Philosophisches Taschenwörterbuch:
Âme-Seele (Kommentare)

Hintergrund:
Mit dem Thema ‚Âme (Seele)‘ hat sich Voltaire immer wieder befasst; in seinen ‚Mélanges‚ (1751) findet sich ein Abschnitt zur Seele, 1759 publizierte er in Grimms Corréspondance litteraire einen Artikel mit dem Titel ‚De l’antiquité du dogme de l’immortalité de l’âme‚, den er 1765 in seine Nouveaux mélanges Bd 3 einfügte . 6 Jahre später, in seinem 9 bändigen Werk ‚Questions sur l’Encyclopédie‘ (1770) hatte er den Artikel beträchtlich erweitert, und zwar um die Abschnitte über die Seele bei John Locke, die Seele der Tiere, die Unsterblichkeit, die Auferstehung, die Seele der Geisteskranken; Themen, die zwar bereits in unserem Artikel von 1764 anklingen, jedoch, dem Charakter eines Taschenwörterbuchs entsprechend, nur kurz und knapp. Es geht um das Unsterblichkeitsdogma des Christentums, das Weiterleben nach dem Tod und um das Thema des Leib-Seele Dualismus, wie sie zu seiner Zeit in der Nachfolge von René Descartes Meditationes de prima philosophia (1641) diskutiert wurden. Voltaire bestreitet die unabhängige Existenz einer Seele. Er identifiziert das, was in zahlreichen Schriften über sie gesagt wurde (und heute noch wird – siehe etwa die nicht enden wollende Auflistung in Eislers Philosophischem Wörterbuch oder den lindwurmartigen Artikel bei wikipedia) mit dem Denken und Fühlen, beides nicht nur menschliche, sondern auch tierische Fähigkeiten, die nicht unabhängig von der Materie, dem Körper sind und mit ihm in die unendliche materielle Welt eingehen.

Die Voltaire Foundation erwähnt folgende Autoren, auf deren Werke sich Voltaire bezog: Jean Lévèsque de Buriny (Théologie payenne..1754), Claude Yvon (Art. Âme i.d. Enzyklopädie, 1752), Isaac de Beausobre (Histoire de Manichée, 1734-1739), La Mettrie (Histoire naturelle de l’Âme), Dom Calmet (Dissertations sur la nature de l’Âme) und das Dictionnaire de Trévoux (Art. Âme) sowie diverse materialistischen Schriften verbotener französischer Autoren seiner Zeit.

Die folgenden Kommentare zu einzelnen Textstellen beziehen sich mit ihren Seitenangaben auf die von uns bei Reclam herausgegebene Ausgabe des Philosophischen Taschenwörterbuchs (2020): :

Anmerkung 1 (Seite 19: „…et tu dis esprit – und du sagst Geist“): die vegetative, fühlende, die denkende Seele sind die Kategorien der klassischen und scholastischen Philosophie -> Aristoteles (De anima – Von der Seele) , Th. v. Aquin (Summa theologica).

Anmerkung 2 („…Lehrmeister Alexander des Großen“): nach Diogenes Laertus (Leben Aristoteles) war Aristoteles der Lehrer Alexanders.

Anmerkung 3 ( S.20, 1. Absatz: „Epikur sagte, dass es Atome sind, die in uns denken“): Dies bezieht sich auf Lukrez, Von der Natur, III.183

Anmerkung 4 (S.20 unten: das Argument, dass die Seele immateriell sei, weil sie nicht teilbar ist): Nach Voltaire hat Materie auch immaterielle Eigenschaften, etwa die Schwerkraft, die ebenfalls nicht teilbar ist. Daher trägt das Argument der Unteilbarkeit nichts zur Klärung der Natur der Seele bei. Dieses Argument brachte Voltaire bereits in seinem Brief vom Juni 1735 an Tournemine, einem Jesuiten. Dort führt Voltaire auch aus, dass er die Seele als materiell ansehe, was nicht bedeute, dass er der Meinung sei, dass sie mit dem Tod untergehe. Im Gegenteil stehe für ihn fest, dass Materie niemals untergehe, also auch nicht die als materiell aufgefasste Seele.

Anmerkung 5 (S.21, 1. Absatz: „Die Kraft, die Körper bewegt..“): Voltaire befasste sich mit diesem Thema in seinem Artikel Doutes sur la mésure des forces motrices et sur la nature, die er 1741 der Akademie der Wissenschaften vortrug. Außerdem in seinem Enzyklopädie-Artikel ‚Mouvement‘, wo in Dialogform diskutiert wird, ob die Bewegung eine wesentliche Eigenschaft der Materie ist (warum kann Materie dann ruhen?), welche Kraft die Bewegung verursacht, ob auf der Erde die Summe aller bewegenden Kräfte immer gleich ist.

Anmerkung 6 (S.22, letzter Absatz: Dass die Seele seit eh und jeh erschaffen ist, immer gleich und ewig): Dies meint, wie Platon, auch Leibniz (Theodizee 1.Abschnitt,91): „Ich glaube deshalb, dass alle Seelen, die einmal menschliche Seelen werden, wie auch die der andern Arten von Geschöpfen, in dem Samen und in den Vorfahren bis zu Adam schon bestanden und daher seit Anfang der Dinge immer in der Weise eines organischen Körpers bestanden haben. In diesem Punkte scheinen Herr Swammerdam, der Pater Malebranche, Herr Bayle, Herr Pitcarne, Herr Hartsocker und viele andere gelehrte Männer meine Ansicht zu theilen; auch ist diese Lehre durch die mikroskopischen Beobachtungen des Herrn Leuwenhoek und anderer guter Beobachter genügend bestätigt worden“. 

Anmerkung 8 (S.25 „Esst keine unreinen Vögel, wie den Adler, den Greif, den Ixion“): Das Essen des Greifen und des Ixion, Vögel, die es gewiss nicht gibt, zu verbieten, erregt Voltaires Heiterkeit. Allerdings geht der Name Ixion – erklärt die Voltaire Foundation (Oeuvres 35, S.313) – auf einen Übersetzungsfehler vom Hebräischen ins Griechische zurück und bedeutete ursprünglich ‚Milan‘ (gr. Ixtios). Wie aber der Greif hineinkommt, erklärt sie nicht. In der deutschen Lutherbibel von 1912 stehen nach dem Adler eine ganze Reihe unreiner Vögel, darunter kein Greif und kein Ixion.