Philosophisches Taschenwörterbuch: Certain, Certitude – Gewiss, Gewissheit. (Kommentare)

Hintergrund:
Voltaire bezieht sich in seinem, in Anbetracht der Bedeutung dieser zentralen philosophischen Fragestellung nach der Gewissheit menschlicher Erkenntnis, sehr kurzen Artikel kritisch auf den 1752 im zweiten Band der Enzyklopädie erschienenen, dagegen sehr langen (26 seitigen) Artikel Gewissheit (frz.:Certitude, engl.:Certainty) des Abbé de Prades. Jean-Marie de Prades (1720-1782), der mit Diderot befreundet war, hatte in seiner Dissertation zu zeigen versucht, dass man sogar auf Grundlage der sensualistisch-empirischen Grundthese Lockes („Nichts ist im Verstand, was nicht vorher in den Sinnen gewesen wäre“), die biblische Behauptung, dass Jesus Wunder getan habe, rechtfertigen kann. Er war mit dieser Idee auf den erbitterten Widerstand der Kirche gestoßen, die keine Ruhe gab, bis man de Prades sämtliche universitären Titel aberkannt und ihn 1752 außer Landes vertrieben hatte (Friedrich der Große nahm ihn als seinen Vorleser in Berlin auf und rettete ihn vor dem sicheren Untergang).
Die Kirche lehnte den Empirismus-Sensualismus als Irrlehre ab, insbesondere, weil er den christlichen Glauben an eine vernunftbegabte, von Gott eingepflanzte Seele ablehne, die alleine den Menschen von einem Tier und von einer Maschine unterscheide. Eine Position, die sie, Descartes missbrauchend, an den französischen Universitäten als allein gültige Lehre durchgesetzt hatte.
In seinem Enzyklopädie-Artikel Certitude versucht de Prades nun eine Art Kombinationslehre von Zeugenaussagen zu liefern und behauptet, dass eine Tatsachenbehauptung um so glaubwürdiger sei, je mehr Menschen (also tout Paris) davon berichteten. Auch Erzählungen über Wundertaten erscheinen ihm als belegt, wenn nur die Berichtenden glaubwürdig waren. So kommt er – auch darin John Locke folgend – schließlich zur Einschätzung, dass die Evangelien hohe Glaubwürdigkeit beanspruchen könnten, weil viele ernsthafte Menschen zu biblischen Zeiten über das Leben Jesus berichtet hätten und widerspricht damit dem Herausgeber Diderot. Diderot hält (in seinen Pensées philosophiques) weder die Evangelien, noch Berichte über Wunder, noch Tatsachenberichte bloß deshalb für glaubwürdig, weil sie von Vielen geteilt werden. Eine höhere Anzahl von Zeugen erhöht die Glaubwürdigkeit einer Aussage nicht (siehe unten, Anmerkung 6).

John Locke An Essay Concerning Human Understanding (1689 dt.: Versuch über den menschlichen Verstand)
Zur Gewissheit der Offenbarung:
„Nehmen wir zum Beispiel an, vor einigen Generationen wäre geoffenbart worden, dass die Summe der drei Winkel eines Dreiecks gleich zwei rechten sei. Nun könnte ich der Wahrheit dieses Satzes auf Grund der Glaubwürdigkeit der Überlieferung, dass er geoffenbart worden sei, zustimmen. Diese würde mir jedoch nie eine ebenso große Gewissheit geben, wie die Erkenntnis der Wahrheit auf Grund einer Vergleichung und Messung meiner eigenen Ideen von zwei rechten Winkeln und der drei Winkel eines Dreiecks“ (Essay, Kap.4, §22).
und :
„Daher kann kein Satz als göttliche Offenbarung anerkannt werden, ..wenn er unserer klaren intuitiven Erkenntnis widerspricht“ (z.B. dass derselbe Körper nicht gleichzeitig an zwei Orten sein kann). (Essay, Kap.18, §5)
Locke setzte sich damit in diametrale Opposition zur katholischen Lehre, die bereits im 5. Laterankonzil (1512–1517) festgelegt: hatte, dass kein Satz in der Philosophie wahr sein kann, wenn er im Gegensatz zur christlichen Glaubenslehre steht. Die Kirche fügte das Werk ab 1737 ihrer Liste der verbotenen Bücher hinzu.

David Hume (1711-1764): An Enquiry Concerning Human Understanding. (1748), dt. Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand).
Zur Gewissheit von Erfahrungstatsachen:
Wenn eine Billardkugel mittig auf eine zweite trifft, wird diese sich wegbewegen, während jene zum Stehen kommt. Zwar wird man sagen, dass die Fortbewegung der zweiten mit diesem Stoß in Zusammenhang stand, aber kann man auch sagen, dass das Auftreffen der ersten die Fortbewegung der zweiten bewirkte und falls ja, wäre man berechtigt, diese Wirkung als notwendige oder das ganze gar als einen gesetzmäßigen Ursache-Wirkungszusammenhang zu bezeichnen? (Enquiry, E61)
Und außerdem: „Bei einigen Ereignissen hat es sich gezeigt, dass sie beständig in Verbindung stehen; andere zeigten sich als veränderlicher und manchmal unsere Erwartungen enttäuschend, so dass es in unserem Urteil über Tatsachen alle erdenklichen Grade der Sicherheit gibt, von der höchsten Gewissheit bis zur niedersten Art moralischer Evidenz (Enquiry, Über Wunder, E90).
Hume hatte die zweifelhafte Ehre, dass ab 1761 alle seine Werke auf die Liste der verbotenen Bücher der Catholica kamen.
Voltaire besaß die Werke Humes im Original, teilweise auch in französischer Übersetzung und stand seinen Auffassungen sehr nahe.

Die folgenden Kommentare zu einzelnen Textstellen beziehen sich mit ihren Seitenangaben auf die von uns bei Reclam herausgegebene Ausgabe des Philosophischen Taschenwörterbuchs (2020):

Anmerkung 1 (S.81, Ein falscher Taufschein: „Sie haben immer noch Gewissheit von etwas, das nicht so ist“): Schriftliche Dokumente können keine absolute Gewissheit beanspruchen, sie kommen über eine bestimmte Wahrscheinlichkeit nicht hinaus.
Voltaire bezieht sich auf Pierre Bayle, dessen historische Quellenkritik Vorbild für die Geschichtsschreibung Voltaires und für die Aufklärung insgesamt war (vgl. dazu: Sandra Richter, Öffentliche Urteilskräfte und ihr Literaturarchiv (pdf), Zeitschrift für Ideengeschichte, 2019).
Auch Voltaires eigener Taufschein enthielt im Übrigen eine falsche Geburtsangabe. War er nach eigener Aussage am 20.2.1694 geboren, so trägt sein Taufschein, dem die meisten seiner Biographen folgen, das Datum 21.11.1694.

Anmerkung 2 (S.81, dritter Absatz: „Ist die Sonne aufgegangen, ist sie untergegangen?“): Für Ptolemäus (Almagest, 140 n.u.Z.) schien es evident, dass sich die Sonne um die Erde dreht, weil sie offensichtlich im Laufe eines Tages über den Himmel wandert (geozentrisches Weltbild).
Erst Kopernikus bewies, dass das Gegenteil richtig ist. Und Newton lieferte durch die Entdeckung der Gravitationsgesetze (auf das Weltall angewendet) die mathematischen Grundlagen zur Berechnung der Planetenbewegungen. Voltaire hatte Newtons Werk zusammen mit seiner Lebensgefährtin Emilie du Châtelet in Frankreich bekannt gemacht (Elemente der Philosophie Newtons (1748), siehe hier insb. Abschnitt 3.4. „Dass die Gravitation und die Anziehung den Lauf aller Planeten lenken“).
Den Übergang vom geozentrischen zum heliozentrischen Weltbild erläutert allgemeinverständlich: https://astrokramkiste.de/heliozentrisches-weltbild.

Anmerkung 3 (S.81, vierter Absatz: „Die Zauberei, das Wahrsagen…sind die sicherste Sache der Welt gewesen“): Voltaire bezieht sich auf David Humes Enquiry (Kapitel X, „Über Wunder“).

Anmerkung 4 (S.82, zweiter Absatz: „…doch die mathematische Gewissheit ist unwandelbar und ewig“):
John Locke: „Alle mathematischen Ausführungen über die Umwandlung eines Kreises oder Kegelschnittes in ein Viereck oder über andere Theile der Mathematik beziehen sich nicht auf das Dasein dieser Gestalten, vielmehr bleiben ihre Beweise, die nur von ihren Vorstellungen bedingt sind, unverändert gültig, mag ein Kreis oder Viereck in der Welt bestehen oder nicht“ (Essay, Kap.4 Von der Wirklichkeit des Wissens, §8).
Und auch Hume unterscheidet die Aussagen in der Geometrie (Satz des Euklid), Algebra und Arithmetik, die durch bloße Denktätigkeit geprüft werden können, deren Gewissheit unabhängig davon bestehen bleibt, „ob im Weltall etwas existiert“ von Tatsachen- oder Existenzbehauptungen. Eine Tatsache kann sein oder nicht sein, auch das Gegenteil kann stimmen, ohne dass es zu einem Widerspruch käme. So ist diese Art von Aussagen stets mehr oder weniger wahrscheinlich. Aussagen in der Geometrie können dagegen absolute Gewissheit beanspruchen (Enquiry, E41).

Anmerkung 5 (S.82, dritter Absatz: „Ich existiere, ich denke, ich empfinde Schmerz“):
John Locke: „Die Gewissheit der inneren Wahrnehmung ist der geometrischen ebenbürtig.
Denn nichts kann offenbarer für uns sein als das eigene Dasein. Ich denke, ich überlege, ich fühle Lust oder Schmerz; kann all dies offenbarer für mich sein als das eigene Dasein? Selbst wenn ich alles Andere bezweifle, so lässt mich dieses Zweifeln mein eigenes Dasein wahrnehmen und daran nicht zweifeln. Denn wenn ich Schmerz empfinde, so habe ich offenbar eine ebenso sichere Wahrnehmung von meinem eigenen Dasein, wie von dem gefühlten Schmerz; und wenn ich weiß, dass ich zweifle, so habe ich eine ebenso sichere Wahrnehmung von dem zweifelnden Dinge, als von dem Gedanken, den ich Zweifel nenne. So lehrt uns die Erfahrung, dass wir ein anschauliches Wissen von unserm eigenen Dasein haben, und eine innere untrügliche Wahrnehmung, dass wir sind. Bei jedem einzelnen Fühlen, Denken oder Überlegen sind wir uns des eigenen Seins bewusst, und hier fehlt uns nichts an der höchsten Gewissheit“. (Essay, Kap.4 Von der Wirklichkeit des Wissens, §3).

Anmerkung 6 (S.82, vierter Absatz:„Mit der Gewissheit, die durch Augenschein übermittelt wird… ist es nicht dasselbe“):
Voltaire folgt hier John Locke und David Hume die sich mit der Gewissheit von Aussagen über die Außenwelt beschäftigten. Sie können mehr oder minder wahrscheinlich sein. Nach Hume sind Berichte über Wunder abzuweisen, wenn sie den mit höchster Wahrscheinlichkeit versehenen menschlichen Grunderfahrungen widersprechen -und das tun sie in aller Regel.
Voltaire widerspricht damit explizit auch de Prades, der in seinem Enzyklopädie-Essay den Anhängern des Skeptizismus zurief: „Ihr erkennt die Existenz der Stadt Rom an, an der Ihr nicht zweifeln könnt“ und damit bewiesen zu haben glaubte, dass auch Aussagen über die Außenwelt absolute Gewissheit beanspruchen könnten.
Diderot hatte zur Bedeutung der großen Zahl von Zeugen geschrieben (Pensées philosophiques (XLVI )): „Ein ganzes Volk, werden Sie sagen, ist Zeuge dieser Tatsache und Sie wagen es, sie zu leugnen? Ja, ich traue es mich, solange sie mir nicht durch die Autorität von jemandem bestätigt wird, der nicht zu Ihrer Partei gehört, und ich nicht weiß, dass dieser jemand unfähig zu Fanatismus und Verführung war. Mehr noch: Wenn mir ein Autor von ausgewiesener Unparteilichkeit erzählt, dass sich in der Mitte einer Stadt ein Abgrund auftat; dass die Götter, die zu diesem Ereignis befragt wurden, antworteten, dass er sich wieder schließen werde, wenn man das Wertvollste, was man besitzt, hineinwirft; dass ein tapferer Ritter sich selbst hineinstürzte und dass sich dadurch das Orakel erfüllte: Ich werde ihm viel weniger glauben, als wenn er einfach gesagt hätte, dass sich ein Abgrund auftat und man viel Zeit und Arbeit verwendete, um ihn wieder zu füllen. Je weniger wahrscheinlich eine Tatsache ist, desto mehr verliert das Zeugnis der Geschichte an Gewicht. Ich würde ohne weiteres einem einzigen ehrlichen Mann glauben, der mir mitteilt, dass Seine Majestät soeben einen vollständigen Sieg über die Alliierten errungen hat; aber wenn mir ganz Paris versichern würde, dass in Passy ein Toter wieder zum Leben erwacht ist, würde ich das nicht glauben. Ob ein Historiker uns etwas aufdrängt oder ein ganzes Volk sich irrt, macht es nicht zum Wunder“ (dt., übers. Correspondance Voltaire).

Anmerkung 7 (S.83, erster Absatz: „Man hat in der Enzyklopädie eine sehr amüsante Geschichte abgedruckt“):  Voltaire verweist am Ende seines Artikels explizit auf den Adressaten seiner Ausführungen zum Thema Gewissheit. Dass er de Prades sehr schonend kritisiert, mag man der Tatsache zuschreiben, dass dieser als Opfer der katholischen Kirche 1752 nach Preußen geflüchtet war und nicht mehr in sein Heimatland zurückkehren durfte.

Anmerkung 8 (S.83, letzter Absatz:„Der andere Autor… schreibt gegen sich selbst und wollte auch lachen“): Dieser andere Autor ist Diderot, der als Herausgeber der Enzyklopädie den Artikel Gewissheit von de Prades in seiner Vor- und Nachbemerkung zustimmend, überschwänglich positiv kommentiert, obwohl de Prades Argumentation der seinigen diametral entgegengesetzt ist. Voltaire interpretiert dies als ironische Scharade Diderots.