Masken sind verschieden./Unsere fünf unvollkommenen Sinne, von der Natur gegeben,/sind das einzige Maß für das, was gut ist und was von Übel./Haben Könige sechs davon? Und ihre Seele und ihr Körper/Sind sie von anderer Art, haben sie andere Quellen?/Aus demselben Lehm sind sie alle geboren;/In derselben Schwäche verbringen sie ihre Kindheit;/Der Reiche und der Arme, der Schwache und der Starke,/Gleichermaßen durchleben sie Schmerzen bis zum Tod.]

Wenn aber alle Menschen von Natur aus gleich und frei sind, warum „leben sie dann überall in Sklaverei“ (Rousseau, 1762 in seinem Contrat social)?

Rousseaus Antwort in seiner bereits 1755 erschienen Preisschrift Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes, die Voltaire als „Schrift gegen die Menschheit“ titulierte, ist, dass in dem Augenblick, wo jemand eines anderen Hilfe bedarf, die Ungleichheit entsteht, denn er wird nun von dessen Hilfe abhängig. „l’égalité disparut, la propriété s’introduisit, le travail devint nécessaire et les vastes forêts se changèrent en des campagnes riantes qu’il fallut arroser de la sueur des hommes, et dans lesquelles on vit bientôt l’esclavage et la misère germer et croître avec les moissons“ (p. 118)
[„Die Gleichheit verschwand, das Eigentum stellte sich ein, die Arbeit wurde etwas notwendiges, die dichten Waldungen verwandelten sich in lachende Felder, die mit dem Schweiße der Menschen getränkt werden mussten und bald sah man Sklaverei und Elend zugleich mit den Ernten hervorkeimen und groß werden“. (S. 66)]
Je weiter sich die Menschen von der Natur entfernen, desto größer wird ihre Ungleichheit.

Voltaire antwortete auf diese kulturskeptische Position Rousseaus in seinem Brief vom 30.8.1755 und meinte:
„Man hat noch nie so viel Geist aufgewendet, um uns zurück zu den Tieren zu schicken, man bekommt Lust, auf allen Vieren zu laufen, wenn man Ihr Werk liest“ (Zur Rolle von Rousseau siehe Rousseau und Voltaire – Ein Verräter im inneren Kreis der Aufklärer).

In seinem Gedicht Le Mondain (1736) hob Voltaire ganz im Gegenteil die Fortschritte der Zivilisation hervor: Zur Zeit von Adam und Eva lebte man noch im Dreck, während in späteren Zeiten das Leben deutlich angenehmer wurde. Wenn dieses Angenehme auch nicht allen zugute kommt, trägt es doch, zum Beispiel, was den Luxus betrifft, zur Höherentwicklung der ganzen Gesellschaft bei (Siehe dazu Was die Kirchen ärgert – Die Verteidigung des Luxus bei Voltaire) .

Zuviel Gleichheit schien den meisten Aufklärern des 18. Jhdts. wohl eher gefährlich und verderblich. Zum Beispiel meinte Montesquieu in seinem Geist der Gesetze (Ésprit des Lois, Kap. 8):
„Le principe de la démocratie se corrompt, non seulement lorsqu’on perd l’esprit d’égalité, mais encore quand on prend l’esprit d’égalité extrême, et que chacun veut être égal à ceux qu’il choisit pour lui commander ».
[Das Prinzip der Demokratie kann nicht nur zugrunde gehen, wenn der Geist zur Gleichheit schwindet, sondern auch, wenn man ihn aufs Äußerste treibt, und jeder gleich sein will mit denen, die er ausgewählt hat, um über sich zu regieren.“]

Zu der ausgebildeten Adelsgesellschaft seiner Zeit meinte 1755 Louis de Jaucourt, von dem viele der Artikel in der berühmten Enzyklopädie (ab 1768 war er als Diderots Nachfolger deren Herausgeber) stammen: „Ich möchte nur noch bemerken, dass gerade die Verletzung dieses Prinzips [der natürlichen Gleichheit] zur politischen & bürgerlichen Sklaverei geführt hat. Daher kommt es, dass in den der Willkürherrschaft unterworfenen Ländern, die Fürsten, die Höflinge, die ersten Minister & die, welche die Finanzen verwalten, alle Reichtümer der Nation besitzen, während die übrigen Bürger nur das Notwendige haben & der größte Teil des Volkes in der Armut verkümmert“ (Artikel „Ègalité naturelle“). Im Anschluss beeilte er sich aber zu verkünden, dass dies nicht als Aufruf zum Umsturz zu verstehen sei.

Was sagten aber Mesliers, Diderot, d’Holbach und Hélvétius, de La Mettrie, also die Atheisten unter den französischen Aufklärern, zu der Forderung nach sozialer Gleichheit?
Deutlich erhob sie der Abbé Mesliers, der die Armut seiner Gemeindemitglieder hautnah erlebte, in seinem sogenannten Testament, das ab 1729 nur als Manuskript zirkulieren durfte (Die Ausgabe von Voltaire war eine deistisch entschärfte Kurzfassung). Diderot stellte für seine Gönnerin Katherina II. ein Programm für die allgemeine Schulbildung zusammen, ein Konzept, dem Hélvétius folgte. d’Holbach ging die Ungleichheit in seinem Buch Système social (1773) an, in dem er versuchte, gesellschaftliche Pflichten und Eigeninteresse ins Gleichgewicht zu bringen.

De La Mettrie (Philosophie und Politik) nimmt eine Sonderstellung unter den Atheisten ein, er scheint die Gesellschaft als das Reich der Interessen anzusehen, das sie zweifellos auch ist und die Hoffnung, dass sie durch vernünftige Regelungen für mehr Gleichheit oder Gerechtigkeit besser würde, hält er für eine Illusion. Die Mächtigen haben die Gesellschaft für ihre Interessen aufgebaut und die Religion benutzt, um ihrem System eine höhere Weihe zu verleihen, sie werden es nicht freiwillig aufgeben. La Mettrie setzt auf die Zerstörung der Religion, damit sich die Erkenntnis durchsetzt, dass es kein prinzipielles gut und böse, keine absolute Moral gibt, sondern nur die eingefärbte ihrer jeweiligen Profiteure. Setzte sich diese Erkenntnis nämlich durch, würde sich die Herrschaft der Wenigen über die Vielen nicht mehr mit lügenhaften Jenseitsgespinsten rechtfertigen lassen, sie müsste ihren Nutzen für die Allgemeinheit darlegen, um weiterhin anerkannt zu werden. Es ist erstaunlich, wie nahe Voltaire dieser Position ist.

Von einiger Bedeutung für die revolutionäre Entwicklung in Frankreich war die 1755 erschienene, heute nur wenigen bekannte Schrift, der Code de la Nature von Étienne-Gabriel Morelly (1717-1778), die man lange Diderot zuschrieb und die für das Denken von Gracchus Babeuf außerordentlich wichtig war. In diesem Grundgesetz der Natur, so heißt der Titel in der deutschen Übersetzung von Ernst Moritz Arndt (1846), leitet Morelly aus der naturrechtlichen Gleichheit aller Menschen das Gemeineigentum als Voraussetzung für die materielle, soziale Gleichheit in der Gesellschaft ab.

Schließlich sollte man die Maxime von Jeremy Bentham „the greatest happiness for the greatest number“ [Das größtmögliche Glück für die größtmögliche Zahl] erwähnen, sein Werk kann als aufrichtiger Versuch angesehen werden, die ungerechte Eigentumsverteilung einer rationalen Lösung zuzuführen.
Und selbstverständlich traten die französischen Revolutionäre in ihren Schriften für die soziale, materielle Gleichheit ein, herausragend sicherlich Marat, Hébert und mit Einschränkung auch Robespierre.

Die Gleichheit litt nach 1789 in Europa unter einem sehr schlechten Ruf. Unzählige Schriften und Bücher versuchten zu beweisen, dass die Forderung nach Gleichheit, würde sie umgesetzt, in ihr Gegenteil umschlagen und geradewegs in der schlimmsten Tyrannei enden müsse. Eine Auffassung, die im Übrigen auch schon Pierre Bayle in seinem Artikel Perikles vertrat und Voltaire in seinem Artikel Démocratie seiner Questions sur l’Encyclopédie diskutierte und bestritt.

Mit seinem Todesurteil gegen Gracchus Babeuf und Augustin Alexandre Darthé reagierte 1797 das Direktorium auf das letzte Aufflackern der revolutionären Forderung nach sozialer Gleichheit, die Babeuf mit seinen Verschwörern für die Gleichheit vehement vertrat, um sie ein für allemal niederzuschlagen. Babeufs Verteidigungsrede vor Gericht ist gleichermaßen ein bestürzendes Dokument und ein beeindruckendes Denkmal der Menschheitsgeschichte.

C. Quellen
– Buonarotti, Phillipp, Histoire de la Conspiration pour l’Égalité dite de Babeuf (1828), dt.: Babeuf und die Verschwörung für die Gleichheit, übers. v. Anna u. Wilhelm Blos, Stuttgart: Dietz Nachf. 1909
– Bentham, Jeremy , Fragment on Government (1776) [pdf digitalisat]
– Jaucourt, Louis de, Égalité Naturelle, Encyclopédie, 1755 , dt : Natürliche Gleichheit, in Die Welt der Enzyklopädie, Frankfurt: Eichborn, 2001, S.273-274
– Mesliers, Jean, Testament, (1864), dt.: Das Testament des Abbé Meslier, übers. v. Angelika Oppenheimer, Frankfurt: Suhrkamp, 1976
– Montesquieu, l’Ésprit des Lois, 1758, dt. : Vom Geist der Gesetze, 1760
– Rousseau, Jean Jacques, Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes, 1755, dt.: Abhandlung über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen, übers. v. H. G. Heusinger 1829
– Rousseau, Jean Jacques, Du Contrat social ou Principes du Droit politique,  Amsterdam: Rey, 1762. , dt.: Über den Gesellschaftsvertrag, Leipzig: Wigand, übers. v. A. Marx, 1843
– Voltaire, De l’égalité des conditions, erschien erstmals 1738 in den Epîtres sur le bonheur [Rede über das Glück]
– Voltaire, Le Mondain, 1736 (dt.: Die Verteidigung des Luxus)
– Voltaire, Brief an Rousseau vom 30.8.1755 (D6451), dt.: An Jean Jacques Rousseau in: Voltaire in seinen schönsten Briefen, übers., hrsg. v. H. Missenharter, Stuttgart: Port, 1958, 400 S.

D. Literaturhinweise
– Babeuf, Die Verschwörung für die Gleichheit, Rede über die Legitimät des Widerstands, mit Essays von H. Marcuse und A. Soboul, Hamburg: Junius, 1988, 168 S.
– Menant, Sylvain, Voltaire-Rousseau : deux conceptions modernes de l’égalité, Vortrag aus d. Jahr 2010
– Christoph Menke, Spiegelungen der Gleichheit, Beck, 2014. Menke versucht das Spannungsverhältnis zwischen natürlicher und materieller Gleichheit auszuloten. Am Beispiel Babeufs Verteidigungsrede vor Gericht zeigt er, dass es dabei um eine der wesentlichen Fragen der Menschheitsgeschichte geht.
– Gregor Ritschel, Bentham und Marx, Bielefeld: transcript, 2018 [pdf-digitalisat]

Die folgenden Anmerkungen zu einzelnen Textstellen beziehen sich mit ihren Seitenangaben auf die von uns bei Reclam herausgegebene Ausgabe des Philosophischen Taschenwörterbuchs (2020):

Anmerkung 1 (S.194, 1. Absatz): In seinen Questions sur l’Encyclopédie (1770-1772), eine Art Kompendium interessanter Artikel zu den verschiedensten Themen, nahm Voltaire auch den Artikel Égalité auf, veränderte aber den ersten Absatz, wohl wegen der Ähnlichkeit mit Rousseaus Contrat Social, folgendermaßen:
«Il est clair que les hommes jouissant des facultés attachées à leur nature, sont égaux; ils le sont quand ils s’acquittent des fonctions animales, et quand ils exercent leur entendement. Le roi de la Chine, le Grand Mogol, le padicha de Turquie, ne peut dire au dernier des hommes, Je te défends de digérer, d’aller à la garde-robe et de penser. Tous les animaux de chaque espèce sont égaux entre eux».
[dt.: Es ist offensichtlich, dass die Menschen, wenn sie die ihrer naturbedingten Fähigkeiten ausüben, gleich sind; sie sind es, wenn sie ihre animalischen Fähigkeiten ausüben und wenn sie von ihrer Vernunft Gebrauch machen.
Kein König von China, kein Großmogul, kein Padischah kann dem Geringsten seiner Untertanen verbieten, zu verdauen, auf die Toilette zu gehen und zu denken. Alle Tiere, ganz gleich welcher Art, sind untereinander gleich].

Anmerkung 2 (S. 195, 2. Absatz: „Nicht die Ungleichheit ist das wirkliche Übel, sondern die Abhängigkeit… Es ist hart, dem einem oder anderen dienen zu müssen.“):
In den Questions sur l’Encyclopédie führt Voltaire diesen Punkt weiter aus und erklärt, dass die Ungleichheit eine Folge der sozialen Veranlagung des Menschen und der daraus entstehenden Bedürfnisse sei. Ganz anders hier, wo er an dem Beispiel der türkischen Herrscher zeigt, dass sie dem Machthunger des Menschen entspringt.

Anmerkung 3 (S.195, 3. Absatz: „Aus der Familie…gehen die Knechte hervor“): Das ist ein weiterer Hinweis auf die Gewalt als Quelle der Ungleichheit, so wie auch im darauf folgenden Absatz.

Anmerkung 4 (S.195, unten: „Nicht alle Armen sind ganz und gar unglücklich“): Zu diesem Satz gibt es bei verschiedenen Übersetzern interessante Alternativen. Siehe dazu unsere Themenseite
Égalité – Gleichheit Übersetzungsvarianten im Diskussionsform „Traumdenken“.

Anmerkung 5 (S.196: Wenn die Armen ihre Lage erkennen, „kommt es zu Kriegen“):
– so wie in Rom dem der Volkspartei gegen die Senatspartei:
Am Ende des 2. Jahrhunderts v.u.Z. wollten die Gracchen eine Bodenreform einführen, um den Graben, der sich zwischen den „Optimaten“, den Adligen und den „Popularen“, dem Volk aufgetan hatte, zu verringern. Es kam zu Aufständen, in denen Tiberius Gracchus 133 v.u.Z. von Handlangern des Senats ermordet wurde. Er wollte, dass ein Gesetz erlassen wird, das den Adligen die Aneignung des sogenannten Publicus, also der von Allen gemeinsam benutzen Anbauflächen untersagt. Zehn Jahre später wurde auch sein Bruder Gaius umgebracht.  Erst Marius ab 107 v.u.Z gelang es, indem er die Proletarier in das Heer integrierte, dem Ziel näherzukommen.
– oder die Bauernkriege in Deutschland, England und Frankreich:
In seinem Essai sur les moeurs erwähnt Voltaire (chap. 76) die  sogenannten Jacqueries unter Jean le Bon um 1360, die Bauernaufstände in England unter Richard II um 1381 (chap 78) und die Bauernkriege um 1525 in Deutschland (chap 131). Diese seien durch die Anabaptisten, die Wiedertäufer, zum Aufstand gebracht worden, indem sie ihnen die gefährliche Wahrheit in die Herzen eingepflanzt hätten, dass „zwar alle Menschen von Geburt an gleich sind, aber wenn der Papst die Adligen wie Untertanen behandelt, so behandeln diese die Bauern wie Tiere“ [„Ils développèrent cette vérité dangereuse qui est dans tous les cœurs, c’est que les hommes sont nés égaux, et que si les papes avaient traité les princes en sujets, les seigneurs traitaient les paysans en bêtes“]…

Anmerkung 6 (S. 196, 3.Absatz: „Die Gleichheit ist also zugleich die natürlichste Sache von der Welt und zugleich die illusorischste):
Auch hier: Die Ungleichheit ist nicht gottgegegeben, sie ist Ergebnis ungleicher Macht- und Eigentumsverteilung, die menschlich, aber nicht unabänderlich ist. Rousseau sah die Gleichheit als ein machbares Ziel einer durch die Vernunft regierten Gesellschaft. Voltaires glaubte daran ganz offensichtlich nicht. 

Anmerkung 7 (S.196 unten: ..dass es einem Bürger nicht erlaubt sei, das Land zu verlassen):
In seinem Essai sur les moeurs (chap. 196) erwähnt Voltaire, dass es in Japan unter dem Herrscher Jemitz einen Erlass, gab,  nachdem „kein Japaner bei Todesstrafe das Land verlassen durfte“.
Aber auch jeder Normalbürger in den Fürstentümern des 18. Jahrhunderts benötigte eine Erlaubnis des Herrschers, wenn er das Land verlassen wollte.

Anmerkung 8 (S.197, 2. Absatz: „Wenn sich die Türken Roms bemächtigten…“): Obwohl also der Koch und der Kardinal in ganz verschieden Klassen leben, sind sie doch als Menschen gleich, so gleich, dass sie, änderten sich die Gesellschaftsverhältnisse, jederzeit herrschen, Gehorsam fordern und ihren Nächsten unterjochen würden.  

Anmerkung 9 (S.197 unten: Ein Privatmann,..der sich darüber ärgert, „dass er überall mit gönnerhafter oder verächtlicher Miene empfangen wird“,…)
Voltaire spricht hier ganz aus seiner eigen Erfahrung am Hofe von Versailles, aber auch bei Friedrich II in Berlin. Und er fasste selbst genau den Entschluss und hat getan, was er hier empfiehlt: nämlich wegzugehen.

.


Philosophisches Taschenwörterbuch: Corps – Körper (Kommentare)

Die Frage, ob es außerhalb unserer Wahrnehmung eine unabhängig von uns existierende Materie gibt, um die es in Voltaires Artikel geht, beschäftigte die Menschheit mindestens seit der Antike. Auch heute ist diese Debatte noch in Gang, Filme wie „Inception“ oder „Matrix“ besitzen Kultstatus und erfassen weite Kreise, oft Jugendliche, die aus den geschickt gemachten Streifen großes Misstrauen der objektiven Wirklichkeit gegenüber ableiten und gleichzeitig eine Haltung rechtfertigen, die sich vor allem mit den eigenen subjektiven Phantasien und Innenwelten beschäftigt. Würden sie ihn kennen, wäre Bischof Berkeley ihr geistiger Urvater und Voltaire, was in dem Artikel klar zum Ausdruck kommt, ihr intellektueller Gegner.

A. Hintergrund:
George Berkeleys (1685-1753) Lehre ist seine christliche Antwort auf die Philosophie der Aufklärung, er verneint die Existenz einer objektiven Realität und behauptet, alle Dinge würden nur in Beziehung zu unserer Wahrnehmung existieren. Diese Position wurde verschiedentlich als sensualistischer Idealismus bezeichnet und ist noch extremer als die von Immanuel Kant, der wenigstens mit seinem „Ding an sich“ Dogma (dass man das eigentliche Wesen eines Objekts nicht erkennen kann, da wir es ja nur durch die Brille unserer Sinnesorgane wahrnehmen) die prinzipielle Existenz der Objekte nicht in Frage stellt.
Sicher erscheint es jedem Nichttheologen grotesk, dass der Schreiner die Existenz seines von ihm selbst hergestellten Stuhls auf dem er sitzt, nur als ‚Könnte sein‘-Objekt annehmen dürfen soll, dessen eigentliches „Ding an sich“ Wesen er nach Kant nicht zu erkennen vermag. Berkeley ging aber noch einen Schritt weiter: die gesamte außer uns existierende Welt ist nach ihm nur deshalb existent, weil wir sie wahrnehmen.
John Locke, dem Voltaire folgt, geht dagegen davon aus, dass nichts in unserem Kopf ist, was nicht zuvor durch unsere Sinne empfangen wurde und unterscheidet primäre Qualitäten wie Ausdehnung, Gestalt, Bewegung, Undurchdringlichkeit und Zahl, die der Materie ursprünglich eigen sind, von sekundären Qualitäten wie Gerüche, Farben, Töne, Geschmacksempfindungen usw., die wir von den Körpern zwar sinnlich empfangen, aber subjektiv in uns ausgestalten und benennen.
Demgegenüber huldigt Berkeley einem radikalen Immaterialismus: „Sein ist Wahrgenommenwerden oder Wahrnehmen“. Das Wahrgenommene besitzt keine eigene selbständige Existenz. Worin liegt nun der christliche Clou in Berkeleys Argumentation? Wenn es Objekte gibt, die eine eigene Existenz haben, so wären sie auch von Gott unabhängig und widersprächen der universalen Abhängigkeit der Schöpfung vom Schöpfer! Darauf muss man erst einmal kommen. Der hochgläubige Mann schrieb gegen die Freigeisterei eines Mandeville und Shaftesbury , er betätigte sich als christlicher Missionar in Übersee und war überzeugt, mit seiner Lehre das Christentum gegen die Aufklärung retten zu müssen.


B. Die Diskussion um die Frage nach der äußeren Realität im 18. Jahrhundert
Im Frankreich des 18. Jahrhunderts stand das akademische Personal ganz im Banne Descartes und seines Körper-Geist/Seele Dualismus. Das ist eine Haltung, die den Geist (die Seele) als eine eigenständige Seinsform oder Substanz ansieht und diese von der Materie, der körperlichen Welt, trennt. Die materielle Substanz sei „ausgedehnt“ und teilbar, die geistige dagegen unteilbar und unendlich. Der Geist (die Seele) sei dem Menschen eigen, Tiere hätten ihn nicht und seien Maschinen ähnlich, erklärte Descartes und bestritt Voltaire (s. Artikel im Philosophischen Taschenwörterbuch Âme-Seele).
Aus diesem Körper/Geist Dualismus erst ergab sich das erkenntnistheoretische „Problem“, wie dieser Geist in seinem Gehäuse die Außenwelt wohl erkennen könnte. Berkeley löste das Problem, wie bereits gesagt, indem er der objektiven Außenwelt eine Existenz überhaupt absprach. Bis heute beschäftigt sich die Philosophie und auch die Naturwissenschaft mit diesem Thema. Eine Rezension des Buches zweier Hirnforscher, Haynes/Eckholdt „Fenster ins Gehirn“ aus dem Jahr 2021, zeigt das sehr gut, / und sie zeigt insbesondere, wie eng die Annahme des Dualismus an die Religion gekoppelt ist. Über zweihundert Kommentare geben einen guten Einblick in die Verwirrung, die dieser Dualismus bis heute anstiftet.
Es ist offensichtlich, dass es vor allem die nicht überwundene Religion war, die die Intellektuellen im 18. Jahrhundert daran hinderte, zu erkennen, dass der Geist und das Denken durchaus körperlich sind und dass der behauptete Dualismus überhaupt nicht existiert.
Man bezeichnet diese Gegenposition zum Dualismus heute als Monismus (bekannter Vertreter: Ernst Häckel) oder einfach als Materialismus, da sie die Vorstellung, es gäbe zwei Grundprinzipien, zwei Substanzen in der Welt ablehnt, und die Auffassung vertritt, dass alles Materie ist, auch der Geist.
Im 18. Jahrhundert war es vor allem der verfemte La Mettrie, Demokrit wieder aufnehmend, der diese Position vertrat und es gebührt ihm die Ehre, mit seinem Werk „Der Mensch als Maschine“, diesen Weg als erster im 18. Jahrhundert wieder beschritten zu haben, einen Weg, den nach ihm unter anderem Diderot, Helvetius und d’Holbach beschreiten sollten.

Leibniz‘ Monadologie, Voltaire erwähnt sie in seinem Artikel, stellt einen weiteren, allerdings mystisch-religiös eingefärbten Versuch dar, den Leib-Seele, Körper-Geist Dualismus mit Hilfe der Mathematik aufzulösen und ein einheitliches Prinzip, eben die Monade, Geist und Materie in einem, einzuführen. Zu diesem Thema existiert ein Wikipedia-Artikel, der Leibiz Monadenlehre hinreichend und verständlich erklärt.

In seiner vor über 100 Jahre erschienenen, aber noch immer lesenswerten Geschichte der Philosophie gibt Windelband (im Kapitel V, Die Philosophie der Aufklärung, S.358 ff ) einen guten Überblick über die Winkelzüge, die das Körper-Geist Dualismus Problem im 18. Jahrhundert hervorrief und welche Lösungsansätze dafür angeboten wurde. Berkley steht auf der einen Seite des Extrems (Verneinen der materiellen Welt zugunsten der geistigen), La Mettrie auf der anderen.

Und Voltaire? Er hielt es mit John Locke und hielt sich selbst vornehm – oder vorsichtig – zurück, gab aber immer wieder zu erkennen, dass er den Dualismus ablehnte und er verbannte die göttlich-geistige Sphäre in die Ecke des Ungewissen.

C. Quellen
– Breidert, Wolfgang, George Berkeley: Wahrnehmung und Wirklichkeit, in: Grundprobleme der großen Philosophen, Göttingen: Vandenhoek, 1979, S.211 – 240
Berkeley, Georges, Three dialogues between Hylas and Philonous, Amsterdam,1750, [dt.: Berkeley, Drei Dialoge…übers. und eingeleitet v. Dr. Raoul Richter Leipzig: Dürr, 1901]

Die folgenden Anmerkungen zu einzelnen Textstellen beziehen sich mit ihren Seitenangaben auf die von uns bei Reclam herausgegebene Ausgabe des Philosophischen Taschenwörterbuchs (2020):

Anmerkung 1 (S.100 unten: „Es gibt nur Körper, sagen Demokrit und Epikur):  Leukipp und Demokrit (ca. 460-370 v. Chr.) entwickelten materialistisch- mechanistische und atomistische Theorien, die man bei Epikur wiederfindet, während Zenon von Elea die Unmöglichkeit von Materie und Bewegung zu beweisen versuchte.

Anmerkung 2 (S.101, 2. Absatz: „Er glaubt zu beweisen, dass es keinerlei Ausdehnung gibt“):  In Berkeleys Three Dialogues 170-172 dt. Drei Dialoge S.39,

Anmerkung 3 (S. 102: 2. Absatz: „Ich habe mich vor langer Zeit mehrfach mit ihm unterhalten…“): Das Treffen mit Berkeley muss zwischen 1726 und 1728  während Voltaires Exil in London stattgefunden haben.

Anmerkung 4 (S.176: „wenn er Hylas fragt…“):
Voltaire vertauscht hier die Namen der beiden Gesprächspartner.

Anmerkung 5 (S.176: „… dass die Körper aus unendlich vielen kleinen Wesen bestehen, die keine Körper sind“): Voltaire setzte sich mit  Leibniz‘ Monadologie in seinen Élements de la philosophie de Newton auseinander: Kapitel 8 (frz).