Volker Reinhardt, Voltaire, Die Abenteuer der Freiheit, München: Beck, 2022, 607 S.

Ein allererster Eindruck, von Rainer Neuhaus.

Seit der Übersetzung von Theodore Bestermans Voltairebiographie im Jahr 1971 hat es in diesem Umfang keine weitere Biographie in deutscher Sprache mehr gegeben. Das mehrbändige Werk von René Pomeau, 1985-1995 in Frankreich erschienen, wurde dort zur verbindlichen Voltaire Biographie, ohne die Reinhardts Publikation wohl nicht möglich gewesen wäre. Er verdankt ihr sehr viel, orientiert sich stark an den dort vorgegebenen Schwerpunkten und steht somit fest auf dem Boden der französischen Voltaireforschung der letzten vierzig Jahre. Trotzdem ist sein Werk nicht nur eine Nacherzählung von Pomeau, insbesondere die ausführlichen Inhaltsangaben zu den wichtigsten Werken Voltaires für sein deutschsprachiges Publikum stellen einen ganz eigenen Beitrag dar. Hier der erste Eindruck:

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Kommentar (4. und letzter Teil: Die Kirche) zum NZZ Interview mit Prof. Reinhardt: „Würde sich Voltaire impfen lassen?“ vom 28.1.2022

Folgende Bemerkung Reinhardts macht stutzig: „Voltaire kämpfte vor allem dafür, die Macht der Kirche zu brechen. Allerdings erfolglos“. 11 Jahre nach Voltaires Tod verstaatlichte die Französische Revolution den kirchlichen Besitz, zwang die Kirchenmänner, den Staat und seine Gesetze höher als den Papst zu stellen: sie entmachtete die Kirche.
Voltaire hatte mit seinem zähen Kampf, unter anderem für die Rehabilitierung Jean Calas und gegen das Terrorurteil, das für den Chevalier de la Barre den Tod auf dem Scheiterhaufen bedeutete, die Grundlage für die Entmachtung der Kirche hergestellt. Wenn Prof. Reinhardt diesen Zusammenhang nicht versteht, ist er es nicht wert, als Voltaireforscher ernst genommen zu werden. Seine Biographie hätte er dann auf den Buchmarkt geworfen, um an einem Trend zu partizipieren, in dem Voltaire gegen die islamistischen Halsabschneider als Schutzpatron eine Renaissance erlebt. Wenn aber Voltaires Verdienste beim Kampf gegen die Infâme nicht in Reinhardts Konzept passen, dann taugt, Professor hin, Professor her, sein ganzes Konzept nichts. Oder war die Bemerkung im Interview nur ein „Ausrutscher“? Wir werden es überprüfen, wenn wir seine Voltaire-Biographie im Detail besprechen.

Kommentar (3.Teil: Wahrheit) zum NZZ Interview mit Prof. Reinhardt: „Würde sich Voltaire impfen lassen?“ vom 28.1.2022

Zwei Fragen und zwei Antworten, die es in sich haben: Laut Prof. Reinhardt gibt es für Voltaire keine „ewigen Wahrheiten“, was der Interviewer freudig aufnimmt: „Und wenn es keine Wahrheit gibt, woran soll man sich denn halten?“ Und Reinhardt: „Für Voltaire gab es nur Wahrscheinlichkeiten“. Woher er diese Weisheit nimmt, wird wohl sein eigenes ewiges Geheimnis bleiben. Voltaire jedenfalls unterscheidet historische Wahrheit von juristischer Wahrheit, nach der man einen Angeklagten überführt. Und diese beiden unterscheiden sich wiederum von der Wahrheit in der Natur. Dort existieren Naturgesetze, die so ewig sind, dass Voltaire sogar glaubt, einen Gott voraussetzen zu müssen, der sie geschaffen hat. Wie die Räder einer Uhr greift dort ein Gesetz in das andere, unveränderlich, ewig.
In seinem Artikel Verité definiert er Wahrheit so: ce qui est énoncé tel qu’il est, was bedeutet: Wahr ist eine Aussage, wenn sie beschreibt, wie etwas ist. Das klingt so gar nicht nach dem Relativismus, dem die beiden NZZ Gesprächspartner so zeitgeistmässig das Wort reden. Im Übrigen ist Voltaires Kritik an den von der Kirche in die Welt gesetzten Wahrheiten auf einer ganz anderen, ideologiekritischen Ebene zu sehen und hat mit erkenntnistheoretischem Relativismus ebenfalls nicht das Geringste zu tun.

Kommentar (2.Teil: Meinungsfreiheit) zum NZZ Interview mit Prof. Reinhardt: „Würde sich Voltaire impfen lassen?“ vom 28.1.2022

Mit einigen Fragen lotet der Interviewer aus, ob es für Voltaire Grenzen der freien Meinungsäußerung gibt – es ist das übliche Spiel und es sind die üblichen Themen, die man der Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit entziehen sollte: Verschwörungstheorien, Holocaust, Impfpflicht, Rassismus, Cancel Culture. Professor Reinhardt zeigt, dass für Voltaire keine einzige Meinung verboten oder unterdrückt werden darf. Reinhardt distanziert sich aber von Voltaire, wenn es um „Holocaust-Leugner“ oder „Rassistische Theorien“ geht, für die „wir [die Meinungsfreiheit] aus guten Gründen nicht gelten lassen“. Welches diese guten Gründe sind und wen er mit dem „wir“ meint, beläßt er im Ungewissen., gesteht jedoch im nächsten Satz zu: „Was in den Halbschatten gedrängt wird, wird umso attraktiver“. Verbannt man also etwa die Holocaustleugner aus der öffentlichen Debatte, um ihre Ideen um so attraktiver zu machen? Ein interessanter Gedanke – aber mit dem Potential, eine Verschwörungstheorie zu werden.

Kommentar (1.Teil) zum NZZ Interview mit Prof. Reinhardt: „Würde sich Voltaire impfen lassen?“ vom 28.1.2022

Voltaire, in seinen Philosophischen Briefen von 1728, stellt die ersten Versuche mit der Pockenschutzimpfung vor. Prof. Reinhardt hätte erwähnen können, dass Voltaire den Kampf, den vor allem Lady Montaigu in London für die Pockenschutzimpfung und gegen die Ignoranten ihrer Zeit (‚das haben wir noch nie so gemacht‘) führte, positiv hervorhob. Dann hätte er sich seine Relativierung am Ende sparen können: Für das Problem der Pocken war die Pockenschutzimpfung die ideale Lösung – es stimmt einfach nicht, dass es, wie er meint, für „kein Problem eine ideale Lösung“ gibt. Wenn dem Auto von Herr Reinhardt z.B. das Benzin ausgeht, ist die ideale Lösung, es nachzufüllen, oder?

„Würde sich Voltaire impfen lassen? Und taugt ein weisser Mann des 18. Jahrhunderts als Vorbild für Toleranz?“ NZZ, 28.1.2022

In einem Interview mit Professor Reinhardt (Universität Fribourg) versucht ihn der Fragesteller immer wieder mit Tagesaktuellem aufs Glatteis zu führen. Das gelingt nicht. Vor allem, weil Reinhardt, der gerade eine voluminöse Voltairebiographie herausgegeben hat, eisern an der Forderung Voltaires festhält, nach der die Meinungsfreiheit für Alle und für jedes Thema zu gelten hat -ohne Ausnahme. Wir haben das Interview in vier aufeinanderfolgenden Beiträgen kommentiert (Impfen, Meinungsfreiheit, Wahrheit, Kirche). Man kann das Interview in der NZZ online nachlesen.

Philosophisches Taschenwörterbuch:
Baptême – Taufe (Kommentare)

Die Taufe steht in der Reihe der sieben Sakramente am Anfang, soll sie doch die Tür zur Aufnahme in die christliche Gemeinde darstellen. Nicht erstaunlich, dass Voltaire sich diesem Thema widmete. Er war schon zu seiner Zeit im englischen Exil (1726-1728) in Kontakt mit Mitgliedern der Londoner Quäkergemeinde gekommen und berichtet über deren Ablehnung der Taufe, da sie ja Christen und keine Juden seien, im ersten seiner Englischen Briefe („Mein lieber Herr, sagte ich, sind Sie getauft?“)
Dass es sieben Sakramente gibt (Taufe, Firmung, Abendmahl, Buße, Krankensalbung, Weihe und Ehe), ist seit dem 16. Jhdt., dem Konzil von Trient in der katholischen Glaubenslehre fest eingemeisselt. Die Taufe ist nicht nur eine Aufnahme, durch sie soll auch die Erbschuld getilgt werden, die Adam durch sein Apfelessen auf die ganze menschliche Gattung geladen hat.
Die Aufnahme von Kindern in die Religionsgemeinschaft, bevor diese überhaupt selbständig denken können, war der Aufklärung ein Gräuel und wurde – wie andere Initiationsriten auch – eher als ein Gewaltakt denn als eine Gnade aufgefasst. Das Konstrukt der Erbschuld/Erbsünde wurde als Instrument der katholischen Kirche gesehen, mit der die Infame versuchte, ihren Schäflein irrationale Angst und Schuldgefühle einzuflößen, so etwa ironisch Rousseau (Mémoire à M. de Mably): „[Die Erbsünde] für die wir sehr gerecht für Fehler bestraft werden, die wir nie begangen haben“ und ablehnend (Lettre à Christophe de Beaumont): „Das Grundprinzip aller Moral […] ist, dass der Mensch ein von Natur aus gutes Wesen ist; dass es keine ursprüngliche Perversität im menschlichen Herzen gibt“. In der Ausgabe des Philosophischen Wörterbuchs von 1767 fügte Voltaire einen extra Artikel zur Erbsünde („péché originel“) hinzu. Darin beschreibt er die Eiertänze der christlichen Kirchen bei der Einführung und Begründung ihrer Erbsündenerzählung. Er hütete sich, diese zu kritisch zu bewerten und beschränkte sich darauf, wie bei dem vorliegenden Artikel Baptême auch, das groteske Wirrwarr von sich widersprechenden Regeln, in das sich die christlichen Theologen verwickelten und verwickeln, darzustellen.

Die folgenden Kommentare zu einzelnen Textstellen beziehen sich mit ihren Seitenangaben auf die von uns bei Reclam herausgegebene Ausgabe des Philosophischen Taschenwörterbuchs (2020):

Anmerkung 1 (Seite 690 „Johannes taufte im Jordan“.): Johannes der Täufer predigte die „Taufe aus Reue“ zur Vergebung der Sünden und tauft im Jordan (Markus, I, 4-5, ebenso Matthäus III, 6; Lukas III, 3). Er taufte Jesus (Matthäus III, 13-15; Markus, I, 9; Lukas III, 21). Ohne jemals selbst zu taufen, empfiehlt Jesus seinen Jüngern, „im Namen des Vater, des Sohnes und des heiligen Geistes“ zu taufen (Matthäus XXVIII, 19; Markus, XVI, 15-16).

Anmerkung 2 (S. 61, 2,Absatz, Kaiser Konstantin, den Taufe von allem reinigte): Kontantin war der Mörder seines Schwiegervaters Maximinian, seines Schwiegersohnes Licinius, seines ältesten Sohnes Cris-pus, seiner Frau Fausta.

Anmerkung 3 (S61, „Man befragte den heiligen Cyprian“): Thascius Caecilius C., Rhetor in Karthago, wurde 246 Christ, 248 Bischof. Während der Verfolgung durch Decius 250 leitete er die Gemeinde von einem Versteck aus. Er starb 258 unter Valerianus I. den Märtyrertod.

Anmerkung 4 (S. 62 Mitte: „Waren jene, die in der ersten Woche starben, verdammt“):Dies bezieht sich auf Augustinus, der die ungetauften Kinder wegen der Erbsünde in die Hölle kommen ließ (Briefe, 215).

Anmerkung 5 (S. 62 Mitte, der Limbus, eine Art Vorhölle): 2005 entschied eine vatikanische Kommission, dass die Seelen nicht getaufter, gestorbener kleiner Kinder doch direkt in das Paradies kommen.

Philosophisches Taschenwörterbuch:
Athée, Athéisme – Atheist, Atheismus (Kommentare)

Hintergrund:
Wer im 18. Jahrhundert die Meinung vertrat, dass es keinen Gott gäbe, zog dadurch nicht nur die Existenzberechtigung der Kirche in Zweifel, sondern auch die Legitimität des Königs, der Monarchie, die ihre Macht direkt ‚von oben‘ erhalten zu haben behauptete. Die Kirche verbreitete diese Erzählung gerne, um so mehr, als ihr im Gegenzug wertvolle Vorteile (Steuerbefreiung) und Pfründe, Staatsposten zuflossen. Jeder, den Kirche und Monarchie des Atheismus beschuldigten, war gefährdet, jeder, der offen atheistische Positionen vertrat, war in Lebensgefahr. Diderot wurde wegen Atheismusverdacht drei Monate ins Gefängnis geworfen, dem Chevalier de la Barre wurde wegen Atheismus – man wagt es kaum zu glauben – vom weltlichen Arm der Kirche die Zunge herausgeschnitten. Anschließend wurde er öffentlich verbrannt und mit ihm Voltaires Dictionnaire philosophique portatif, das der junge de la Barre besessen hatte. Erst die Französische Revolution machte mit der Adels- und Klerusherrschaft endgültig Schluss.
Die erste offen atheistische Schrift der Neuzeit, Jean Mesliers Testament, konnte ab 1729 nur als Manuskript zirkulieren und wurde erstmals 1762 von Voltaire in einem entschärften Auszug: Extraits des sentiments de Jean Meslier publiziert. Ganz aufgeweckte Geister unserer Tage wollen ihm daraus einen Vorwurf machen, dass er nur eine entschärfte Kurzversion zu veröffentlichen wagte. Das aufsehenerregende Werk L’homme machine von La Mettrie erschien 1748 anonym und zwang seinen Autor trotz versuchter Geheimhaltung ins Ausland zu fliehen (er fand bei Friedrich dem Großen in Berlin Schutz) und des Baron d’Holbachs Système de la Nature, auf La Mettrie aufbauend, konnte 1770 nur anonym erscheinen. Da man den anonymen Autor dem Kreis der Philosophen zuordnete, sah sich Voltaire gezwungen sich mit seiner Réponse au système de la nature umgehend davon zu distanzieren. Über diese Zusammenhänge informiert unterhaltsam und noch immer aktuell Fritz Mauthner in seiner Geschichte des Atheismus (S.63 ff).
Es ist eindeutig, dass Voltaire in den offen atheistischen Schriften eine große Gefahr für sich selbst und für die Sache der Aufklärung überhaupt sah. In seinem Aufsatz zum Thema Voltaire contre le Système de la nature (Cahiers Voltaire 20, 2021, S. 9 – 38) zeigt Gerhardt Stenger (Université Nantes) jedoch anhand der Anmerkungen, die Voltaire in seinem Exemplar von d’Holbachs Système de la Nature notiert hat, dass seine öffentliche Kritik eindeutig taktisch und nur in sehr geringem Maß Ausdruck seiner eigenen Meinung war (das persönliche Exemplar Voltaires ist in der Bibliothek von St. Petersburg – Katharian der Großen sei Dank – bis heute erhalten geblieben).
Die Aufnahme eines Artikels Atheismus in das Philosophische Taschenwörterbuch war vor diesem Hintergrund ein Wagnis. denn natürlich stürzten sich alle Schnüffler und Denunzianten darauf, um Voltaire daraus einen Strick zu drehen. Der aber nutzte die Gelegenheit, um genau sie, die fanatischen Verfolger und Meuchelmörder, an den Pranger zu stellen. Dass er sich das trauen konnte, lag an seiner ökonomischen Unabhängigkeit und an der Lage seines Wohnsitzes Ferney: Im Notfall hätte er über die Schweizer Grenze ins preußische Neuendorf entkommen können.

Die folgenden Kommentare zu einzelnen Textstellen beziehen sich mit ihren Seitenangaben auf die von uns bei Reclam herausgegebene Ausgabe des Philosophischen Taschenwörterbuchs (2020):

Anmerkung 1 (S.49 Mitte „[Aristophanes] würden wir nicht erlauben, seine Farcen auf dem Jahrmarkt von Saint Laurent aufzuführen“: Im Osten von Paris wurde seit Mitte des 15. Jhdts. von August bis September der große Jahrmarkt von St. Laurent abgehalten mit vielen Gauklern, Bänkelsängern, Theaterleuten.

Anmerkung 2 (S.50 Mitte „Die Römer haben keinen einzigen Philosophen wegen seiner Ansichten verfolgt“: Die Aussage Voltaires bezieht sich auf religiöse Ansichten. Dazu er bereits in seinem sein Werk Traité sur la Tolérance ein Kapitel verfasst: Waren die Römer tolerant?

Anmerkung 3 (S.50 Mitte „Sowie Kaiser Friedrich Streit mit dem Papst hat, bezichtigt man ihn Atheist zu sein…): ‚Atheist‘ war der Kampfbegriff der Kirche gegen Oppositionelle. Den Kampf Kaiser Friedrich II. gegen den Papst schildert Voltaire im 52. Kapitel seines Essai sur les moeurs (Über den Geist und die Sitten der Nationen).

Anmerkung 4 (S.50 Mitte [Kaiser Friedrich II und Petrus de Vinea]): Im Jahr 1239 exkommunizierte Papst Gregor IX Kaiser Friedrich. Voltaire beschreibt die Auseinandersetzung in seinen Annales de l’Empire; Petrus de Vinea wurde als Berater, Schreiber., Sekretär von Friedrich II hochgeschätzt, dann aber grausam bestraft. Wie es zu dem Zerwürfnis kam, rekonstruiert Kantorowicz in seiner monumentalen Friedrich Biographie

Anmerkung 5 (S.47 Das Konzil von Laodikeia 360 zählte die Apokalypse nicht zu den kanonischen Schriften): Laodikeia ist eine antike Stadt in Phrygien, 6 km nördlich des heutigen Denizli (Türkei) und 10 km südlich von Hierapolis, am Fluss Lykos (heute Çürüksu cayi), einem Nebenfluss des Mäander, gelegen. Es gab dort eine frühe christliche Gemeinde. Die Stadt gehörte zu den sieben von Johannes in der Offenbarung genannten. Erst durch das dritte Konzil von Karthago 397 wurde die Apokalypse offiziell in die Reihe der kanonischen Schriften aufgenommen.

Anmerkung 6 (S.50 unten, Michel de l’Hopital und das Zitat ‚Homo ductus sed verus atheos‘ aus dem Commentarium rerum Gallicarum [Anm. Voltaires]): 1568 zog sich der ultraorthodoxe Bischof von Metz, François de Beaucaire de Péguillon (1514-1591), von seinem Amt zurück, um eine Geschichte Frankreichs der letzten hundert Jahre zu schreiben. 1625, nach dem Tod de Péguillons unter dem Titel “Rerum gallicarum commentarii“ veröffentlicht, enthält das Werk zahlreiche Zeugnisse seiner Verfolgungsbereitschaft gegen die Hugenotten (die er als Häretiker und Atheisten ansieht) und seines ausgeprägten machtpolitischen Instinkts. Ganz im Gegensatz dazu war Michel d’Hospital, oder auch Hôpital, (1505-1573) ein Mann des Ausgleichs und der Toleranz, der während seiner Kanzlerschaft dafür sorgte, dass alle Ketzerprozesse gegen Hugenotten eingestellt wurden. Zu den französischen Religionskriegen (1562 -1598) und Voltaires Sicht siehe Kap. 170 in seinem Essai sur les moeurs (Über die Sitten).

Anmerkung 7 (S 50 unten, Der Jesuit Garasse): François Garasse (1585-1631) war ein fanatischer Vertreter der katholischen Gegenreformation. Seine Gegner titulierte er mit allen möglichen Tiernamen, bevorzugt als Ungeziefer. Im Fall des Ketzerprozesses gegen Vanini war er einer der Haupteinpeitscher. Sein Name rangiert in der Galerie der größten Finsterlinge der Geschichte sicher auf einem der oberen Plätze. Seine Kampfschrift La Doctrine curieuse des beaux-esprits de ce temps ou prétendus tels (1624) wurde im Jahr 2009 tatsächlich neu aufgelegt – siehe dazu die Rezension in Le Monde vom 20. März 2009

Anmerkung 8 (S.51 oben, „Er bezeichnete Théodor de Bèze als einen Atheisten“): Zwar hat Garasse den bedeutenden calvinistischen Theologen nicht als Atheisten bezeichnet, aber als armseligen Idioten , als Dieb eines Silberlöffels, als Häretiker – aus einem einzigen Grunde: de Bèze war vom Katholizismus zum Calvinismus konvertiert und in Genf zum Stellvertreter Calvins und nach dessen Tod 1564 zu dessen Nachfolger geworden. Zur Biographie de Bèze siehe Meyers Konversationslexikon 1885-1889.

Anmerkung 9 (S.51, Vanini): Es ist vor allem Voltaire zu verdanken, dass durch die Aufnahme in das philosophische Taschenwörterbuch die Biographie und der Ketzerprozess gegen Lucilio Vanini (1585 – 1619) der Vergessenheit entrissen wurde. Er ist immer wieder auf den Fall zurückgekommen, in seinen Briefen (D923,D980,D950), in seiner Schrift Sur les contradictions du monde (1742) und im dritten Brief ‚Sur Vanini‘ seiner Lettres à S.A.Mgr. le prince de *** (1767).
Zu Vaninis Leben und Werk siehe unsere Extraseite Voltaire und Vanini.

Anmerkung 10 (S.52, dass Gott eine Kette von Wesen geschaffen hat): Die goldene Kette, die vom Himmel herab zur Erde reicht, ist ein Bild aus dem 8. Gesang der Illias, um die Allmacht Zeus‘ zu zeigen. Platon in seinem Theaitos interpretiert das Bild als Ausdruck des Umlaufs der Planeten um die Sonne.

Anmerkung 11 (S.52 Mitte, „Dieser Francon oder Franconi..“): Der Historiker Gabriel-Barthélemie Gramond (auch Grammont, wie von Voltaire, genannt – sein Vater war der Vorsitzende des Toulouser Gerichts und somit für das Terrorurteil gegen Vanini verantwortlich) behauptete in seinem Historiarum Galliæ ab excessu Henrici 4. libri 18, Francon sei aufrichtig und von vornehmer Herkunft gewesen. Aus seinem Bericht speist sich bis heute, was man über den Prozess weiß. Veyssière de la Croze übersetzte 1733 einiges daraus ins Französische und veröffentlichte es in seiner Dissertation sur l’Athéisme et sur les Athées modernes (in: Entretiens sur divers sujéts d’histoire, S.250 – ) in der er Vanini verteidigt (etwa S.374f). Voltaire verwendete die Abhandlung La Crozes zur Abfassung seines Artikels. Zu Veyssière de la Croze (1661-1739), Philosophieprofessor in Berlin und Erzieher von Wilhelmine von Bayreuth, mit der Voltaire befreundet war, existiert ein kurzer Wikipediaartikel.

Anmerkung 12 (S.53 Mitte, indem man „irgendeinen unschuldigen Ausdruck verdrehte“): Vanini hatte in seinem Dialog (s.Anm 16) einen Atheisten zu Wort kommen lassen. Dessen Äußerungen und Argumente legte ihm nun insbesondere Garasse (s. Anm.7) zur Last.

Anmerkung 13 (S.54 oben, „Vor Pater Mersenne hatte niemand einen so haarsträubenden Unsinn
geäußert“): Der Minimitenpater Mersenne (L’impitiés des déistes, athées et libertins 1624) hatte Vanini beschuldigt, ein Kinderschänder (!) zu sein, außerdem behauptete er, Vanini hätte beabsichtigt, das Christentum zu zerstören.

Anmerkung 14 (S.54 oben, [Mersennes haarsträubender Unsinn] hat historische Lexika verpestet): Etwa den Artikel Vanini in: Le Grand dictionnaire historique 1740 von Moreri.

Anmerkung 15 (S.54 2.Absatz, Pierre Bayle spricht von Vanini als Atheisten): In seinen Pensées sur les comètes widmet Bayle einen Abschnitt dem Schicksal Vaninis, dessen Standhaftigkeit vor Gericht er als Beweis dafür nimmt, dass Atheisten ein Gefühl der Ehrbarkeit besitzen können (§182). Dass eine Gesellschaft aus Atheisten lebensfähig wäre, scheint ihm durchaus möglich, weil auch die Gesellschaft von Gottesgläubigen vor allem durch weltliche Strafen reguliert wird und Christen nur zu oft gegen ihre religiösen Vorschriften handeln. (§161, §172)

Anmerkung 16 (S.54 2.Absatz, Vanini „war in seinen Schriften wie im Leben ein Freigeist“):In seinen Dialogen, enthalten in: De natura arcanis berichtet Vanini seinem Gesprächspartner, was er mit einem Atheisten diskutiert hat – hier zeigt er sich in der Tat als ein aufgeschlossener und toleranter Mensch – als Freigeist eben. Die Dialoge hat Rousselot 1842 ins Französische übersetzt.

Anmerkung 17 (S.54 3.Absatz, Philateles): das ist Peter Friedrich Arpe . Seine Verteidigungsrede Apologia pro Vanino erschien 1712 in Latein und wurde nie ins Deutsche übersetzt. Zu Arpe siehe Artikel in Wikipedia.

Anmerkung 18 (S.54 4.Absatz, Hardouin): Ob Jean Hardouin (1646-1729), der in allem und jedem Atheisten sah, der Autor der Athei detecti war, ist nicht gesichert. Zu Hardouin kann man den englischen Wikipediaartikel lesen (‚Although Hardouin has been called „pathological“, he was only an extreme example of a general critical trend of his time‘) – der deutsche ist ungeniessbar rechtfertigend.

Anmerkung 19 (S.55 2.Absatz, dass die Erlasse der chinesischen Kaiser Predigten sind): Voltaire bezieht sich auf du Halde, Descriptions de la Chine Paris 1725, der in seinem 3. Bd über die Verehrung eines höchsten Wesens bei den Chinesesn berichtet dt.: Ausführliche Beschreibung des Chinesischen Reichs und der grossen Tartarey: Aus dem Französischen mit Fleiß übersetzet, nebst vielen Kupfern Bd. 3, § 33-35 Rostock : Koppe, (1749).

Anmerkung 20 (S.57 unten, Spinoza): Ob Spinoza Atheist war, darf bezweifelt werden, er war eher ein Pantheist. Voltaire jedenfalls folgte Pierre Bayle in der Ansicht, dass er ein Atheist gewesen sei. Zu dem Thema siehe die ausführliche Rezension des Buches Czelinski-Uesbeck, Michael: Der tugendhafte Atheist. Studien zur Vorgeschichte der Spinoza-Renaissance in Deutschland 2007 in der Zeitschrift Information für Philosophie des Meiner Verlags.

Anmerkung 21 (S.57 unten, die Brüder de Witt): Johan de Witt (1625-1672) war als Mitglied des holländischen Rates Regierungschef aller Provinzen der Niederlande. Unter ihm wurde die Monarchie abgeschafft zugunsten einer republikanischen Staatsordnung. Er wird als unbestechlich und tolerant geschildert. Unter seiner Führung konnte Baruch des Spinoza in den Niederlande seine Werke publizieren und war vor Verfolgung geschützt, so wie viele aus Frankreich geflohene Hugenotten. Als unter Wilhelm III. von Oranien die Monarchie wieder Oberwasser bekam, hetzte sie einen blutrünstigen Mob gegen Johan de Witt und seinen Bruder Cornelis, zog deren Bewachung gezielt zurück und lieferte die beiden schutzlos der Meute aus, die sie buchstäblich in Stücke riss. Einige behaupten, man habe ihre Körperteile sogar verspeist. Alexandre Dumas verarbeitete die Ereignisse in seinem Roman Die schwarze Tulpe.

Philosophisches Taschenwörterbuch:
Apocalypse – Apokalypse (Kommentare)

Hintergrund:
Die Offenbarung des Johannes, auch „Apokalypse“ genannt, ist das letzte Buch im Neuen Testament. Ihr Verfasser, Johannes von Patmos, lebte irgendwann um 100 n.u.Z. und phantasiert, was am Ende der Welt wohl geschehen könnte. Er entwickelt Straf- und Schuldphantasien, deren Herkunft aus den tiefen seines Sexuallebens nur zu offensichtlich ist. Wenn es eines Beleges für die von Beginn an vehement sexual- und menschenfeindliche Haltung des Christentums bedürfte, so lieferte ihn unzweifelhaft die Apokalypse des Johannes.

Die folgenden Kommentare zu einzelnen Textstellen beziehen sich mit ihren Seitenangaben auf die von uns bei Reclam herausgegebene Ausgabe des Philosophischen Taschenwörterbuchs (2020):

Anmerkung 1 (S.44 „..in seinem [Justinus der Märtyrer] Dialog mit dem Juden Tryphon „): ein frühchristlich-apologetisches Werk, gegen die Juden gerichtet. Darin ordnet Justinus die Apokalypse fälschlicherweise Johannes dem Täufer zu, der in Ephesus lebte. In seiner 1770 gedruckten, aber bereits Jahre zuvor als Manuskript zirkulierenden Schrift „Discours historique sur l’Apocalypse“ belegt der Genfer Universalgelehrte Firmin Abauzit (1679 – 1767) die Geschichte der fehlerhaften Zuordnung der Apokalypse. Voltaire referiert in weiten Teilen seines Artikels den Text Abauzits. Abauzit stammte aus einer wohlhabenden hugenottischen Familie aus dem französischen Uzès. Sein Lebenslauf ist es wert, immer wieder gelesen zu werden – als mahnendes Beispiel dafür, was religiöser Fanatismus, wenn er staatlicherseits losgelassen wird, anrichtet.

Anmerkung 2 (S.45 Die Seelen der Ägypter): Zu dem Totenkult im alten Ägypten ausführlich Jan Assmann, Tod und Jenseits im Alten Ägypten, München: C.H.Beck, 2001

Anmerkung 3 (S.45 bei Vergil):Aeneis VI,748:
„Bis langwieriger Tag, nach vollendetem Ringe der Zeiten,/ All‘ anklebende Makel getilgt und völlig gekläret/ Stellt den ätherischen Sinn, und die Glut urlauterer Heitre./ Diese, nachdem sie den Kreis durch tausende Jahre gerollet,/ Ruft zum lethäischen Fluß ein Gott in großem Gewimmel:“

Anmerkung 4 (S.46 Tertullian):Quintus Septimius Florens Tertullianus oder kurz Tertullian (* um 150; † um 230) war ein früher christlicher Schriftsteller. Sein Beiname Tertullianus bedeutet in etwa: „Dreimal im Käfig“. Er verfasste mehrere Schriften vor allem gegen Juden und Gnostiker, legte sich aber auch mit christlichen Abweichlern an. Er wurde viel gelesen, im Mittelalter schwindet die Kenntnis von ihm.

Anmerkung 5 (S.47 Kerinthos):Kerinthos oder Cerinthus (1 Jh. n. Chr.) lehnte die Jungfrauengeburt Jesu ab und ebenfalls seinen göttlichen Charakter mit der Geburt. Den soll er erst mit der Taufe erhalten haben. K. war ein Anhänger der Vorstellung des 1000-jährigen wiederauferstandenen Jerusalems und meinte, die jüdischen Vorschriften müssten auch für die Christen gelten.

Anmerkung 6 (S.47 Das Konzil von Laodikeia 360 zählte die Apokalypse nicht zu den kanonischen Schriften): Laodikeia ist eine antike Stadt in Phrygien, 6 km nördlich des heutigen Denizli (Türkei) und 10 km südlich von Hierapolis, am Fluss Lykos (heute Çürüksu cayi), einem Nebenfluss des Mäander gelegen. Es gab dort eine frühe christliche Gemeinde. Die Stadt gehörte zu den sieben von Johannes in der Offenbarung genannten. Erst durch das dritte Konzil von Karthago 397 wurde die Apokalypse offiziell anerkannt.

Voltaire lesen: Das Philosophische Taschenwörterbuch.

Ende 2020 erschien im Reclam Verlag das von der Voltaire-Stiftung erstmalig vollständig auf Deutsch herausgegebene bedeutende Werk der Aufklärung.

Zu jedem Artikel des Philosophischen Taschenwörterbuchs gibt es hier auf unseren Internetseiten eine kurze Inhaltsangabe und den französischen Originaltext, Zug um Zug ergänzt durch einen Kommentar mit Hintergrundinformationen und ausführlichen Anmerkungen. Zum Beispiel: die Kommentarseite zum Artikel „Krieg“. Wie heute debattierten im 18. Jahrhundert echte und falsche Philosophen, natürlich auch Theologen und Ideologen über den Krieg. Einige Mächtige organisierten ihn. Viele litten und starben durch den Krieg, ohne dass man in der öffentlichen Debatte auf das unermessliche Leid – bis heute hat sich daran nichts geändert – das Hauptaugenmerk legte. Darüber empörte sich Voltaire, und sollte auch uns Heutige empören!

Nach über 250 Jahren ist diese antiklerikale Kampfschrift immer noch aktuell. Voltaire zeigt, welche Fragen man stellen sollte, um sich der geistigen Bevormundung durch scheinbare Autoritäten zu erwehren: Was wurde zu einem Thema bisher gesagt (Unterschiedliche Aussagen vergleichen)? Wer hat es gesagt (Nach den Quellen suchen)? Was wissen wir selbst (Eigene Beobachtungen tätigen)? Welche Schlussfolgerungen sind daraus zu ziehen (Aussagen nach Plausibilität bewerten)?
Gut, dass es bei Voltaire um die Befreiung von der kirchlich-religiösen Bevormundung geht (so schön fern von all unseren Finsternissen): Einmal verstanden, braucht man sein Verfahren nur auf heute zu übertragen, es kommt Licht in die Sache und man kann überlegen, was zu tun ist.


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