Die Voltaire Foundation und Theodore Besterman.

Auszugsweise Übersetzung des Artikels (Les deux Mondes 10-2011) von Rainer Neuhaus

Aurélie Julia

(….)
“Das erste gebundene Buch, das ich von meinem eigenen Geld kaufte, war ein Voltaire – die Erzählungen. Ich liebte es so sehr, daß ich sofort begriff, daß ich für den Rest meines Lebens Voltairianer sein würde. Ich war 12 Jahre alt.”(1)

Am 22 November 1904 in Lodz, Polen, geboren verließ Theodore Besterman sein Land in den 20er Jahren ins verräterische England-Albion. Von Natur aus wißbegierig und neugierig, arbeitete er auf dem Gebiet der Parapsychologie und kam schnell zu beachtlichem Reichtum. Neben seinen beruflichen Tätigkeiten pflegte er seine Leidenschaft, die Bibliographie. Der Kenner der Aufklärung liebte Wörterbücher und andere wissenschaftliche oder künstlerische Arbeiten so sehr, daß er Wörterbucher der Wörterbücher, Enzyklopädien der Enzyklopädien und sogar Bibliographien der Bibliographien herausgab, das heißt monumentale Werke in zehn, zwanzig oder sogar fünfzig Bänden. Mit wem arbeitete er zusammen? Mit niemandem. Theodore Besterman schuf seine Quartanten selbst, so umfangreich war sein Wissen, so belesen war er und dabei möglicherweise auch leicht exzentrisch.

Wie er es schon als kleiner Junge war, blieb dieser begabte Mann zeitlebens vom Geist Voltaires bewohnt. Da Geld keine Rolle spielte, begann er Briefe, Manuskripte, Erstausgaben zu sammeln…kurz: alles, was mit dem Philosophen zu tun hatte. Eine Entscheidung der UNESCO, mit der er nach dem 2. Weltkrieg zusammenarbeitete, brachte ihn endgültig dazu, sich auf die Untersuchung des 18. Jahrhunderts zu spezialisieren: niemand in der Organisation wollte ihn bei seinem Bemühen, eine Bibliographie der Bibliographien herauszubringen, unterstützen. Dann sollte es so sein. Thomas Besterman schlug die Tür zu und konzentrierte sich von da ausschließlich auf Voltaire. Ein neues Kapitel seines Lebens war aufgeschlagen. Die 1950er Jahre waren gerade angebrochen.

Die Villa in Hampstead (eine Vorstadt im Norden Londons), wo die Bücher des Sammlers lagerten, war schließlich zu klein geworden. Theodore Besterman war ehrgeizig, er sah sein Werk als ernsthaften Versuch, unser kulturelles Erbe zu bewahren, er benötigte für sein Projekt geeignete Räumlichkeiten.
Da Frankreich für seine Vorstellungen nicht empfänglich war (das Land kam gerade aus einem Krieg und hatte andere Sorgen), wendete er sich an Genf: die Schweizer waren seinem Ersuchen gegenüber entgegenkommender. Sie hatten sogar den perfekten Ort: Les Délices, einer der Wohnorte Voltaires. Dort hatte er sein Poème sur le désastre de Lisbonne geschrieben, das sich mit dem Erdbeben vom 1. November 1755 beschäftigte, wo mehr als 30.000 Opfer gezählt wurden. Dort erlebte der Ausgebürgerte den Anfang des Siebenjährigen Krieges und dort begann er mit der Abfassung des Candide.
Les Délices war die Bühne für eines der Schlüsselereignisse in Voltaires Leben: Naturkatastrophen und bewaffnete Auseinandersetzungen lösten ein Nachdenken über die Vorsehung aus, die Verheerungen, führten ihn dazu, sich über Popes und die Anhänger Leibniz’ mit ihrem ‘Alles ist gut’, lustig zu machen.
Die Stadt Genf hatte das große Anwesen 1929 erworben und in ein Apartmenthaus umgewandelt. Andrew Brown, ehemaliger Sekretär Theodore Bestermans, hat erzählt, was danach geschah:

“Die Verhandlungen waren schwierig, führten aber zu einer Vereinbarung nach der Besterman seine Voltairesammlung der Stadt vermachte, während die Stadt in Les Délices ein Voltaireinstutut und Museum schuf, das mit einem laufenden Budget versehen war. Thomas Besterman sollte dessen Direktor ehrenhalber auf Lebenszeit werden. Alles war bestens geregelt. Das Gebäude wurde hergerichtet, die Sammlungen aufgebaut und das Institut öffnete 1954 für das Publikum und die Forscher seine Pforten.“(2)

Einige Jahre später kam es zu Problemen: Theodore Besterman betrachtete die Les Délices-Sammlung zu sehr als seine eigene… Die Genfer wurden gegenüber Thomas Besterman mißtrauisch und beschlossen, ihn anzuklagen. Der Direktor wechselte sofort auf die andere Seite des Ärmelkanals und betrat erneut das Territorium ihrer Hoheit Elisabeth II. Die Polizei erließ einen internationalen Haftbefehl. Da ein Ausweisungsabkommen nicht existierte, drohte dem lieben Angeklagten nichts, alles war daher bestens geregelt in der besten aller möglichen Welten.
Die Angelegenheit war damit aber nicht zu Ende: vom 15 bis 24. Juli 1971 wurde der dritte internationale Kongress zur Aufklärung unter Thomas Bestermans hochstpersönlicher Präsidentschaft in Nancy abgehalten. Am Tag vor der Konferenz, erhielt einer der Organisatoren einen Anruf: der Präfekt der Region Meurthe et Moselle wollte ihn in seinem Büro sehen, dringend. Dort angekommen, lange nach Einbruch der Dunkelheit, erfuhr der für die Organisation Verantwortliche, worum es ging. Um einen Skandal zu vermeiden, wurde Thomas Besterman gebeten, sich nach Luxemburg zu begeben. Während die Einwohner von Meurthe et Moselle schliefen, raste ein Bentley durch die Nacht. Eine Episode nicht ohne Beigeschmack. Nachdem er Les Délices verlassen hatte, ließ Bestermann sich in Thorpe Mandeville nieder, ein kleines Dorf nicht weit von Banbury in Oxfordshire. Dort gründete er eine Stiftung um die Arbeit, die er in Genf begonnen hatte, fortzuführen.

Aber kehren wir zurück zu verlegerischen Arbeit. Als der zukünftige Direktor nach Les Délices kam, stellte er einen jungen Sekretär, Andrew Brown, an. Zusammen gingen sie einige gewaltige Projekte an: nach Voltaires ‘Carnet’ (Notizen, 1952 veröffentlicht, also vor der Ankunft in Genf)), kam die Correspondance an die Reihe (1953.1965). Sie zählte zwanzigtausend Briefe in hundertsieben Bänden. Theodore Besterman editierte den Text und kommentierte ihn in Englisch. Man kann sich den unglaublichen Umfang dieses Projektes nur vorstellen. Als nächstes wurden die Studies on Voltaire and the Eighteenth Century herausgebracht, eine Serie von Monographien in zweisprachig, Englisch-Französisch, verlegten Bänden, die heute über 500 Titel umfasst. Die bedeutendste Aufgabe ist sicherlich die Herausgabe der Ouevres Complètes (Sämtliche Werke) Voltaires. Worum handelt es sich dabei? Um die erste wissenschaftliche und kritische Ausgabe, das heißt die Veröffentlichung aller Werke und ihrer Varianten, mit Anmerkungen führender Spezialisten versehen. Theodore Besterman erlebte die Veröffentlichung der ersten beiden Bände. Unglücklicherweise ließ seine Gesundheit nach und der Endsechziger überlegte, wie er sein Vermächtnis gestalten sollte: Er vermachte seine Stiftung der Universität Oxford und starb am 10. November 1976.

Die 1980er und 1990er Jahre

Nach Theodore Bestermans Tod wurde Andrew Brown gebeten, die Leitung der Voltaire Stiftung zu übernehmen. Der neue Direktor wußte, wie man Bücher herstellt: sein fundiertes technisches Wissen gab sich nicht mit fast Gutem zufrieden und zielte auf Perfektion bis ins letzte Detail, so daß die Qualität der Bände gesteigert werden konnte. Seine Frau, Ulla Kölving, verstärkte die Gruppe. Das Paar wollte die Aufgaben der Stiftung erweitern und integrierte andere berühmte Namen wie die Montesquieu (die Gesamtausgabe seiner Werke), Helvétius, Madame de Grafigny (ihre Korrespondenz) in das Veröffentlichungsprogramm. Die Herausgabe von Voltaires Sämtlichen Werken wurde mit je einem neuen Band pro Jahr fortgesetzt. In der 1980er Jahren nahm das Herausgeberkomitee eine elektronische Version von Voltaires Werk in Angriff, das die einfache Suche nach Schlüsselwörtern und Satzteilen ermöglichen sollte. Die Bücher waren teuer, daher suchte Andrew Brown nach einem Verleger in Frankreich. Er wählte Aux Amateurs de livres, ein Haus, das seit 1930 Bibliotheken und Institute auf der ganzen Welt belieferte. Jedoch, wie Andrew Brown leider zu spät bemerkte, hatte Aux Amateurs keine Bücher in Frankreich verkauft. Da die Verkäufe nicht zufriedenstellend waren, gründete er in Frankreich einen Verlag, um die Bücher zu vertreiben, das war die Geburtsstunde von ‘Universitas’. Monographien, Untersuchungen und ausgefeilte Verzeichnisse erschienen, wie etwa das Dictionnaire des journaux 1600- 1789 (1991), das Dictionnaire des constituants 1789-1791 (1991), und La Face cachée des Lumières: recherche sur les manuscrits philosophiques clandestins de l’âge classique (1996). Am Ende der 1990er Jahre verließ Andrew Brown die Stiftung und ließ sich in Ferney nieder, wo er im Jahr 2000 ein Zentrum für Studien zum 18 Jahrhundert errichtete. Nicholas Cronk, Professor für Französische Literatur an der Universität Oxford wurde zum neuen Direktor in der Banbury Road 99 ernannt.

Seit 2000

Die finanzielle Lage der Stiftung war zum Milleniumswechsel nicht eben berauschend, sie war vom Konkurs bedroht. Um eine Schließung zu vermeiden, mußten dringend Schulden abgebaut werden. Die Verantwortlichen suchten Fördermittel und Spenden von privaten und öffentlichen Stellen. Mögliche Kandidaten waren jedoch wenig aufgeschlossen, Wer würde die Herausgabe von Voltaires Sämtlichen Werken unterstützen, wenn niemand wußte, wie lange das dauern würde? Um eine Antwort auf diese Frage zu finden, nannte Nicholas Cronk 2018 als Enddatum dieses faszinierenden Abenteuers. Die Zahlen machen schwindlig: die Gesammelten Werke werden 200 Bände umfassen, um also den Zeitplan einzuhalten musste die Veröffentlichungszahl versechsfacht werden, was bedeutete (und noch immer bedeutet), dass alle zwei Monate ein neuer Band herauszubringen ist. Um dieses Ziel zu erreichen – und es wird erreicht werden – 2018 ist in 99, Banbury Road zu einer goldenen Zahl geworden! – werden die Werke fünfzig Jahre Arbeit (1968 – 2018) gefordert haben. 30.000 € sind für jeden zu publizierenden Band budgetiert und eine elektronische Version ist geplant.
Angesichts des anspruchsvollen Rhythmus, in dem die Bücher erscheinen sollen, befürchtet man vielleicht, daß die wissenschaftliche und handwerkliche Qualität nicht eingehalten werden können. Aber nichts dergleichen: es wird sorgfältig und gründlich gearbeitet, jedes Buch wunderschön gebunden, auf bestem Papier gedruckt. Alles wird in bester bibliophiler Tradition erledigt.

Es ist schon erstaunlich, daß das anspruchsvollste Projekt einer kritischen Ausgabe in französischer Sprache außerhalb Frankreichs unternommen wird. Wie kann man den britischen Erfolg erklären? Er ist begründet in einer kulturellen Besonderheit: mehr der technischen Entwicklung eines Buches zugewandt als seiner Geschichte – insofern im Gegensatz zu den französischen Nachbarn – entwickelte Großbritannien nach 1920 ein neues, materielle Bibliographie genanntes Forschungsgebiet. Diese wissenschaftliche Methode – manchmal sehr arbeitsintensiv, das sei zugestanden – betrachtet jedes einzelne Detail, das mit dem physischen Entstehen eines Buches einhergeht. Als Ergebnis davon erstellen britische Bibliographen eine genuine Archäologie der analysierten Bücher. In dieser Forschungsrichtung liegt gewiß einer der Schlüssel zum Erfolg bei der Herausgabe der Sämtlichen Werke.

So stolz es auch immer ist, hat Frankreich die Leistung in Übersee doch anerkannt: 2010 bekam die Voltaire Foundation von der Académie française den Preis Hervé-Deluen, der Personen oder Institutionen verleihen wird, die die französische Sprache fördern.

Nicholas Cronk kann sich noch eines anderen Erfolgs rühmen: der Erstellung einer elektronischen Datenbank, der Electronic Enlightenment, die französische, englische und anderssprachige Briefe des 18. Jahrhunderts digitalisiert (3). Voltaires 20.000 Briefe sind somit jetzt online verfügbar. Mit dieser mehrsprachigen Website befinden wir uns wahrlich am Schnittpunkt zwischen dem Geist der Aufklärung und dem 21. Jahrhundert.

Ist das alles, was über die mutige Stiftung (4) zu sagen wäre, die 2011 ungefähr 15 Personen beschäftigte? Sicherlich nicht, aber da „das Geheimnis zu langweilen, darin besteht, alles zu sagen“(5), wird es das beste sein, mit Auslassungspunkten abzuschließen….

1 René Johannet, ‘Aux Délices’, Revue des Deux Mondes, 1 Octobre 1955.

2 Andrew Brown, ‘La Fondation Voltaire de l’Université d’Oxford’, Revue des Deux Mondes, avril 1994.

3 Siehe die Website www.e-enlightenment.com.

4 www.voltaire.ox.ac.uk.

5 Voltaire, Sept discours en vers sur l’homme.

Rainer Neuhaus, Februar 2014

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