Philosophisches Taschenwörterbuch: Religion (Kommentare)

Hintergrund:
Als das philosophische Wörterbuch 1764 erschien, lebte Voltaire seit 6 Jahren in Ferney, an der Grenze zur Schweiz. Seine anfänglichen Hoffnungen auf die Genfer calvinistische Bürgerschaft hatten sich verflüchtigt. Nachdem in der Enzyklopädie (1757) der Artikel „Genève“ erschienen war, den Voltaire mitverfasst hatte, waren seine früheren Freunde auf Distanz gegangen und Voltaire zu ihnen. Zunehmend lehnte er alle Offenbarungsreligionen ab, unter ihnen ganz besonders die des Christentums. Auch durch das Terrorurteil gegen Jean Calas 1762 und die lange Auseinandersetzung um die Annullierung des Urteils verstärkte sich Voltaires antiklerikale Haltung. Seine Schriften Traité sur la Tolérance und Le sermon des cinquante legen davon ein beredtes Zeugnis ab. Es ergab sich daraus die Frage, welche Religion es sein sollte, wenn nicht die Offenbarungsreligionen. Wenn es keine Offenbarung gibt, worauf könnte sich eine Religion dann berufen? Dies sind die Fragen, auf die der Artikel Religion eine Antworten geben soll. Voltaire widmete sich dem Thema ergänzend in seinem 1765 erschienenen Werk La Philosophie de l’histoire.

Die folgenden Kommentare zu einzelnen Textstellen beziehen sich mit ihren Seitenangaben auf die von uns bei Reclam herausgegebene Ausgabe des Philosophischen Taschenwörterbuchs (2020):

Anmerkung 1 (Seite 340, „Erste Frage“): Warburton, der spätere Bischof von Gloucester behandelte indirekt ein Dogma, mit dem sich auch Voltaire befasste: dass eine Gesellschaft, die nicht an eine Belohnung/Bestrafung nach dem Tod glaubt, dem Untergang geweiht sei. Das war natürlich gegen den Atheismus gerichtet. Pierre Bayle widerlegte die Behauptung bereits 1680 in seinem Werk Lettre sur la comète („Brief über den Kometen“).
Warburton fand es störend, dass nicht nur Atheisten, sondern auch die Juden zur Zeit Moses nicht an eine Auferstehung ins Himmelreich glaubten, jedenfalls wurde über solches im Alten Testament nicht berichtet. Er löste das Problem, indem er Mose – und den Juden als Gottes Volk – eine besondere Nähe zu Gott zusprach, so dass diesen das Himmelreich ohnehin verbürgt war und sie sich mit Belohnung und Strafen gar nicht erst zu beschäftigen brauchten. Mit diesem Taschenspielertrick beginnt der Artikel ‚Religion‘.

Anmerkung 2 (Seite 342, „Die Namen der Gottheit“):
– Kneph: „Der seine Zeit vollendet hat“. Urform des Amun in Darstellung einer Schlange. Kematef (Km-3.t=f). Die Namen sind meist in gräzisierter Form überliefert, das Problem ist, dass die ägyptische Schrift keine Vokale kannte, also kennt man sie nur durch Transkription und Transliteration. In der Ägyptologie wird zwischen die Konsonanten ein „e“ eingefügt.
– Adonai: Man kennt es als Umschreibung „Mein Herr“ für Gott aus dem Alten Testament (s. Bibel Lexikon Gott, 6., 7.: 5.Mose 9,26 etc.). Es kommt als Adon, Adonai und Adonim (Plural) dort vor. Die Sprachen waren sich sehr ähnlich, mit der phönizischen Schrift wurden vom 11. bis 5. Jh. v.u.Z. mehrere Sprachen auch aufgeschrieben. Die althebräische Schrift ist eine Variante der phönizischen. Aus der phönizischen entstanden die aramäische Schrift, die griechische und die südarabische Schrift, sie ist die Grundlage der alphabetischen Schriften, untergegangen im Lauf der Spätantike.
– Baal, Bel war im Altertum eine Bezeichnung für verschiedene Gottheiten im syrischen und levantinischen Raum.
– Melech hebräisch Sing. bedeutet König, kommt im Alten Testament vor (1. Chronik, 8,35; 9,41 Nachfahren Sauls). Moloch (hebr. Molech) ist die biblische Bezeichnung für Brandopfer. Erst mit dem Aufschreiben der Bücher Mose wurde das Wort zum Gottesnamen umgedeutet.
– Papaios, skytischer Name des Zeus.
– Manco Cápac war der erste mythische Herrscher der Inkas. Er soll der Sohn des Sonnengottes Inti gewesen sein, der ihn mit seiner Schwester auf die Erde schickte, um dort die Welt zu verbessern. Sie sollen auf der Sonneninsel im Titicacasee die Erde erreicht haben und gründeten dann mit einem goldenen Stab, den ihnen ihr Vater mitgegeben hatte, die Stadt Cusco, die später als der Beginn des Inkareiches angesehen wurde.
– Vitzliputzli ist die deutsche Form von Huitzilopochtli oder Uitzilopochtli („Kolibri des Südens“ oder „Der des Südens“ oder „Kolibri der linken Seite/Hand“) war in der aztekischen Mythologie der Kriegs- und Sonnengott und Schutzpatron der Stadt Tenochtitlán. Er wurde als Kolibri dargestellt und ihm wurden Gefangene aus den Auseinandersetzungen mit den Nachbarvölkern geopfert.
– Zebaoth bezieht sich immer auf Jhwh, den Gott Israels. Die Bezeichnung geht vermutlich auf das ägyptische Wort „Thronender“ zurück, wurde aber von hebräischen Ohren von saba‘, Plural seba‘ot (Heerscharen, Heeresmacht) abgeleitet, also der Herr der Heerscharen. Es gibt im Alten Testament 285 Stellen, wo er so genannt wird, doch noch nicht in den Büchern Mose, wie auch in den Büchern Josua und Richter.

Anmerkung 3 (Seite 345, Ergänzung zu Anm. 233 „Juvenal“):
Nach Juvenal geschah dieser Kannibalismus in Oberägypten, wo die beiden Orte, Tentyra, (h. Dendera) und das nicht sehr weit entfernte Omboi miteinander verfeindet waren. Die Auseinandersetzung der Dendyriten mit den Ombiten soll während eines Festes in Koptos stattgefunden haben. Das Zeichen der Dendyriten war das Krokodil. In Omboi wurde Seth (Esel, Falke) verehrt. Die Stadt verlor in der Spätzeit Ägyptens wegen der Verfemung von Seth an Bedeutung, während Koptos noch erhalten ist. Es ging um den Gegensatz der Niltalbewohner zu den Wüstenstämmen, die sich dort niederließen. (Kleiner Pauly)

Anmerkung 4 (Seite 346, „Platon“):
Voltaire veröffentlichten 1765 zwei Texte über Platon in den Nouveaux Mélanges. In dem einen, Du Timée à Platon, zeigt er, dass die ersten Christen ihre Lehren von Plato übernommen haben und in Dieu et les hommes (1769), dass Plato der wahre Begründer der christlichen Metaphysik ist.

Anmerkung 5 (Seite 346, „wie Maria zur Mutter Gottes erklärt wurde“):
Das dritte allgemeine Konzil (431 in Ephesus) entschied, dass Maria die reale Mutter Gottes war, und dass Jesus zwei Naturen (die göttliche und die menschliche) in einer Person vereine. Die Doppelnatur Christi wurde von dem Konzil in Chalcedon (451) bestätigt. Der Beschluss wird von der römisch-katholischen, der altkatholischen Kirche und den orthodoxen, den anglikanischen und den lutherischen Kirchen anerkannt. Damals wurde die Trinität (Gottvater, Sohn u. hl. Geist) zum Dogma, die nestorianische und die orientalisch orthodoxen Kirchen spalteten sich ab.

Anmerkung 6 (Seite 346, Ergänzung zu Anm. 234 „Matthäus“):
Matthäus, 12, 22-28. Jesus hat einen besessenen, blinden und stummen Mann geheilt, woraufhin ihn die Pharisäer bezichtigen, die Teufel durch Beelzebub ausgetrieben zu haben.

Anmerkung 7 (Seite 347, „Krankheiten, die man damals…bösen Geistern zuschrieb“):
Nach Flavius Josephus, Jüdische Altertümer (8. Buch, 2. Kap. 5) „lehrte Gott ihn (Solomon) auch die Kunst, böse Geister zum Nutzen und Heile der Menschen zu bannen. Er verfasste nämlich Sprüche zur Heilung von Krankheiten und Beschwörungsformeln, mit deren Hilfe man die Geister also bändigen und vertreiben kann, dass sie nie mehr zurückkehren. Diese Heilkunst gilt auch jetzt bei uns noch viel. Ich habe zum Beispiel gesehen, wie einer der Unseren, Eleazar mit Namen, in Gegenwart des Vespasianus, seiner Söhne, der Obersten und der übrigen Krieger die von den bösen Geistern Besessenen davon befreite. Die Heilung geschah in folgender Weise. Er hielt unter die Nase des Besessenen einen Ring, in dem eine von den Wurzeln eingeschlossen war, welche Solomon angegeben hatte, ließ den Kranken daran riechen und zog so den bösen Geist durch die Nase heraus. Der Besessene fiel sogleich zusammen, und Eleazar beschwor dann den Geist, indem er den Namen Solomons und die von ihm verfassten Sprüche hersagte, nie mehr in den Menschen zurückzukehren. Um aber den Anwesenden zu beweisen, dass er wirklich solche Gewalt besitze, stellte Eleazar nicht weit davon einen mit Wasser gefüllten Becher oder ein Becken auf und befahl dem bösen Geiste, beim Ausfahren aus dem Menschen dieses umzustoßen und so die Zuschauer davon zu überzeugen, dass er den Menschen verlassen habe. Das geschah auch in der That und so wurde Solomons Weisheit und Einsicht kund (S. 474/75)“.

Anmerkung 8 (Seite 348, „Trugbach“):
Bei Voltaire verwendet „Supplantateur“. Der Ausdruck wurde damals benutzt und bezog sich auf die lateinische Bibel, da erhielt Jakob den Beinamen „supplantator“. was darauf zurückgeht, dass er sich an die Stelle seines Bruders Esau, des Erstgeborenen, setzte, und was noch einmal in Psalm 17, Vers 13: „Exsurge Domine praeveni eum et subplanta eum eripe animam meam ab impio frameam tuam“ vorkam. Eigentlich heißt das Betrüger, wird aber so nicht auf Gott angewandt. Gott kann aber zum ‚Trugbach‘ werden (vergl. Jer.15,18; Jes.58,11; Hiob6,15-18).

Anmerkung 9 (Seite 348 unten, zu Origines, „dass es den ersten Christen vor Tempeln, Altären, Götterbildern grauste“):
Voltaire fasst eine Argumentation von Origenes, c. Cels., 7,62-64 (FC 50/5, 1307-1313) zusammen. Origenes zitiert einen Vorwurf Celsus‘, nachdem die Christen, dem Beispiel der Skythen und Perser folgend keine Tempel, Altäre und Statuen leiden konnten. Origenes antwortet, dass es dafür verschiedene Gründe geben kann. Die Skythen verabscheuen sie nicht aus Furcht, die Gottheit herabzusetzen, während die Christen den Vorschriften des Deuteronomium (6,13), des Exodus (20, 3-4) und Matthäus (4,10) „Du sollst keine anderen Götter neben mir haben“ gehorchten und folglich keine Tempel, Altäre oder Bildnisse mochten. Dann bemüht sich Origenes den Unterschied zwischen der christlichen Ablehnung von Bildnissen und der der Perser deutlich zu machen. Die Christen wollen nicht, dass man durch „Bildnisse die Form Gottes begrenzt, der ein unsichtbares und immaterielles Wesen ist“. Er betont, dass es kein Widerspruch sei, gleichzeitig zu behaupten, dass Gott keine menschliche Form, aber den Menschen nach seinem Bilde geschaffen habe, denn „in der vernünftigen Seele, durch die Tugend erschaffen, finden sich die Züge des Bildes Gottes wieder“.

Anmerkung 10 (Seite 349, Vierte Frage unten: ins „Irrenhaus“ gesteckt):
Voltaire verwendet „Petites-Maisons“, die „kleinen Häuser“, die zu dem Kloster in Saint- Germain-des-Prés in Paris gehört hatten und seit 1557 als Krankenhaus und Altenheim fungierten. Zunächst für Arme eingerichtet, lebten dort auch ca. 400 Pariser Bürger, die nicht arm waren und auf Kosten ihrer Familien untergebracht wurden. Für sie war das Grand Bureau des Pauvres zuständig, das bei ihrem Tod ihr Erbe erhielt. Im 18. Jh. hatte das Krankenhaus vier Abteilungen, von denen eine für die Geisteskranken zuständig war. Die ist auch in den vielen Zitaten gemeint, wenn von den Petites Maisons die Rede ist, in die die politischen Gegner eigentlich hineingehörten.

Anmerkung 11 (Seite 351, „Geschichte der Heiligen Maria, der Ägypterin“):
Der Tag der hl. Maria von Ägypten (345-421) wird am 2. April gefeiert. Sie floh mit 12 Jahren aus dem väterlichen Haus in Alexandria und verbrachte nach Petro de Ribadeneira (spanischer Jesuit 1527 -1611, dem Maria in seinen Lebensbeschreibungen von Heiligen ganz offenbar die Phantasie beflügelte), ein Leben, „indem sie alle Arten des Lasters auskostete, nicht für Geld oder anderweitige Vergünstigungen, sondern lediglich, um ihre Lust zu befriedigen“. Als Maria ein Schiff besteigen wollte, um nach Jerusalem zu fahren, beschloss sie, als Bezahlung ihren Körper all denen anzubieten, die ihn begehrten und verursachte so einen Skandal unter den Pilgern. Nach ihrer Bekehrung zum Christentum tat sie Buße und lebte, ganz nackt, aber von den langen Haaren vollständig bedeckt, 47 Jahre lang in der Wüste. Als sie starb, kam ein Löwe , leckte ihr die Füße und grub mit seinen Tatzen ihr Grab. Nach Ribadeneira ereignete sich die Bekehrung natürlich in Jerusalem, Voltaire verlegte sie nach Ägypten.

Anmerkung 12 (Seite 352, „die heidnische Religion hat sehr wenig Blut vergossen, die unsere hat die Erde damit bedeckt“):
Nach Plinius (n.h. XXXI) und Plutarch (Quaest. Roman. LXXXIII, 283f.) wurden in Rom Menschenopfer durch einen Senatsbeschluss des Jahres 97 v.u.Z. abgeschafft. Vorher hat es dort Menschenopfer gegeben – Voltaire erwähnt es in La Philosophie de l’histoire: „Denn während man sonst beim Gottesdienst keine wilden, barbarischen Sitten kannte, sondern im Ganzen den milden griechischen Anschauungen folgte, so fühlten sich die Römer damals beim Ausbruch des Krieges (gegen die Kelten, 225 v.u.Z.) gedrungen, … zwei Griechen, Mann und Frau, und ebenso zwei Gallier auf dem sogenannten Rindermarkt lebendig zu begraben;“ (Plutarch, Marcellus 3). S. auch Schwenn, Friedrich, Die Menschenopfer bei den Griechen und Römern (1915, S. 186).

Anmerkung 13 (Seite 353 Ende des Artikels: ab der 1765 erschienenen Ausgabe des Dictionnaire Philosophique (Editionsort Varberg) fügte Voltaire hier eine achte Frage an, die ein interessantes Licht auf seine Position in Glaubensdingen wirft:

Achte Frage

Muss man nicht sorgfältig die Staatsreligion und die Religion der Theologen unterscheiden? Die des Staates fordert, dass die Imame Register der Beschnittenen führen, die Pfarrer oder Priester Register der Getauften, dass es Moscheen, Kirchen, Tempel gebe, Tage, die der Anbetung und der Ruhe gewidmet sind, durch das Gesetz festgelegte Riten; dass die Ausführenden dieser Riten Ansehen ohne Macht genießen; dass sie dem Volk die guten Sitten beibringen, und dass die Diener des Gesetzes über die Diener der Tempel wachen. Diese Staatsreligion kann zu keiner Zeit irgendwelche Zwistigkeiten hervorrufen.
Mit der Religion der Theologen ist es nicht das Gleiche; diese ist die Quelle aller Dummheiten und aller vorstellbaren Zwistigkeiten; sie ist die Mutter des Fanatismus und der Zwietracht der Bürger, das ist der Feind der menschlichen Gattung. Ein Bonze behauptet, dass Fo ein Gott ist, dass er von den Fakiren vorhergesagt wurde, dass er von einem weißen Elefanten geboren wurde, dass jeder Bonze mit ein paar Grimassen einen Fo machen kann. Ein Talapoin sagt, dass Fo ein heiliger Mann war, dessen Lehre die Bonzen verdorben haben und dass Sammonocodom der wahre Gott ist. Nach hundert Argumenten und hundert Widerrufen kamen die beiden Parteien überein, sich an den Dalai Lama zu wenden, der dreihundert Meilen von ihnen entfernt verweilt und der unsterblich und sogar unfehlbar ist. Die beiden Parteien schicken ihm eine feierliche Deputation. Der Dalai Lama beginnt nach seinem heiligen Brauch damit, ihnen die Ausbeute seines geschlitzten Stuhls [Anm. CV: Der geschlitzte Stuhl war der damals in Frankreich übliche Ausdruck für Nachttopf] auszuteilen.
Die beiden rivalisierenden Sekten erhalten ihn zunächst mit dem gleichem Respekt, lassen ihn in der Sonne trocknen, und fügen ihn zu kleinen Rosenkränzen zusammen, die sie andachtsvoll küssen. Doch seit der Dalai Lama und sein Rat sich im Namen Fos ausgesprochen haben, gibt es die verurteilte Partei, die die kleinen Rosenkränze dem Vize-Gott an die Nase wirft und ihm hundert Schläge mit Steigbügelriemen geben will. Die andere Partei verteidigt ihren Lama von dem sie gutes Land erhielt; alle beide bekämpfen sich lange Zeit; und wenn sie es müde sind, sich gegenseitig zu zerstören, zu ermorden, zu vergiften, ergehen sie sich in heftigen Schmähungen; und der Dalai Lama lacht darüber und verteilt noch weiterhin den Inhalt seines geschlitzten Stuhls an jeden, der gerne die Absonderungen des guten Vaters der Lamas erhalten will.