Le philosophe ignorant – Der unwissende Philosoph (1766)

Die erste Ausgabe des Philosophe ignorant erschien anonym im Jahr 1766. Voltaire beschäftigte sich nachweislich bereits im Winter 1765 mit dem Werk, es wurde im Jahr 1767 sechsmal nachgedruckt.

ZUM INHALT: Zweieinhalb Kotaus vor und einen halben zurück!

Im 18. Jahrhundert war die Macht der kirchlichen Ideologie bei weitem noch nicht gebrochen. Für die Aufklärung ging es darum, den Zeitgenossen die Augenbinden zu lösen, um sie die Realität klar sehen zu lassen. Das hieß, die christliche Religion aus den Köpfen zu vertreiben, um anschließend wieder bei Null aufzusetzen, was wiederum bedeutete, an allem zu zweifeln, was 1700 Jahre von dieser Geißel der Menschheit in die Köpfe gestopft worden war. Soweit zumindest war Voltaire 1764 bis zu seinem Philosophischen Wörterbuch vorangekommen. Dann aber wurde 1765 das Terrorurteil gegen die Familie Sirven ausgesprochen.

Voltaire kämpfte erfolgreich dagegen, – doch als kurz danach 1766 das Todesurteil gegen den Chevalier de La Barre vollstreckt wurde, bei dem man Voltaires Wörterbuch gefunden hatte (der Scharfrichter verbrannte es am 1. Juli in Abbéville auf dem Scheiterhaufen zusammen mit dem erst 20jährigen Chevalier de la Barre), versetzte dies Voltaire in Angst und Schrecken.

Vor diesem Hintergrund sollte die Abhandlung „Le philosophe ignorant“ gelesen werden, sie ist eine Art Standortbestimmung zu der Frage: Mit welchem Recht kritisiere ich das Christentum, was berechtigt mich dazu, ihr wichtigster Kritiker zu sein?
Es ist ein verstörendes Werk, in dem Voltaire sich in nahezu jedem Abschnitt der Frage widmet, ob ein höchstes Wesen existiert. Er behauptet, dessen Existenz könne bewiesen werden, dann wiederum erklärt er die prinzipielle Unmöglichkeit eines Beweises, um schließlich bei dem Kompromiss zu landen, dass es plausibel sei, weil doch in der Natur alles so wohlgeordnet und zweckmäßig eingerichtet ist, einen allerhöchsten Werkmeister-Gott anzunehmen. Als er sich dann der Aufgabe widmet, die Eigenschaften dieses Gottes zu beschreiben und daran scheitert, betont er wiederum, dass ein endliches Wesen wie der Mensch nicht in der Lage sein kann, ein unendliches göttliches Sein zu erfassen bzw. zu beschreiben. Schnell grenzt er sich noch von Spinoza ab, dem er vorwirft, Gott in der Natur aufgelöst zu haben, statt aus der Zweckmäßigkeit die Existenz eines Werkmeister-Gottes gefolgert zu haben, um dann, fast mantraartig, vorzutragen, trotzdem zu diesem unerkennbaren Wesen beten zu wollen! Das kann nicht anders verstanden werden als ein Kotau vor der allmächtigen Kirche seiner Zeit.

Sein nächster Schritt auf dem Wege der Selbstvergewisserung liegt nahe, es ist die Beantwortung der Frage: Was in unserer menschlichen Welt ist dann aber sicher, was wissen wir bestimmt, woher nehmen wir die Gewissheit unserer Aussagen? Und da kehrt er, „erschöpft, ermattet (XXIX)“ zurück zu Locke: „Er bestärkt mich in meiner Auffassung, die ich schon immer gehabt habe, dass nichts in unseren Verstand kommen kann, es sei denn durch unsere Sinne. Dass es keine angeborenen Ideen gibt.“
Das ist Voltaires entscheidende Positionsbestimmung: gegen Platon und gegen die Religion. Jedoch mit einem Restzweifel, weil es in einem Ding außer den erkannten Eigenschaften noch „hunderttausend andere, unbekannt gebliebene Eigenschaften“ geben könne und selbstverständlich erkennt Voltaire, dass dieser Restzweifel die Hintertür zum Glauben an die Existenz eines höheren Wesens ist. Und auch die Fähigkeit zu denken selbst erscheint ihm angeboren-gottgegeben. Das ist sein zweiter Kotau.

Wenn nun unser Wissen aus der Wahrnehmung stammt und zu einer stetigen Vermehrung unserer Kenntnisse führen sollte, fragt sich sogleich, warum die Gesellschaft nicht so beschaffen ist, dass sich dieses Wissen auch wirklich ausbreitet und ein besseres Leben bewirkt. Voltaire behauptet zunächst, dass es eine universelle menschliche Empfindung von Recht und Unrecht gäbe (XXXI), die Gerechtigkeit eine Idee, die gottgegeben sei und diese Idee sei das Band jeder Gesellschaft. Das Prinzip der Gerechtigkeit sei derart universell, dass selbst Übeltäter ihre Schandtaten als gerecht ausgäben, um nicht in Verruf zu geraten.
Voltaire erkennt nicht, dass es sich umgekehrt verhält, dass nicht die (universelle) Idee der Gerechtigkeit das Band der Gesellschaft bildet, sondern dass es das „Band der Gesellschaft“ ist, das die Verbindlichkeit jeglicher Moral begründet. Die Gegenposition von Hobbes, dass es keine Moral gibt, die nicht auf Übereinkunft beruht (XXXVII), lehnt Voltaire ab mit dem Einwand, Hobbes habe Gewalt mit Recht verwechselt. Dabei ist Hobbes viel näher an dem wirklichen Zusammenhang von Moral und Gesellschaft. Nur erkennt er nicht, dass es keine Übereinkunft ist, die dem „moralischen Band“ Festigkeit verleiht, sondern eine akzeptierte, sich Legitimität verschaffende Herrschaftsformation.

Voltaire argumentiert moralisch gegen die Gewaltausübenden seiner Zeit, dass sie den universellen moralischen Prinzipien zuwiderhandeln, eine Position, die ihm Stärke verleiht, weil er so aus einer humanistischen, alle Menschen verbindenden Position argumentieren kann. Andererseits aber hindert sie ihn daran, in den Interessengegensätzen der Gesellschaft seiner Zeit den Grund von Unrecht und Amoral, von Fanatismus und Verfolgung zu erkennen; stattdessen sieht er den Grund in Unwissen und Zurückgebliebenheit, und darin, dass die Aufklärung noch nicht weit genug vorgedrungen ist. Er beschließt seine Standortbestimmung daher ohne weiteren Kotau, stattdessen mit dem als Aufruf an die Anhänger der Aufklärung zu verstehenden, beeindruckenden Satz:

„..mais le monstre subsiste encore: quiconque recherchera la vérité risquera d’être persécuté. […] Pour moi, je crois que la vérité ne doit pas plus se cacher devant ces monstres que l’on ne doit s’abstenir de prendre de la nourriture dans la crainte d’être empoisonné.“

[Doch das Ungeheuer lebt noch: wer nach der Wahrheit forscht, läuft Gefahr, verfolgt zu werden. … Ich für meinen Teil glaube, dass sich die Wahrheit hinter diesen Ungeheuern nicht verstecken darf, genauso wenig, wie man sich der Nahrung enthalten darf aus Angst, vergiftet zu werden].