Über die Toleranz

Traité sur la tolérance 1763 à l`occasion de la mort de Jean Calas.

Hier schreibt Voltaire in vollem Aufruhr nach dem Justizmord an Jean Calas, eines Toulouser Baumwollhändlers und Hugenotten. Letzteres war Calas‘ einziges Vergehen: er war Hugenotte, gehörte nicht der katholischen Kirche an. Voltaire fordert zur Zivilisierung der Menschheit zuallererst Toleranz. Darunter versteht er aber nicht, wie heute so viele, dass man ohne Sinn und Verstand alles herausplappern können soll, was einem in den Kopf kommt und auch nicht, dass man seinem Todfeind jederzeit, auf allen Kanälen Propagandaplattformen bieten muss („Pressefreiheit in Kuba“).


Toleranz bedeutet für Voltaire vor allen anderen Dingen, dass man diejenige Institution, die jede abweichende Meinung  Jahrhunderte lang mit Feuer, Schwert und Scheiterhaufen ausgelöscht hat, endlich zwingen muss, gegenüber anderen Religionsgemeinschaften und anderen Meinungsäußerungen  zurückzustecken: die Kirche.
Deshalb ist diese Schrift Voltaires nicht besonders beliebt und wird ebenso wenig publiziert wie seine ,Nachricht vom Tode des Chevalier de la Barre’, die sich mit dem unglaublichen Todesurteil gegen de la Barre wegen Nichtgrüßens einer katholischen Prozession befasst.

In einem üblen Machwerk “Schule der Toleranz”   bringt es der Scherz Verlag (Hrsg. Gert Woerner) tatsächlich fertig, sich auf Voltaires Schrift  zu beziehen, ohne den Prozess Calas auch nur ein einziges Mal zu erwähnen und außerdem Voltaires Kritik an der Kirche komplett zu unterschlagen. Voltaire wird als Klassiker, dessen Namen Verkaufserfolge bringt, vergewaltigt. Anders in Orieux‘ Voltairebiographie: ”In der Geschichte des modernen Europa ist die Affäre Calas ein Markstein. Durch seinen Triumph über eine schreckliche Ungerechtigkeit erwarb sich Voltaire unvergleichlichen Ruhm. Alle Menschen, die nach der Rehabilitierung von Calas leben, schulden Voltaire in gewissem Sinne eine bessere, hellsichtigere und menschlichere Gerechtigkeit”(S.670).

in deutscher Sprache (Auswahl, weitere Angaben in der Bibliothek Voltaire Suchmaschine, dort bei ‚Kurztitel (dt)‘ ‚über die Toleranz‘ auswählen ): 

Voltaires Artikel „Tolerance“
aus dem Dictionnaire philosophique, den wir übersetzt haben und hier zur Verfügung stellen.
 
Voltaire, Abhandlung über die Religionsduldung,
aus dem Französischen des Herrn von Voltaire übersetzt und mit einigen Anmerkungen begleitet, Leipzig, Caspar Fritsch, 1764, 230 S.

Voltaire, Recht und Politik,
herausgegeben und mit einem Nachwort von Günther Mensching, Frankfurt am Main 1978 (Syndikat) enthält die Übersetzung von “Über die Toleranz”, den Bericht vom Tode des Chevalier de la Barre, Über Gewissensfreiheit und über den Prozess gegen Montbailli. Der Herausgeber war Philosophieprofessor in Hannover.

Albert Gier/Chris E. Paschold, Voltaire, Die Toleranz-Affäre, 
Bremen: manholt 1993,166 S., eingeleitet und übersetzt von den Autoren enthält der Band die Schriften “Über die Toleranz”, den „Bericht vom Tode des Chevalier de la Barre“ und den „Bericht über den Fall Lally“ ( Fragments historiques sur l’Inde et sur le général Lally, 1773).  Die Autoren glänzen in ihrem Vorwort durch neudeutsche Verwirrung: zwar hat man Calas durch völlig fadenscheinige Aussagen verurteilt – aber trotzdem kann man, meinen sie, nicht wissen, ob er seinen Sohn nicht etwa doch getötet hat.

Die Affäre Calas, herausgegeben und mit einem Nachwort  versehen von Ingrid Gilcher-Holtey, Berlin: Insel, 2010, 295 S, 
Der im Insel Verlag (Suhrkamp) erschienene Band ist nach ‚Voltaire, Die Toleranz-Affäre’ von Gier/Paschold von 1993 die zweite Veröffentlichung zum Thema Calas mit ähnlichem Inhalt in deutscher Sprache und, um es gleich vorweg zu sagen, sie unterscheidet sich positiv von ihrem Vorgänger. Zwar ist die Übersetzung von Philipp Rang etwas holperig und eilig zurechtgezimmert, was angesichts des Anspruchs, Texte von Voltaire vorzustellen, erstaunen mag, jedoch ist die Übersetzung soweit wir überprüfen konnten, nie sinnentstellend.