Die Bibliothek Voltaires und Russland

Wie die Bibliothek Voltaires nach St. Petersburg kam

Von Rainer Neuhaus

1. Einleitung: Voltaires Bibliothek sicher in Russland

Voltaires Bibliothek ist nicht nur umfangreich (sie umfasst 6814 Bände), sondern ist auch ein Zeugnis der geistigen Orientierung Voltaires, seiner Arbeitsweise. Während er sich in seinen Veröffentlichungen angesichts der Gefahr kirchlich-inquisitorischer Verfolgung oft verstellen musste, geben uns die vielen, äußerst lebhaften Randnotizen und Anmerkungen Katharina und Voltaire von seiner Hand heute wertvolle Hinweise auf sein wirkliches Denken.
Kaiserin Katharina II. (1729-1796) von Russland ist es zu verdanken, dass diese Bibliothek nach dem Tod Voltaires am 30. Mai 1778 nicht auseinandergerissen wurde, sondern in St. Petersburg als Ganzes erhalten blieb und bis heute von allen Interessierten besucht werden kann. Sie erreichte durch zähes Verhandeln und ein stattliches Preisangebot, dass Voltaires Universalerbin, seine Nichte Marie-Louise Denis, dem Verkauf schließlich zustimmte.

Am 21. Juni 1778 schrieb Katherina an ihren Vertrauten Friedrich Melchior Grimm nach Paris, dass sie die Bibliothek erwerben wolle: „..wenn es möglich ist, kaufe ich seine Bibliothek und alles, was von seinen Papieren übrig geblieben ist, einschließlich meiner Briefe. Ich bin bereit, seine Erben großzügig bezahlen, die, wie ich denke, den Preis von alldem gar nicht kennen. […] Ich werde einen Salon bauen, in dem seine Bücher ihren Platz finden.“1 Später entwickelte Sie den Plan, Voltaires Wohnsitz, das Schloss Ferney, originalgetreu im Park von Tsarskoye Sélo (Alexander Park, Landsitz des Königshauses) bei St. Petersburg nachbauen zu lassen und schrieb an Grimm: „Bitte lassen Sie mir ein Abbild der Fassade des Schlosses von Ferney und wenn möglich den Innenplan der Aufteilung der Wohnungen zukommen. Denn der Park von Zarskoje Selo wird nicht bestehen bleiben, beziehungsweise das Schloss von Ferney wird dort seinen Platz finden. Ich muss noch wissen, welche Wohnungen des Schlosses in Richtung Norden liegen und welche gegen Süden, Sonnenaufgang und Untergang, es ist außerdem noch wichtig zu wissen, ob man den Genfersee oder das Juragebirge aus den Fenstern des Schlosses sehen kann und auf welcher Seite“. Zu diesem Zweck ließ sie ein maßstabsgetreues Modell herstellen und von jedem Stoff (Stühle, Wände) ein Muster beschaffen, die bis heute in St. Petersburg aufbewahrt werden und dort besichtigt werden können.
Einfach umzusetzen war das Vorhaben allerdings nicht.

2. Die Verhandlungen, Der französische Staat, Wagnière kommt ins Spiel, der Vertrag

Friedrich Melchior Grimm (1723 – 1803)2, Pariser Herausgeber einer Art Geheimkorrespondenz für ausgesuchte europäische Adlige , der handschriftlich verfassten „Correspondance-litteraire“, unter seinen Korrespondenten auch Katharina die Große, erhielt von der russischen Kaiserin den Auftrag, die Verhandlungen zum Erwerb von Voltaires Bibliothek zu führen. Sicher vertraute sie auf Grimms hervorragende Beziehungen, die es ihr auch schon ermöglicht hatten, die Zensurvorhaben gegen die Enzyklopädie zu kippen, indem sie Diderot de facto zu ihrem Bibliothekar machte und damit unter ihren Schutz stellte.3 Grimm nahm also Kontakt zu Voltaires Nichte, Marie-Louise Denis, auf, die nicht abgeneigt schien, zu verkaufen, jedoch eine zähe Verhandlerin war, umso mehr, als sie von fast unbegrenzten Mitteln der Kaufinteressentin ausgehen konnte. Nur was die Manuskripte Voltaires anging, unterstützte sie das Projekt einer Publikation durch den Pariser Verleger Panckoucke, der diese in eine von ihm geplante Gesamtausgabe integrieren wollte und überließ ihm die handschriftlichen Dokumente4, die als Universalerbin in ihren Besitz übergegangen waren.

Zuvor wollte jedoch der französische Staat die „gefährlichen“ Manuskripte Voltaires sichten, befürchtete jedoch negative Reaktion vor allem des preußischen, aber auch des russischen Hofes und ließ deshalb den Plan fallen.

Angebot Denis
Letzte Seite des Angebotschreibens (15.12.1778) Mme Denis mit Unterschrift (Russische Nationalbibliothek, Sammlung Bibliothek Voltaire)

Ende 1778 war man sich handelseinig, Mme Denis erhielt 30.000 Goldrubel, einen Koffer mit Pelzen, Schmuck und ein mit Diamanten verziertes Porträt der Kaiserin. Jean-Louis Wagnière, der Sekretär Voltaires, konnte mit der Vorbereitung des Transports beginnen.

3. Die Bibliothek geht auf Reisen

Wenn ein einzelnes Buch ungefähr 500 Gramm wiegt, so war die Bibliothek von Voltaire mit ihren 6814 Büchern 3.500 kg oder 3,5 Tonnen schwer. Dazu kommt noch das Gewicht der 12 zugenagelten Kisten, in die Wagnière, Voltaires langjähriger Sekretär, die Bücher nach dem Tod seines verehrten Dienstherrn verpackt und sie auf Geheiß von Mme Denis am 7. Dezember 1778 von Ferney nach Les Délices in Genf schicken lassen hatte5, jedes in feines Seidenpapier eingeschlagen, nehmen wir an. Wie groß mag eine Kiste für 570 Bücher gewesen sein? Im 18 Jahrhundert bestimmte man die Buchgröße wie heute nach der Seitenzahl, die auf einen Normdruckbogen paßte. Es gab 12 (duodez), 8 (octav) und 4 Seiten, hinten und vorne bedruckt, auf einem Druckbogen. Bei ganz großen Bücher (Folio), druckte man auf dem 43 x 60 cm (was dem DIN A2 von heute entspricht) großen Druckbogen nur zwei Seiten, wie bei der berühmten Encyclopédie Diderots und d’Alemberts, deren 36 Bände selbstverständlich Bestandteil von Voltaires Bibliothek waren6. Dann wären in die 12 Kisten 35 Bücher pro Lage und 16 Lagen je Kiste verpackt worden (ca. 100 cm x 85cm x 65 cm). Eine stabile Kiste dieser Art wiegt mit Beschlägen mindestens 30 kg. Nehmen wir also an, daß die gesamte Ladung 4 t. gewogen hat. Ein Pferdewagen (Zweispänner) konnte im 18. Jahrhundert 2 t transportieren und man schaffte, so beladen, 50 km pro Tag, wenn die Strassen gut waren7. Wenn auf einen Pferdewagen 6 solcher Kisten paßten, waren also mindestens 2 Pferde-Planenwagen unterwegs und vielleicht noch einige Bewacher zu Pferde, um die Bibliothek auf dem Landweg bis nach Lübeck zu befördern. Kein großer Transport, wenn man ihn mit den 1800 Fahrzeugen vergleicht, die der brandenburgische Kurfürst im Dezember 1700 von Berlin aus in Bewegung setzen ließ, um mit seinen Habseligkeiten nach Königsberg umzuziehen8. Trotzdem war eine derart lange Reise (1000 km), für die man 2 Monate brauchte9, gefährlich und, weil man viele Grenzen passieren mußte, schwierig zu organisieren. Grimm, der Beauftragte von Katherina II. (die Große), kümmerte sich darum. Er bat seinen Freund François Tronchin (1704-1781), Mitglied des Rates von Genf, ihm zu helfen: „Vielleicht kann man von Basel aus über den Rhein und den Main [nach Frankfurt] kommen. In Wirklichkeit lasse ich Ihnen unbeschränkte Handlungsfreiheit über alle Vorgehensweisen, weil die Sache eines klügeren Kopfes (als ich es bin) bedarf. Ich beschränke mich lediglich darauf, Sie zu bitten, daß Sie darauf acht geben, daß der sicherste Transportweg dem preiswertesten vorgezogen wird. […] Wenn es in Genf Fahrbetriebe gibt, die direkt nach Frankfurt fahren, würde ich sie allen anderen vorziehen, weil wir dann nur mit einem einzigen zu verhandeln hätten“. Am 20 April verlässt der Transport Genf (Les Délices), am 25 April erreichen die Bücher Morges10. Tronchin hofft, dass sie auf dem Weg über Basel bereits am 16. Mai in Frankfurt ankommen. Als die Meldung eintrifft, dass die Bücher Frankfurt/M. erreicht haben, erhält Wagnière seine Papiere (Grimms Brief 155 vom 23.5.1779), er soll bis Frankfurt in einem Cabriolet fahren, wird dann „mit einer kleiner Postkutsche nach deutscher Art weiterreisen, mit der man ziemlich bequem durch ganz Deutschland kommt“11 . Er soll aber unbedingt Anfang Juli in Lübeck sein, um zusammen mit der Bibliothek per Schiff St. Petersburg anzusteuern. Wagniere verlässt Ferney am 30.5.1779 und trifft in Frankfurt am 11.6.ein. Grimm empfiehlt, dann die Route über Gotha, Potsdam und Rheinsberg nach Lübeck zu nehmen, wo es dank der guten Beziehungen sichere und komfortable Unterkünfte gebe. In Lübeck wartet Wagnière fünf Wochen auf die Ankunft des Schiffes, erreicht schließlich Petersburg am 7. Juli 1779, wo er an Katharinas Hof sehr bevorzugt empfangen wird. Seine Berichte über das Leben Voltaires stoßen dort auf reges Interesse. Er wird beauftragt, die Bücher und Manuskripte auszupacken, zu ordnen und einen Katalog über sie anzufertigen; eine Arbeit, .die ihn bis in den November beschäftigt. Wagnière verlässt schließlich St. Petersburg am 28.12.1779 und erreicht Ferney Anfang Februar 1780, wo er bis zu seinem Lebensende wohnen sollte, ausgestattet mit einer russischen Jahrespension von 1500 Pfund.

4. Was aus der Bibliothek geworden ist

Die Bücher kamen zunächst in die Räume neben dem Wohnbereich der Kaiserin im Winterpalast, der heutigen Eremitage, wo sie Teil der persönlichen Bibliothek Katharinas wurde, zu der später noch die Bibliothek Diderots hinzukam.. Nach ihrem Tod erhielt die Bibliothek unterhalb der sogenannten „Logen von Raffael“ einen ständigen Standort und war, frei zugänglich, ein beliebtes Ziel für ausländische Besucher. Während der Regierungszeit (1825 – 1855) von Nikolaus I., der Voltaire als Freidenker und Zerstörer der Gesellschaftsordnung des Ancien Régime und Vorbereiter der Dekabristen betrachtete, wurde sie für Besucher geschlossen. 1837 ordnete ein Hofminister an: „Ohne schriftliche Genehmigung darf niemand außer Mitgliedern der kaiserlichen Familie Bücher aus der Eremitage-Bibliothek ausleihen; Diejenigen, die wissenschaftliche Forschung betreiben möchten, dürfen in der Bibliothek arbeiten und Notizen machen, aber es ist verboten, die Bücher der Bibliotheken von Voltaire und Diderot zu konsultieren oder Auszüge daraus zu machen. “ Besonders die Statue des sitzenden Voltaire von Jean-Antoine Houdon, die sich in der Nähe der Bibliothek befand, scheint Nikolaus I. ein Dorn im Auge gewesen zu sein. Der Bibliophile Rudolf Minzlov schrieb in seinem „Spaziergang in der kaiserlichen öffentlichen Bibliothek“, dass „unter Kaiser Nikolaus I. dieser Freund Katharinas nicht mehr zu den Lieblingsbewohnern des Winterpalastes gehörte. Er reiste von einer Ecke zur anderen, und trotzdem stand diese Marmorstatue durch Zufall die ganze Zeit immer im Blickfeld des Kaisers.“ Voltaires berühmtes Lächeln hätte Nikolaus I. so verärgert, dass er befahl, „den alten Affen wegzunehmen“! Die Statue verließ danach die Eremitage, um zuerst einen Platz in den Kellern des Tauridenpalastes zu finden, bevor sie im Mai 1862 zu den Büchern des Philosophen zurückkehrte, die gerade in die Kaiserliche Öffentliche Bibliothek (heute Nationalbibliothek Russlands) verlegt worden waren. Die Übergabe der Voltaire-Bibliothek an die Kaiserliche Öffentliche Bibliothek erfolgte Ende 1861 unter Alexander II. Baron Korf, Direktor der Bibliothek, erhielt vom Hofminister eine Mitteilung, in der es hieß: „Seine Majestät der Kaiser, weist wegen der Notwendigkeit, in der Eremitage seltene und kostbare Kunstgegenstände zu installieren, ‹…› an: unter den Bibliotheken, die sich in der Eremitage, einschließlich der Bibliothek von Voltaire, befinden, [sollen der Eremitage] nur die Ausgaben verbleiben, die die bildende Kunst betreffen, ihre Geschichte und Archäologie sowie die russische Bibliothek, die für die Diener eingerichtet wurde. Alle anderen oben genannten Bibliotheken sowie alle in der Eremitage aufbewahrten Handschriften, ohne die mit Miniaturmalerei geschmückten auszuschließen, müssen in die öffentliche kaiserliche Stadtbibliothek überführt werden.“ Voltaires Bibliothek befand sich im ovalen Raum im ersten Stock (der heute die russische Sammlung beherbergt). Die Statue von Houdon war bis 1887 an gleicher Stelle bis sie im Jahr 1887 in die Eremitage zurückkehrte.

Während des Zweiten Weltkriegs wurde die Bibliothek in die Stadt Melekess an der Wolga (heute Dimitrovgrad) evakuiert und wurde nach ihrer Rückkehr nach Leningrad (heute St. Petersburg) Teil der Abteilung für Seltene Bücher.

5. Wie sich die Bibliothek zusammensetzt12

Voltaires Bibliothek hat 6814 Bände, einschließlich Manuskripte. Mehr als ein Drittel der Drucksachen ist mit Lesenotizen ihres Besitzers versehen: marginalia (vom lateinischen Wort margo, Rand). Tatsächlich befinden sich die Anmerkungen nicht immer an den Rändern, sondern manchmal auf den Bandrücken, Titelseiten, Deckblättern, falschen Titeln, Lesezeichen usw. Einige der Lesezeichen sind auch ohne Aufschrift, bestehen aus Papierfragmenten, die unter Voltaires Hand gefallen sind – Spielkarten, Buchhaltungsunterlagen, Briefentwürfe, Zeitungsfetzen. es gibt Blumen und Grashalme und auch umgeknickte Seitenecken. Die Bibliothek diente dem Schriftsteller als Arbeitsinstrument für die Komposition seiner Werke – Geschichts- und Philosophiebücher, Theaterstücke, Erzählungen, Gedichte, Pamphlete. Wagnière erzählt in seinen Memoiren: „Die Erinnerung von M. de Voltaire war erstaunlich. Er sagte hundertmal zu mir: „Sehen Sie in diesem Werk, in diesem Band, ungefähr auf dieser Seite, ob dort so etwas steht?“, und es kam selten vor, dass er sich irrte, obwohl er das Buch seit zwölf oder fünfzehn Jahren nicht mehr geöffnet hatte. » Bücher über Geschichte dominieren (fast ein Viertel) in ungefähr gleicher Zahl wie die über Literatur und Kunst. Theologische Werke, Werke zur Geschichte der Kirche und zum kanonischen Recht bilden ein Fünftel des Ganzen, ähnlich wie die Philosophie mit den Werken von Rousseau, Diderot, Helvétius, d’Holbach, Montesquieu, Bayle, Pascal, Descartes, Malebranche, Locke, Hume, Toland, Leibniz und anderen Autoren des 18. Jahrhunderts. Die Bibliothek enthält zudem viele Sammelbände, von Voltaire „potpourris“ genannt, in denen er ausgetrennte Seiten aus Büchern und Zeitschriften zu den Themen, die ihn interessierten, zusammenbinden ließ.

Ein sogenanntes Potpourri-Buch aus der Bibliothek Voltaires – Russische Nationalbibliothek St. Petersburg, Sammlung Bibliothek Voltaire
6. Die Nationalbibliothek als Sachwalterin Voltaires

Um diese Bibliothek so vielen Lesern wie möglich und allen, die sich für die französische Kultur interessieren, bekannt zu machen, organisiert die Russische Nationalbibliothek (BNR) bedeutende Ausstellungen. So wurden in den Jahren 1986-1987 in Paris mehrere Bücher von Voltaire im Rahmen der renommierten Ausstellung „Frankreich und Russland im Zeitalter der Aufklärung“ präsentiert. 1994, zum dreihundertsten Geburtstag Voltaires, nahm die BNR an drei internationalen Ausstellungen teil: „Voltaire et ses combats“ in Oxford, „Voltaire chez lui“ in Genf und „Voltaire et l’Europe“ in Paris. In den Jahren 1998 und 1999 wurden Werke aus Voltaires Bibliothek im Jean-Jacques Rousseau Museum in Montmorency ausgestellt, und im Juni 1999 fand in Paris eine sehr reichhaltige Ausstellung über „Voltaire, Gerechtigkeit und öffentliche Meinung“ statt, die gemeinsam vom BNR und dem Kassationshof organisiert wurde.

Veranstaltungsplakat 1999 Paris – „Wie? Sie möchten eine Organisation mit dem Namen Grenzenlose Toleranz gründen? Die wird keine Zukunft haben!“ Russische Nationalbibliothek St. Petersburg, Sammlung Bibliothek Voltaire

Im Jahr 2000 waren Briefentwürfe von Voltaire, die im BNR aufbewahrt werden, Teil der Ausstellung „Friedrich der Große und Voltaire: Ein Briefdialog“ in Potsdam. Schließlich präsentierte sie 2001 im Schloss Ferney der Öffentlichkeit die Stoffproben von Voltaires Wohnungen, die 1779 gleichzeitig mit seiner Bibliothek nach Russland gebracht worden waren. Diese Popularisierungs- und Studienaktivitäten führten zu der Idee, in St. Petersburg ein Forschungs- und Informationszentrum für das Zeitalter der Aufklärung und der Enzyklopädie zu schaffen. Die grundlegenden Ziele dieses „Voltaire-Zentrums“ sind die Vervollständigung der Ausgabe des Korpus seiner Lesenotizen, die Herausgabe eines wissenschaftlichen Katalogs von Voltaires Handschriften und deren Digitalisierung, die Einrichtung einer neuen erweiterten Ausgabe des Bibliothekskatalogs von Voltaire und die Veröffentlichung von wissenschaftlichen Texten, die der Aufklärung in Europa gewidmet sind. Eine der spezifischen Aufgaben des Zentrums wird es sein, die Einheit der Bibliothek von Diderot und die Privatbibliothek von Katharina II. wieder herzustellen, die derzeit in der ausländischen Sammlung des BNR verstreut ist. Im Jahr 2003 wurde der Voltaire-Bibliothek ein neuer Standort innerhalb der Russischen Nationalbibliothek zugewiesen, der dank der französisch-russischen Zusammenarbeit geschaffen wurde, die von Nikolay Kopanev, dem damaligen Direktor der Abteilung für Seltene Bücher, initiiert und von den Regierungen Russlands und Frankreichs (insbesondere Präsident Jacques Chirac) unterstützt wurde. Die Wiederaufbauarbeiten begannen 2001 und wurden 2003 abgeschlossen. Der Saal wurde während des dreihundertsten Jahrestages der Gründung von St. Petersburg am 28. Mai 2003 in Anwesenheit der Premierminister der beiden Länder, Mikhail Kasyanov und Jean-Pierre Raffarin, eingeweiht. Das Centre d’Étude du Siècle des Lumieres wurde 2004 an derselben Stelle eingeweiht. Seitdem bringt das Internationale Kolloquium Lectures Voltairiennes Forscher aus allen Ländern zusammen. Die Voltaire Bibliothek ist für Besucher und Forscher geöffnet. Sie strebt danach, Voltaires Geist weiterzugeben: Bildung, Intelligenz, Toleranz und Offenheit gegenüber der Welt.

Bibliothek Voltaire
  1. Catherine II de Russie, Friedrich Melchior Grimm, Une correspondance privée, artistique et politique au siècle de lumière, Moscou 2016, S. 150 (Brief 63)
  2. Zu Grimm: Wolf, Winfried, Friedrich Melchior Grimm, ein Aufklärer aus Regensburg, Regensburg: Eigenverlag (epubli), 2019, 533 S.
  3. 1765 kaufte Katharina, um Diderot aus finanzieller Not zu retten, dessen Bibliothek, mit der er in Paris arbeitete (und auch diese Bibliothek befindet sich heute in Russland) und ließ ihm ein auskömmliches Jahresgehalt (1000 Livres) anweisen.
  4. Panckoucke wurde das Projekt aber zu anspruchsvoll und er verkaufte seine Unterlagen 1779 an Beaumarchais, der dann Voltaires Werke in der berühmten Kehler Gesamtausgabe herausgab.
  5. Wagniere, Brief an Grimm vom 18.8.1778, in: Jean-Louis Wagnière ou les deux morts de Voltaire, Correspondance inedite, présentation et notes de Christophe Paillard, Saint-Malo:Christel, 2005, 460 S, S.175 f. Die eilige Überstellung nach Genf war nötig geworden, nachdem Mme Denis das Schloss Ferney verkauft hatte und befürchtete, dass der neue Eigentümer die Bibliothek nicht herausgeben könnte.
  6. Eine besuchenswerte Internetseite zu diesem Thema: http://austria-forum.org/af/Heimatlexikon/Schriftsetzer (1996)
  7. Sieferle, Rolf Peter, Transport und wirtschaftliche Entwicklung, in: ders., Breuninger, Helga, Transportgeschichte im internationalen Vergleich Europa-China-Naher Osten, Stuttgart: Breuninger Stiftung 2004, S5-44.
  8. Nur so konnte er vom Kurfürsten zum König aufsteigen. Hildebrandt, Dieter, Das Berliner Schloß, Deutschlands leere Mitte, München:Hanser, 2011, 293 S.,S.65
  9. schreibt Grimm am 25.4. an Wagnière (310), nach Paillard, Jean Louis Wagnière, Oxford: Voltaire Foundation, 2008
  10. Paillard, Christophe, Jean-Louis Wagnière ou les deux morts de Voltaire, St. Malo: Christel, 2005, S.309/310
  11. Paillard, Christophe, Jean-Louis Wagnière, S.312
  12. Der Text folgt ab hier bis zum Ende: Bibliothèque Nationale Russe: La Bibliothèque de Voltaire, https://nlr.ru/voltaire/RA415/histoire-bibliotheque-Voltaire (abgerufen: 2022) und:
    Nikolaï Alexandrovitch Kopanev, La Bibliothèque de Voltaire à St. Petersbourg ; https://gallica.bnf.fr/dossiers/html/dossiers/Voltaire/D2/Frame.htm (abgerufen: 2022)

Online Ausstellungen der Russischen Nationalbibliothek St.Petersburg:
o Rousseau und Voltaire
o Voltaire und die Religion
o Geschichte der Voltaire-Bibliothek


Peter Hacks Blick auf Voltaire

Voltaire: Ein konservativer Umstürzler.

Peter Hacks: Über Voltaires Dramen (Ödipus Königsmörder)

Von Rainer Neuhaus*

veröffenlicht in: ARGOS Mitteilungen zu Leben, Werk und Nachwelt des Dichters Peter Hacks (1928-2003), Heft 5, November 2009: VAT-Verlag, 230 S.

Einen eigenartigen Text hat uns Peter Hacks mit seiner Analyse der Dramen Voltaires hinterlassen, so fremd, dass ihn bisher noch niemand gewürdigt hat und dass sich gewiss noch mancher Zeitgenosse daran die Zähne ausbeißen wird. Wer sich aber damit befasst, kommt nicht umhin, das sei vorangestellt, sich an der Gleichung Voltaire = Hacks  zu orientieren.
Es wäre aber zu billig, sich von dieser ausgehend direkt ins Interpretieren von biographischen Bezügen zu stürzen, obwohl man dazu durch mancherlei Hinweise im Text verführt wird – zu billig deshalb, weil Peter Hacks über Voltaire schreibt und nicht über Hacks und auch an diesem Gegenstand gemessen zu werden verdient. Der Gegenstand ist groß: Voltaire, der ein ganzes Jahrhundert verkörpert – und schwierig, denn es geht dabei um einen großen Vergessenen, den Dramatiker Voltaire – zu Unrecht vergessen, wirft Peter Hacks ein: „Ein Land, das seine Stücke nicht auf dem Spielplan hat, hat keinen Spielplan“ und in Deutschland gibt es außer den recht freien Übersetzungen des Tancrède und des Mahomet von Goethe, die ohnehin, Mahomet angeblich aus Furcht vor islamistischen Terroranschlägen, nicht gespielt werden, keine einzige brauchbare und verfügbare Ausgabe der wichtigsten Theaterstücke Voltaires.

Die Dramen Voltaires.

Sie handeln nach Peter Hacks von hochpolitischen Dingen, mit dem Zeug zu Klassikern ihres Genres und ihres Zeitalters – des Absolutismus – der zu Voltaires Lebzeiten bereits im Niedergang begriffen war. Voltaire: Klassiker also einer Epoche in der Zeit ihres Untergangs – in dieser Beschreibung erkennt sich Hacks in Voltaire sogleich wieder und benennt die Parallele in einer erstaunlichen Passage:

„Wie stellt sich Voltaire zur Wende? Was ist Genie? Genie ist die Neigung zu der Annahme, dass der Weg, den die Allgemeinheit einschlägt, wahrscheinlich der falsche ist. Genie ist die Eigenart, sich durch das Schicksal der Nation stärker beeindrucken zu lassen als durchs eigene Wohlergehen….Er empfand, was alle als Eintreten der Freiheit sahen, als Beginn der Sklaverei, er durchschaute den Scheinfortschritt als Verrat an Frankreich.“(455/456).

Doch auf diese Parallele wollen wir, wie schon  gesagt, erst später eingehen.
Alle Dramen Voltaires haben, Hacks zufolge, ein einziges Leitthema: sie betrauern den Untergang des großen Zeitalters Ludwig XIV. Das tun sie, indem sie die Schwächen, die Liederlichkeit und Verkommenheit der nachfolgenden Herrscher vor Augen führen, Schwächlinge oder Bösewichte, denen Voltaire einen wiederauferstandenen Louis XIV gegenüberstellt, als Geist in Shakespeares Manier (in Sémiramis), als legitimer Beherrscher Mekkas (Mahomet), als Laios im Drama Ödipus, oder als aus 20jähriger Gefangenschaft auftauchender Christenkönig Lusignan (Zaire).

Folgendermaßen haben wir den Inhalt der Tragödie ‚Ödipus’ nach Voltaire auf unseren Internetseiten (www.correspondance-voltaire.de) wiedergegeben:

Die Familie bringt Ödipus bekanntlich von A bis Z Verderben und Unglück, er tötet, ohne zu wissen, um wen es sich handelt, seinen Vater Laios im Kampf und heiratet Ioakaste, seine Mutter. Das Drama endet ‚klassisch‘ mit der Selbstblendung des verzweifelten Ödipus und dem Freitod Iokastes. In Voltaires Theaterstück war jedoch Iokaste vor ihrer Heirat mit Laios, – abweichend vom klassischen Vorbild des Sophokles – leidenschaftlich in Philoktet verliebt. Sie heiratete trotzdem Laios – aus Staatsraison. Und, als nach Laios Tod eine Heirat mit Philoktet erneut möglich gewesen wäre, folgt sie wieder der Staatsraison und gibt Ödipus das Jawort. Zweimal hätte Iokaste, wäre sie nur der Stimme ihres Herzens gefolgt, das Schicksal abwenden können. Durch die Einführung der Liebesbeziehung Philoktet – Iokaste als Parallelhandlung erscheint bei Voltaire das göttliche Urteil über Ödipus und Iokaste bedeutend weniger schicksalhaft und unabwendbar als in der klassischen Vorlage. Diese obrigkeitskritische Tendenz gipfelt in Aussagen wie der des Araspe mit dem zentralen Grundsatz der Aufklärung: „Ne nous fions qu’à nous, voyons tous par nos yeux, ce sont là nos trépieds, nos oracles, nos dieux“ (Vertrauen wir nur uns selbst, sehen wir alles mit unseren eigenen Augen. sie sind unsere heiligen Gefäße, unsere Orakel, unsere Götter“).

Sicher, wir haben die politische Symbolik sehr vernachlässigt – Peter Hacks würde uns das bestimmt ärgerlich vorhalten, stellt er doch den Inhalt des Ödipus folgendermaßen vor:
„Lajos, der sehr große und sehr alte König von Theben, ist von einem Verwandten zweifelhafter Herkunft, dem Ödipus, totgeschlagen worden; dieser hat die Nachfolge angetreten und des Vorgängers Leitungs-Cadres verbannt. Unermessliches Elend verbreitet sich über das Königreich Theben. Alles geht zu Grunde, und Hoffnung bleibt am Ende nur auf des toten Königs Sohn, den kleinen Prinzen“.(456)
Im weiteren Verlauf seiner Analyse vergleicht Hacks die für den Ödipusstoff zentrale Schuldthematik bei Voltaire, Corneille, Sophokles: 
– bei Voltaire sei Laios im Recht, Ödipus aber ein Gauner („Schubiak“), seine Regentschaft ein Rückschritt, seine Schuld folglich nicht tragisch, sondern wirklich, während bei Corneille Ödipus’ Regentschaft gesellschaftlichen Fortschritt bedeute, dem sich die Schuld tragisch widersetze,
– bei Sophokles liege die Schuld Ödipus’ ganz anders in der Einführung des Vaterrechts, der patriarchalischen Revolution, die Tragödie bestehe dort aus der Idee, „dass ein Mann über genug Stolz und Trotz verfügt, die Wahrheit über sich herausbringen zu wollen“(458)
Hacks sieht darin seinen Schluss bestätigt, dass Voltaires Ödipus den Niedergang Frankreichs nach dem Tod Louis XIV. widerspiegle, das Stück sei unvermittelt Gegenwartsdrama (und nichts anderes), es werde von Personen der damaligen Zeitgeschichte bevölkert, die nur andere Namen tragen: dem Inzest treibenden Regenten Philippe d’Orléans, von Bischöfen, von aus Staatsraison heiratenden Königinnen, es habe keine darüber hinaus weisende Bedeutung. Er betont damit eine wichtige Dimension zum Verständnis des Stücks, eben den politischen Rahmen, auf den es sich bezieht, bleibt aber der nicht weniger zentralen psychologisch-biographischen Ebene, auch schon in seiner Bemerkung zu Sophokles, fremd, so als wolle er um jeden Preis zum Beispiel einen psychoanalytischen Zugang vermeiden.** Ein weiterer, noch entscheidenderer Mangel ist aber die fehlende Berücksichtigung der religionskritischen und antiklerikalen Tendenz des Werkes, womit sich Hacks einer eingehenden Analyse der Tragödie entzieht.

Ohne Zweifel hat Voltaire Louis XIV sehr verehrt, er schätzte in ihm den Förderer der Künste, des Handwerks und der Wissenschaft, denjenigen, der der Kleingeisterei des Feudalismus in Europa ein Ende gesetzt hat und er verachtete dessen Nachfolger, betrachtete deren Regierungszeit als Rückschritt. Er kritisierte jedoch auch die Aufhebung des Edikts von Nantes unter Ludwig XIV. und die Ruinierung der Staatsfinanzen durch seine übermäßige Prunksucht und überflüssigen Kriege. Voltaire als politischer Schriftsteller hat den von fanatischen Kirchenkreisen angeleiteten Mächtigen immer wieder in die Speichen gegriffen, Speichen eines Rades, durch die noch zu seiner Zeit Menschen lebendigen Leibes geflochten wurden. Aber gerade diese antiklerikalen Schriften gewinnen seltsamerweise Hacks Aufmerksamkeit nicht, im Gegenteil, er sieht in ihnen Nebensächliches: „.er (Voltaire) verrennt sich in einen Kampf mit dem Christentum ….der Kampf der Aufklärung gegen den Aberglauben ist ein Rückzug aus der vorhandenen Welt ins Geisterreich“(401). Damit aber lässt Hacks mindestens den halben Voltaire beiseite. Nehmen wir an, er interessiere sich eben als Dramatiker für die andere Hälfte, die vergessene, für Voltaire, den Dramatiker, so haben wir damit nicht gerade viel gewonnen, denn bei der Interpretation der Dramen tritt uns dieselbe Problematik erneut entgegen, da nicht wenige eine klare religionskritische Stoßrichtung haben und ohne sie kaum verstanden werden können. Auch beschränkt sich Hacks nach seiner eigenen Aussage nicht einfach auf einen Teil von Voltaire, den Dramatiker, er meint durchaus den ganzen Voltaire, denn der ist ihm zufolge Dramatiker durch und durch, selbst die Erzählungen und Romane seien nichts als Dramen nach dem Untergang des Dramas: „Die Menschheit, sagen die Romane, ist die Hölle des Menschen. Die Hölle ist das Chaos, und das Chaos ist dumm. Das durchaus Vernunftlose kann kein dramatischer Entwurf sein. Der Umgang mit dem Grässlichen ist so gepflegt, dass Fühllose die Romane für Humoresken halten und Rohheit sie zur Unterhaltung liest“. (501) Hacks, soviel steht fest, hat das für sich Wesentliche bei Voltaire jenseits der Religionskritik gesucht – und gefunden.

Sehen wir uns als Nächstes Peter Hacks‘ Interpretation des Dramas an, mit dem Voltaire seinen Ruhm in Paris gefestigt hat, der „Zaire“. Hier wiederum zunächst den Inhalt, wie wir ihn auf den Internetseiten wiedergeben:

Zaire, christlich geboren, lebt seit früher Kindheit im Serail des Sultans. Orosman, sein Sohn, und Zaire lieben sich und Orosman, nach dem Tod des Vaters selbst Sultan, will Zaire heiraten. In den Verliesen des Serails schmachten seit vielen Jahren einige hundert Christen, deren Kreuzzug zur Eroberung Jerusalems auf diese Weise endete. Zwei von ihnen beschwören Zaire, von der Heirat Orosmans abzusehen, die sie als Verrat am Christentum und – denn sie erweisen sich als Zaires Vater und Bruder – an der Familientradition ansehen. Orosman vermutet im Bruder Zaires aber ihren heimlichen Liebhaber, glaubt  deren Flucht zu entdecken und ersticht Zaire als vermeintliche Verräterin. Als er die Wahrheit erfährt, entlässt der verzweifelte Orosman großmütig alle Christen aus der Gefangenschaft und tötet sich schließlich selbst.  Orosmans Tat ist von Eifersucht gesteuert, aber Zaire hat ihren Tod heraufbeschworen, weil sie, indem sie zum Christentum übergeht, der Stimme des Blutes folgt und ihre Liebe verrät.  Wenn es eine Moral in Voltaires Zaire gibt, so ist es diese: die Herkunft, die Familie, das Blut, sind Steine am Hals der Freiheit. Frei sein kann nur, wer sich von solchen Banden losmacht und seiner inneren Stimme, den eigenen Wünschen, folgt. Eine Fähigkeit, die sich Voltaire selbst lebenslang bewahrt hat.
Voltaire zeigt in Zaire, dass die Umgebung, in die man zufällig gerät, darüber entscheidet, welche Religion man annimmt, keine kann auf den einzig wahren Glauben Anspruch erheben. Die Spannung der Tragödie lebt vom Hin- und Hergerissensein Zaires zwischen ihrem schlechten Gewissen, ihrem Pflichtgefühl gegenüber Vater, Bruder und christlicher Religion und der Stimme ihrer Liebe zu Orosman. Ihr Vater, Lusignan, ist schwach und stirbt alsbald. Der Bruder Zaires, Nerestan, fällt durch seinen abstrakten Dogmatismus auf, den das Glück Zaires, seiner Schwester, kalt lässt. Bei der Gestaltung von Vater und Bruder hat Voltaire unverkennbar biographische Elemente eingearbeitet: Voltaires Vater und auch sein Bruder Armand waren gläubige Jansenisten, die ihn soweit es ging vom Erbe ausschlossen. Die Tragödie enthält keine adelskritischen Elemente außer einem Appell an alle Herrscher der Welt, sich am Großmut Orosmans ein Beispiel zu nehmen. Die Sprengkraft der Zaire liegt nicht hier, sondern in der Kritik am christlichen Fanatismus, der das Glück des Einzelnen kirchlichen Dogmen opfert und dabei ohne Gewissensbisse über Leichen geht.

Einer anderen Interpretation*** zufolge geht es Voltaire darum, Christentum und Islam, mit dem er sich in dieser Zeit intensiv zu beschäftigen begann, miteinander zu konfrontieren und dabei zu zeigen, dass die gefährlichen, den Fanatismus fördernden Überlegenheitsansprüche des Christentums unbegründet sind. So sagt Zaire vom Muslimen Orosman:
„Généreux, bienfaisant, juste, plein de vertus,
s’il était né chrétien, que serait-il de plus? (IV,1)
(Großzügig, wohltätig, gerecht, voller Tugend,
wäre er christlich geboren, was wäre er dann mehr?“)

Hacks dagegen setzt Orosman mit Philppe d’Orléans gleich, also mit einem unrechtmäßigen Herrscher und Gauner. Unrechtmäßig ist Orosman im Stück jedoch nur in den Augen von Lusignan, dem Christenkönig, an keiner Stelle aber ein Gauner. In Lusignan sieht Hacks Ludwig XIV, der im Kampf um Zaire, die für Frankreich stehe, den Sieg davon trägt und sie zum rechten Glauben, dem des Absolutismus, zurückführe. In einer Nebenlinie seiner Argumentation identifiziert Hacks Zaire dann noch mit einer Maitresse, gar mit der Pompadour, die jedoch, gesteht Hacks selbst ein, erst zwölf Jahre nach Mahomet an den Hof kam. Doch weist er diesen Einwand humorvoll zurück: „Dichter haben ihre Nasen einmal in der Zukunft stecken“(468)  und lässt sein Interpretationsschema unberührt.
Hatte Hacks bei Ödipus die religionskritische Tendenz nur übersehen, so muss er nun bei Zaire, um sein Interpretationsschema aufrecht zu erhalten, schon beide Augen schließen und außerdem die Figur des Orosman, den man getrost als Vorbild für Lessings Nathan ansehen kann, ins Gegenteil verkehren.

Sehen wir uns, um den Sachverhalt weiter zu klären, Hacks Interpretation eines der bedeutendsten Theaterstücke Voltaires, des Mahomet an. Bekanntlich stellt Voltaire im Mahomet die These der Religionsstiftung durch Priesterbetrug in den Mittelpunkt. Ist Mahomet nur ein machtbesessener Betrüger (er erfindet eine göttliche Eingebung, um seinen kühl berechneten Strategien zur Eroberung Mekkas und zur Beseitigung des alten Statthalters eine höhere Weihe zu verleihen), sind seine Anhänger bereits überzeugte Fanatiker, die vor einem Meuchelmord am Statthalter Mekkas nicht zurückschrecken. Dass sie dabei, ohne es zu wissen, ihren eigenen Vater ermorden, verstärkt die Dramatik der Handlung und denunziert gleichzeitig den Fanatismus als fremd geleiteten Irrsinn, ein immer wiederkehrendes Thema bei Voltaire.
Hacks erklärt, Mahomet sei „die Tragödie des französischen Königtums“; beim alten Statthalter Mekkas handle es sich um niemand anderen als um den alten König Louis XIV, der durch die Fronde, also Hochadel und verbündetes Bürgertum in Form der bigotten Jansenisten, beseitigt werde. Indem er die Attentäter als heimtückisch, verlogen, fanatisch, meuchelmörderisch charakterisiere, meine Voltaire den Feudaladel, der in Frankreich nach der Macht greife. Dies alles habe Voltaire in der Mahomet-Fabel bloß versteckt und damit aber einen Fehler begangen, weil die Zensur dadurch ein Verbot des als religionskritisch ausgegebenen Stücks sehr leicht durchsetzen konnte. 

Wie konnte Peter Hacks übersehen, dass Mahomet einen vorläufigen Höhepunkt in Voltaires religionskritischem Schaffen darstellt und den Auftakt für eine ganze Reihe weiterer antiklerikaler Werke bildet, derart klassisch in dieser Hinsicht, dass ihn unser bedeutendster Klassiker, Goethe, Wert genug fand, ihn selbst ins Deutsche zu übersetzen? Wie konnte Peter Hacks diese Kampfschrift gegen allen Fanatismus als bloßen Abgesang auf Louis XIV reduzieren?

Zunächst muss gesagt werden, dass Hacks Beharren auf dem gesellschaftspolitischen Bezug des Mahomet sowie auch der anderen Stücke keine geringe Leistung darstellt. Wenn er mit Voltaire im Absolutismus eine Errungenschaft und im Feudalklüngel, der Fronde, eine Gefahr, eine rückwärtsgerichtete Kraft sieht, verteidigt er den politischen Voltaire gegen seine selbsternannten humanistisch-toleranzduseligen Freunde und trägt damit möglicherweise heute mehr zur Neubelebung der Stücke bei, als durch das Wiederholen der gängigen Interpretationen. Dadurch befreit er Voltaire aus der Umarmung ziemlich verschlafener Kreise, die dessen Stücke, ihres politischen Kerns entledigt, der Langeweile und schließlich auch dem Vergessen ausgeliefert haben. Ein Drama, soll es Bestand haben, lebt nämlich, so Hacks, nicht davon, dass es die Religion kritisiert, auch nicht den Fanatismus. Ein Drama lebt davon, dass es im Kampf um die Macht Position bezieht. Wenn auch für Voltaire die Religionskritik große Bedeutung hatte und sie mit dem ‚Kampf um die Macht’ untrennbar verbunden war, so scheint auf der Grundlage der Interpretation Hacks, die Voltaire stärker in die Nähe Shakespeares rückt und seinen politischen Charakter hervorhebt, eine Wiederbelebung der Stücke heute, wo der Religion mancher Flügel gestutzt wurde, am ehesten möglich, etwa nach folgender sehr ernst gemeinten Empfehlung zur Aufführung von Voltaires ‚Sémiramis’: „Die Sémiramis“,.. ist ein empfehlenswertes Stück, und ein überaus anwendbares, falls Sie einen König haben, der nicht recht weiß, was er will“(474) – wir werden auf diese Empfehlung später noch einmal zurückkommen.


Andererseits ist das Bestreben Hacks, den antiklerikalen Kampf Voltaires auf einen Nebenkriegsschauplatz zu verbannen, ja, ihn sogar als Ergebnis der Isolierung und Emigration Voltaires in Ferney zu interpretieren, so auffällig, dass, wer das verstehen will, sich auf die zweite Ebene des Essays, nämlich seine Funktion als Positionsbestimmung Peter Hacks, einlassen muss, denn dahinter, hinter der Religionskritik, vermutet Hacks den politischen Voltaire, mit dem er sich verbunden weiß. Dieser Voltaire sei, positiv verstanden, konservativ, in der Vergangenheit das Gute sehend, das aber zunehmend zerfalle, er verteidige den Absolutismus gegen die nachfolgenden monarchischen Herrschaftsformen und Friedrich Engels täusche sich, wenn er sage, dass für Voltaire die Geschichte immer die Geschichte des Fortschritts sei. Hacks wäre zu entgegnen, dass sich Engels vielleicht täusche, was Voltaires Einschätzung der Herrschaftsformen seiner Zeit angeht, dass sich aber Hacks täuscht, wenn es um Voltaires Einschätzung der Entwicklung von Wissenschaft und Kunst, sowie industriell-handwerklicher Fertigkeiten geht. Hier steht Voltaire klar und deutlich für den ungebrochenen Fortschrittsglauben der Aufklärung, an dessen Umsetzung in die Realität er zeitlebens aktiv gearbeitet hat, etwa durch die Popularisierung der Werke Newtons, zahlreiche Artikel in seinem bahnbrechenden Philosophischen Wörterbuch und die Bekämpfung der klerikalen Bevormundung der Wissenschaft. Voltaire war im besten Sinne antiautoritär, dies nicht nur im Sinn der Religions- und Kirchenkritik, sondern auch charakterlich, was sich leicht aus seiner Biographie erschließen lässt und was unbedingt in eine Analyse seiner Dramen hineingehört, eine Unterlassung bei Peter Hacks, die, wie schon mehrfach erwähnt, mit seiner eigenen Situation im Deutschland der Wendezeit zu tun hat. Dieser Thematik wollen wir uns nun zuwenden,

Ist Hacks Voltaire?

Gilt nach Peter Hacks für die Lebenszeit Voltaires das Ablaufschema: Große Zeit des Absolutismus (Louis XIV) – Zwischenzeit (Régence) – Verfall (Louis XV).- schmählicher Untergang (Louis XVI), so für die Lebenszeit Peter Hacks das nämliche: Große Oktoberrevolution – Zwischenzeit (Ulbricht) – Verfall (Honecker) – schmählicher Untergang (Gorbatschow & Co.). Den Niedergang des Absolutismus förderte und betrieb der kleingeistige Feudaladel, den Niedergang der Sowjetunion und der DDR aber betrieben die verbürgerlichten Funktionäre der kommunistischen Parteien. War für Voltaire in seinen Dramen der Kampf gegen Engstirnigkeit und Kleingeistigkeit der rückwärtsgewandten Adelskreise bedeutend, so für Hacks der Kampf gegen die sich dem kapitalistischen Westen anpassenden ‚Entspannungspolitiker’ der kommunistischen Parteien.
Mit dieser Interpretation beleuchtet man eine schmerzhaft eingestandene Parallele, die Hacks im Schicksal Voltaires wiederfindet und ihn dem antiklerikalen, wissenschaftsfreundlichen und antiautoritären Voltaire entfremdet. Auf diesem Wege finden wir eine Positionsbestimmung des Dramatikers Peter Hacks und mit ihr den Grund für die Einschränkung seiner Voltaire-Analyse auf das Louis XIV Schema, das, je weiter die Entstehungszeit eines analysierten Stückes vom Tod Ludwigs XIV. entfernt ist, desto künstlicher wirkt. Zwar stimmt das Schema: ‚Alter König wird von jungen Nachfolgern, oft seinen eigenen Kindern, ermordet’ oft genug, jedoch ist es mehr und mehr biographisch motiviert, denn Voltaire hat im Kampf mit seinem Vater genug auszustehen gehabt, um sich als Dramatiker – nicht ganz ohne Schuldgefühle – die Freiheit zu nehmen, sich dessen Tod vorzustellen. Einer politischen Analyse wäre eine biographisch fundierte an die Seite zu stellen, ohne diese bleibt jene abstrakt, zumindest, was Voltaire betrifft.

Hacks sieht sich, wie Voltaire, als Dramatiker des Übergangs, und zwar eines Übergangs zum Schlechteren, er lebt wie dieser in einer Zeit des Rückschritts und sieht, wie er es von Voltaire behauptet, in der Zeit, aus der er kommt, einen Höhepunkt der Geschichte, von dem aus es immer nur noch bergab geht. Deshalb gilt auch für ihn, er sagt es selbst:
„Über Politik, lohnt nicht mehr zu denken… Es ist schlimm für einen politischen Dramatiker (und gibt es denn einen Dramatiker der nicht, und zwar zuvörderst, ein politischer Dramatiker wäre?), wenn über Politik nicht mehr zu denken lohnt. Heute, Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, wo über Politik ebenfalls nicht mehr zu denken lohnt,, kennen ganz folgerichtig mehr Leute den Namen Calas als den einer einzigen Voltaireschen Bühnenrolle“ (492) – was Hacks ärgerlich darauf zurückführt, dass man den angeblich unpolitischen, den antiklerikalen Voltaire mehr schätzt als den konservativen Umstürzler der Tragödien. Zahlreiche Äußerungen zeigen, wie stark sich Hacks in Voltaire wiederfindet:
„Vom Endzeitdramatiker wird gefordert, dass er die Menschheit aufgibt, ohne die dramatische Gattung und damit sich selbst aufzugeben. Er muss im Untergang Haltung bewahren und trachten, kein anderer Seneca zu werden. Das Unbeschreibliche ist das Unbeschreibliche, aber wer für einen dramatischen Schriftsteller genommen werden will, sollte es doch zu beschreiben versucht haben….Nicht jedes Drama, das von Verfall handelt ist ein Verfallsdrama“.

„Was ist, wenn einer für eine Herrschaftsform einsteht, aber nicht für deren Vertreter? Was, wenn er einer Weltrichtung beistimmt und aber den Mann tadeln muss, der die Richtung bestimmt? (…) Das ist nicht die Art Zwiespalt, aus der Dramatiker entstehen. Falls einer nicht an dem Zwiespalt zerbricht, bildet sich in ihm ein dialektischer Sinn, ein Vermögen zur gerechten Einschätzung der Dinge. Aber es ist eine entsagende Objektivität und eine Dialektik des Verzichts.“(516)

„In der Regel wird ein Klassiker ungefähr mit fünfzig Jahren aus seiner Hauptstadt geworfen…“ (517)

Hacks verschwand Mitte der 70er Jahre in Deutschland in der Versenkung, Opfer der Nichtbeachtung, die nicht nur Honeckers Politik der friedlichen Koexistenz geschuldet war, sondern auch dem sozialdemokratischen Boykott, die in ihm zu Recht den unerbittlichen Gegner witterten.

„Ein Klassiker hat einen König, der meint, die Zukunft beginnt in der Gegenwart. Ein Nachklassiker hat einen toten König. Die Vergangenheit, meint das, will die Zukunft sein“ (518) Auch Hacks war Nachklassiker in diesem Sinn und konservativ zugleich: 
„Voltaire war, wie alle anderen Klassiker auch, ein konservativer Umstürzler und ein konservativer Fortschrittler. Mich wundert immer wieder, wie schwer es diese Welthaltung hat, sich Gehör zu verschaffen…. Worauf es doch ankommt, ist, beim Lauf nach dem Glück nicht das Gute, das man schon hat oder hatte, aus dem Korb zu verlieren.“(521)

Peter Hacks, so lautet daraus unsere Schlussfolgerung, interpretiert Voltaire vor dem Hintergrund seiner eigenen, deprimierenden Situation in Zeiten des Niedergangs. Dieses Interpretationsschema trägt ihn ein ganzes Stück, fast bis zu Mahomet, Wo es nicht hinreicht, baut er sich reichlich Brücken, oder ein eigenes Stück: in seiner Tragödie ‚Jona’ sorgt Hacks dafür, dass die Königin Semiramis, die er bei Voltaire etwas mutwillig auf Ludwig XV. reduziert, seinem Ablaufschema voll und ganz entspricht, denn Semiramis meint hier niemand anderen als den wankelmütigen Erich Honecker. Wir erinnern uns an seine Empfehlung: „Die Sémiramis… ist ein empfehlenswertes Stück, und ein überaus anwendbares, falls Sie einen König haben, der nicht recht weiß, was er will“(474). 
 
Hacks zieht für sich selbst aus der unbestechlichen Haltung Voltaires Stärke, dem Verständnis der Tragödien Voltaires dient er, in dem er ihren politisch kämpferischen Charakter unterstreicht, allerdings in so starken Strichen, dass daneben die für Voltaire zentrale antiklerikale Stoßrichtung und die biographisch-psychologische Dimension seiner Dramen sehr verblassen. Diese starken Striche zeichnen am Ende weniger das Porträt des großen Franzosen, als jenes des großen sozialistischen Klassikers Peter Hacks. Möglich, dass die von ihm beschworene Parallele Hacks=Voltaire 11 Jahre nach seinem Tod zu ähnlichen Ereignissen führen wird wie bei Voltaire:, 11 Jahre nach dessen Ableben schrieb man bekanntlich das Jahr 1789. Hoffen wir also auf Hacks, denn: „Dichter haben ihre Nasen einmal in der Zukunft stecken“.

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* Rainer Neuhaus ist Sozialwissenschaftler und gibt für die Voltaire-Stiftung die Internetseiten zu Voltaire www.correspondance-voltaire.de heraus
** eine psychoanalytische Analyse des Ödipus gibt José-Michel Moureaux, L`Oedipe de Voltaire, introduction à une psycholecture, Paris: Lettres modernes, 1973
*** René Pomeau, Voltaire en son temps, Paris: Fayard, 1985, 1. Bd.


Rousseau und Voltaire – Ein Verräter im inneren Kreis der Aufklärer – Entwurf 2011

(nach Durant, Kulturgeschichte der Menschheit, Bd. 15, I)

Nach einer schweren Kindheit und Jugend kam Rousseau im Alter von 30 Jahren aus Genf über Lyon nach Paris, er brauchte dringend eine Arbeit und noch wichtiger: Anerkennung. Die suchte und fand er schnell im Kreis der Philosophen um Diderot, Grimm, Madame d’Épinay, die seine Freunde wurden und ihm halfen. Während seine ersten Schriften noch der Aufklärung verbunden waren, spürte er die Chance, einen literarischen Wettbewerb zur Frage: „Hat der Fortschritt der Wissenschaften und Künste dazu beigetragen, die Sitten zu verderben oder zu reinigen?“, zu gewinnen und 300 Francs zu verdienen, indem er eine zur Aufklärung extrem abweichende Position vertrat. 

Rousseau war nahezu mittellos nach Frankreich gekommen und nur durch die Förderung und finanzielle Unterstützung seiner Freunde konnte er als Musiker und Schriftsteller überleben. Durch sie wurde er in die der Aufklärung wohlgesonnenen Salons der ’besseren’ Kreise in Paris aufgenommen. Vor diesem Hintergrund reichte er seinen Wettbewerbsbeitrag ein. Darin, getreu seinem romantischen, sehr empfindlichen Charakter, verklärte er die Natur, machte die Zivilisation, die ihm selbst so wenig gebracht hatte, für alles Schlechte verantwortlich und fiel damit allem, was der Aufklärung lieb und teuer war, in den Rücken. Rousseau hatte zu diesem Zeitpunkt über die Herkunft des Unrechts und der Ungleichheit nur recht verschwommene Gedanken, er fühlte aber deutlich, dass es etwas mit der Ungleichverteilung des Eigentums und der mit diesem verbundenen Macht zu tun haben musste. Er versteifte sich jedoch in eine antikulturelle Haltung, mit dem Vorteil, dass sie ihm erhebliche Aufmerksamkeit und Zustimmung einbrachte – und aus dem Wettbewerb die 300 Francs. Dies geschah im Jahr 1749, als Voltaire bereits als großer Autor anerkannt war und sich entschieden hatte, nach Berlin abzureisen (26.6.1750). 

Aus Sicht der Aufklärer war Rousseau entweder ein geschickter Komödiant, der die Akademie um 300 Francs erleichtert hatte, oder ein Verräter. Sie entschieden sich zu diesem Zeitpunkt dafür, in ihm einen Komödianten zu sehen, niemand konnte sich vorstellen, dass einer aus ihrer Mitte, den sie jahrelang gefördert hatten, der ihnen so viel verdankte, der an ihren Tischen speiste, wie sie sprach und schrieb, zum Verräter werden konnte, und doch war es so. 

In seinen weiteren Schriften begrüßte Rousseau die Verbrennung der Bibliothek von Alexandria, verdammte die Wissenschaft, lobte die Religion (um sie aber später wieder zu verdammen) und er ließ an seinen Freunden keinen Verrat, auch nicht auf äußerst privater, persönlicher Ebene, aus. Von Voltaire sprach Rousseau zunächst nur mit höchster Bewunderung, denn Voltaire war ja einer der Großen der Aufklärung, in deren Kreise er sich bewegte. Voltaire dürfte Rousseau zunächst auch kaum wahrgenommen haben, erst als dieser ihn um seine Meinung zu der 300 Francs-Preisschrift bat, bedankte sich Voltaire bei ihm für die Zusendung seiner ‚Schrift gegen die Menschheit’ und fuhr fort: 

Vous plairez aux hommes, à qui vous dites leurs vérités, mais vous ne les corrigerez pas. On ne peut peindre avec des couleurs plus fortes les horreurs de la société humaine, dont notre ignorance et notre faiblesse se promettent tant de consolations. On n’a jamais employé tant d’esprit à vouloir nous rendre bêtes; il prend envie de marcher à quatre pattes, quand on lit votre ouvrage. Cependant, comme il y a plus de soixante ans que j’en ai perdu l’habitude, je sens malheureusement qu’il m’est impossible de la reprendre, et je laisse cette allure naturelle à ceux qui en sont plus dignes que vous et moi. Je ne peux non plus m’embarquer pour aller trouver les sauvages du Canada: premièrement, parce que les maladies sont je suis accablé me retiennent auprès du plus grand médecin de l’Europe, et que je ne trouverais pas les mêmes secours chez les Missouris; secondement, parce que la guerre est portée dans ces pays-là, et que les exemples de nos nations ont rendu les sauvages presque aussi méchants que nous. Je me borne à être un sauvage paisible dans la solitude que j’ai choisie auprès de votre patrie où vous devriez être. 

(Sie finden bei den Menschen Anklang, indem Sie ihnen Wahrheiten sagen, aber keine Hinweise für Verbesserungen geben. Die schrecklichen Zustände der menschlichen Gesellschaft kann man kaum in stärkeren Farben darstellen, Zustände, in denen unsere Unwissenheit und unsere Schwächen sich so viele Tröstungen verschaffen. Man hat noch nie so viel Geist aufgewendet, um uns zurück zu den Tieren zu schicken, man bekommt Lust, auf allen Vieren zu laufen, wenn man Ihr Werk liest. Jedoch, es sind mittlerweile mehr als 60 Jahre, daß ich diese Gewohnheit aufgegeben habe, und ich fühle unglücklicherweise, daß es mir unmöglich ist, sie wieder anzunehmen und überlasse diese natürliche Haltung denen, die ihr mehr entsprechen als Sie und ich. Ich kann mich auch nicht einschiffen, um die Wilden in Kanada aufzusuchen. Erstens, weil mich die Krankheiten unter denen ich leide, zwingen, in der Nähe des größten Arztes Europas zu bleiben, denn ich werde bei den Bewohner Missouris nicht die gleichen Hilfen finden; zweitens, weil man jetzt den Krieg dorthin gebracht hat und das Beispiel, das unsere Nationen den Wilden gegeben haben, sie fast genauso bösartig gemacht hat wie uns selbst. Ich beschränke mich darauf, ein friedlicher Wilder in der einsamen Gegend zu sein, die ich mir ganz in der Nähe Ihres Heimatlandes ausgesucht habe, dort, wo auch Sie sein sollten.) 

Rousseau wird sich geärgert haben, seine Rache fiel aber wiederum verräterisch aus (psychologisch gesehen verständlich: er musste diejenigen verfolgen, denen er etwas zu verdanken hatte, denn sie hatten einen Unwürdigen gefördert, ihre Freundschaft musste in Hass verwandelt werden): zu dem Zeitpunkt, als der Genfer Senat Voltaire wegen seiner Theateraufführungen in Les Délices öffentlich angriff und eine Untersuchung einleitete, brachte Rousseau als Sohn Genfs (denn er war in Genf geboren), eine Schrift heraus, in der er das Theaterspielen als schädlich für die guten Sitten, die Charakterbildung etc. verurteilte. Die Schrift erleichterte es dem Senat, Voltaires Theater schließen zu lassen. Für Voltaire bestand die Gefahr einer existentiellen Bedrohung, er erkannte das Vorgehen der Inquisition. 1760 verkaufte er deshalb sein Anwesen in Les Délices und erwarb dafür in Frankreich die Grafschaft Ferney, einen heruntergekommenen Herrensitz an der Schweizer Grenze, wo er hoffte, endlich in Ruhe gelassen zu werden. 

1762 erschien Rousseaus berühmte Schrift ‚Le Contrat Social‘, in der er den Staat als abgeleitet vom allgemeinen Willen des Volkes, also diesem gegenüber nachrangig, vorstellt. Der ’Contrat’ ist ein revolutionärer Text, der nicht wenig zur Legitimation der französischen Revolution beigetragen hat. Voltaire nahm die darin enthaltenen Widersprüche auseinander und machte sich über den Verfasser lustig, bei dem es sich um einen Menschen niedriger Herkunft handle, der sich anmaße, Vorschläge für Staatsverfassungen zu veröffentlichen (die Kritik ist in Voltaires ‚Idées républicaines‘ XXIX – XXXIX nachzulesen und gehört zu den wenigen peinlichen Schriften aus seiner Feder. Sie geht am Wesentlichen vorbei und konzentriert sich auf offensichtliche Ungereimtheiten). 

In seinen 1764 an den Genfer Rat gesandten Briefen ,de la Montagne’ fiel Rousseau Voltaire erneut an, indem er ihn als Autor des ‚sermon des cinquante’, einer scharf antiklerikalen Schrift, denunzierte. Diesmal schlug Voltaire mit seinen anonym erschienenen ‚sentiments des citoyens’ zurück, auch, um sich gegen die drohende Verfolgung zu schützen. Im Wesentlichen schildert er dort Rousseau als gewissenlosen, unzuverlässigen Menschen mit abstrusen Ideen, der sich an Gott, Religion und der Welt versündigt habe. Damit war die Trennung der Aufklärung von Rousseau endgültig besiegelt.

Rousseau zog aus dem Verrat nur geringen Vorteil: er verlor fast alle seine Freunde und noch nicht einmal die Kirche dankte ihm seine Übeltaten, ganz im Gegenteil, sie stürzte sich jetzt erst recht auf den Einzelgänger, der, jeglicher Unterstützung beraubt, zunächst in das preußische Mandatsgebiet Neuenburg in der Schweiz flüchten musste. Als man ihn auch dort mehr und mehr angriff, wich er auf Einladung seines Gönners Boswell zunächst einmal nach England aus. Nach einem guten Jahr kehrte er nach Frankreich zurück, wo er teils unter falschem Namen reiste, teils aber auch geduldet wurde.

Viel stärker als Voltaire sah Rousseau das Unrecht und das Elend, das man der nichtadligen Bevölkerung antat. Auch griff er, ebenfalls anders als Voltaire, das Privateigentum an und sah in seiner Modellverfassung für Korsika eine starke Wirtschafts- und Eigentumskontrolle durch den Staat vor, den er als Instanz des allgemeinen Willens betrachtete. Da er selbst stets von Armut bedroht war und die Unterstützung von adligen Gönnern und Freunden, auf die er angewiesen war, als Demütigung empfand, stand Rousseau dem Leiden des Volkes deutlich näher als Voltaire.

Das französische Volk hat ihm sein gefühlvolles Engagement gedankt. 11 Jahre nach seinem Tod (1778 in Ermenonville) ließ man seine sterblichen Überreste ins Pantheon überführen.
Rousseau war, in seiner Kindheit zum Verrat konditioniert, zu Minderwertigkeitsgefühlen und, als Gegenpol, zu übersteigertem Geltungsdrang disponiert, ein schwieriger Mensch, vor dem man sich normalerweise besser fernhalten sollte. Durch diesen Charakter und sein Unabhängigkeitsstreben konnte er sich, anders als Voltaire, der herrschenden Klasse nie anschließen. In seiner Analyse von subjektiven Gefühlen und zwischenmenschlichen Beziehungen erweist er sich als ein Geschöpf der Aufklärung, das in sich deren Feind, die christliche Religion, nicht überwunden hatte.
In seinen Schriften zur Gesellschaftsordnung jedoch entwickelt er, radikaler als die Philosophes selbst, die Grundlagen einer zukünftigen, egalitären Gesellschaft.

Anhang

SENTIMENT DES CITOYENS.

Après les Lettres de la campagne sont venues celles de la montagne. Voici les sentiments de la ville:

On a pitié d’un fou; mais quand la démence devient fureur, on le lie. La tolérance, qui est une vertu, serait alors un vice. Nous avons plaint Jean-Jacques Rousseau, ci-devant citoyen de notre ville, tant qu’il s’est borné dans Paris au malheureux métier d’un bouffon qui recevait des nasardes à l’Opéra, et qu’on prostituait marchant à quatre pattes sur le théâtre de la Comédie. A la vérité, ces opprobres retombaient en quelque façon sur nous: il était triste pour un Genevois arrivant à Parisde se voir humilié par la honte d’un compatriote. Quelques-uns de nous l’avertirent, et ne le corrigèrent pas. Nous avons pardonné à ses romans, dans lesquels la décence et la pudeur sont aussi peu ménagées que le bon sens; notre ville n’était connue auparavant que par des moeurs pures et par des ouvrages solides qui attiraient les étrangers à notre Académie: c’est pour la première fois qu’un de nos citoyens l’a fait connaître par des livres qui alarment les moeurs, que les honnêtes gens méprisent, et que la piété condamne. Lorsqu’il mêla l’irréligion à ses romans, nos magistrats furent indispensablement obligés d’imiter ceux de Paris et de Berne, dont les uns le décrétèrent et les autres le chassèrent. Mais le conseil de Genève, écoutant encore sa compassion dans sa justice, laissait une porte ouverte au repentir d’un coupable égaré qui pouvait revenir dans sa patrie et y mériter sa grâce.Aujourd’hui la patience n’est-elle pas lassée quand il ose publier un nouveau libelle dans lequel il outrage avec fureur la religion chrétienne, la réformation qu’il professe, tous les ministres du saint Évangile, et tous les corps de l’État? La démence ne peut plus servir d’excuse quand elle fait commettre des crimes. Il aurait beau dire à présent: Reconnaissez ma maladie du cerveau à mes inconséquences et à mes contradictions, il n’en demeurera pas moins vrai que cette folie l’a poussé jusqu’à insulter à Jésus-Christ, jusqu’à imprimer que « l’Évangile est un livre scandaleux  téméraire, impie, dont la morale est d’apprendre aux enfants à renier leur mère et leurs frères, etc. » Je ne répéterai pas les autres paroles, elles font frémir. Il croit en déguiser l’horreur en les mettant dans la bouche d’un contradicteur; mais il ne répond point à ce contradicteur imaginaire. Il n’y en a jamais eu d’assez abandonné pour faire ces infâmes objections et pour tordre si méchamment le sens naturel et divin des paraboles de notre Sauveur. Figurons-nous, ajoute-t-il, une âme infernale analysant ainsi l’Évangile. Eh! qui l’a jamais ainsi analysé? Où est cette âme infernale? La Métrie, dans son Homme-machine, dit qu’il a connu un dangereux athée dont il rapporte les raisonnements sans les réfuter. On voit assez qui était cet athée: il n’est pas permis assurément d’étaler de tels poisons sans présenter l’antidote. Il est vrai que Rousseau, dans cet endroit même, se compare à Jésus-Christ avec la même humilité qu’il a dit que nous lui devions dresser une statue. On sait que cette comparaison est un des accès de sa folie. Mais une folie qui blasphème à ce point peut-elle avoir d’autre médecin que la même main qui a fait justice de ses autres scandales? S’il a cru préparer dans son style obscur une excuse à ses blasphèmes, en les attribuant à un délateur imaginaire, il n’en peut avoir aucune pour la manière dont il parle des miracles de notre Sauveur. Il dit nettement, sous son propre nom. « Il y a des miracles dans l’Évangile qu’il n’est pas possible de prendre au pied de la lettre sans renoncer au bon sens; » il tourne en ridicule tous les prodiges que Jésus daigna opérer pour établir la religion. Nous avouons encore ici la démence qu’il a de se dire chrétien quand il sape le premier fondement du christianisme; mais cette folie ne le rend que plus criminel. Être chrétien et vouloir détruire le christianisme n’est pas seulement d’un blasphémateur, mais d’un traître. Après avoir insulté Jésus-Christ, il n’est pas surprenant qu’il outrage les ministres de son saint Évangile. Il traite une de leurs professions de foi d’amphigouri, terme bas et de jargon qui signifie déraison. Il compare leur déclaration aux plaidoyers de Rabelais. Ils ne savent, dit-il, ni ce qu’ils croient, ni ce qu’ils veulent, ni ce qu’ils disent. « On ne sait, dit-il ailleurs ni ce qu’ils croient, ni ce qu’ils ne croient pas, ni ce qu’ils font semblant de croire. » Le voilà donc qui les accuse de la plus noire hypocrisie sans la moindre preuve, sans le moindre prétexte. C’est ainsi qu’il traite ceux qui lui ont pardonné sa première apostasie, et qui n’ont pas eu la moindre part à la punition de la seconde, quand ses blasphèmes, répandus dans un mauvais roman, ont été livrés au bourreau. Y a-t-il un seul citoyen parmi nous qui, en pesant de sang-froid cette conduite, ne soit indigné contre le calomniateur? Est-il permis à un homme né dans notre ville d’offenser à ce point nos pasteurs, dont la plupart sont nos parents et nos amis, et qui sont quelquefois nos consolateurs? Considérons qui les traite ainsi: est-ce un savant qui dispute contre des savants? Non, c’est l’auteur d’un opéra et de deux comédies sifflées. Est-ce un homme de bien qui, trompé par un faux zèle, fait des reproches indiscrets à des hommes vertueux? Nous avouons avec douleur et en rougissant que c’est un homme qui porte encore les marques funestes de ses débauches, et qui, déguisé en saltimbanque, traîne avec lui de village en village, et de montagne en montagne, la malheureuse dont il fit mourir la mère, et dont il a exposé les enfants à la porte d’un hôpital en rejetant les soins qu’une personne charitable voulait avoir d’eux, et en abjurant tous les sentiments de la nature comme il dépouille ceux de l’honneur et de la religion

C’est donc là celui qui ose donner des conseils à nos concitoyens (nous verrons bientôt quels conseils)! C’est donc là celui qui parle des devoirs de la société! Certes il ne remplit pas ces devoirs quand, dans le même libelle; trahissant la confiance d’un ami;il fait imprimer une de ses lettres pour brouiller ensemble trois pasteurs. C’est ici qu’on peut dire, avec un des premiers hommes de l’Europe, de ce même écrivain, auteur d’un roman d’éducation, que, pour élever un jeune homme, il faut commencer par avoir été bien élevé: Venons à ce qui nous regarde particulièrement, à notre ville, qu’il voudrait bouleverser parce qu’il y a été repris de justice. Dans quel esprit rapporte-t-il nos troubles assoupis? Pourquoi réveille-t-il nos anciennes querelles et nous parle-t-il de nos malheurs? Veut-il que nous nous égorgions parce qu’on a brûlé un mauvais livre à Paris et à Genève? Quand notre liberté et nos droits seront en danger, nous les défendrons bien sans lui. Il est ridicule qu’un homme de sa sorte, qui n’est plus notre concitoyen, nous dise: « Vous n’êtes ni des Spartiates, ni des Athéniens; vous êtes des marchands, des artisans, des bourgeois, occupés de vos intérêts privés et de votre gain. » Nous n’étions pas autre chose quand nous résistâmes à Philippe II et au duc de Savoie. nous avons acquis notre liberté par notre courage et au prix de notre sang, et nous la maintiendrons de même. Qu’il cesse de nous appeler esclaves, nous ne le serons jamais. Il traite de tyrans les magistrats de notre république, dont les premiers sont élus par nous-mêmes. « On a toujours vu, dit-il; dans le conseil des deux-cents, peu de lumières, et encore moins de courage. » Il cherche par des mensonges accumulés à exciter les deux-cents contre le petit conseil; les pasteurs contre ces deux corps, et enfin tous contre tous, pour nous exposer au mépris et à la risée de nos voisins. Veut-il nous animer en nous outrageant? veut-il renverser notre constitution en la défigurant, comme il veut renverser le christianisme, dont il ose faire profession? Il suffit d’avertir que la ville qu’il veut troubler le désavoue avec horreur. S’il a cru que nous tirerions l’épée pour le roman d’Émile, il peut mettre cette idée dans le nombre de ses ridicules et de ses folies. Mais il faut lui apprendre que si on châtie légèrement un romancier impie, on punit 

250 Jahre Candide – Erste Kritik am autoritären Optimismus – 21.6.2010

Erste Kritik am ‚Optimismus vom Dienst’

250 Jahre Candide

von Rainer Neuhaus

250 Jahre alt und noch immer lebendig: Das hätte sich Ludwig der XV. nicht träumen lassen, als er Voltaires Roman Candide kurz nach seinem Erscheinen Ende Februar 1759 in Frankreich verbieten ließ (in Genf wurde das Werk sogar öffentlich verbrannt).

„250 Jahre Candide – Erste Kritik am autoritären Optimismus – 21.6.2010“ weiterlesen

Der Antimachiavel Friedrichs II. oder wie sich ein kleiner Verleger gegen den preußischen König durchsetzte

Eine kleine Editionsgeschichte

nach Kees van Strien, Voltaire in Holland 1736-1745, Leuven: Peeters, 2011, 589 S. 

1. Ein Verleger steht zu seinem Auftrag

Von Friedrich vor seiner Thronbesteigung als eine Art Bekenntnis zur Staatsführung im Sinne der Aufklärung verfasst (z.B.: „Es ist demnach die Gerechtigkeit, welche das vornehmste Augenmerk eines Fürsten sein soll; es ist demnach die Wohlfahrt seines Volkes, so er allem anderen Nutzen vorziehen muss„), war ihm sein Antimachiavel nach der Krönung (31. Juni 1740) nicht mehr genehm und er verlangte von Voltaire, das Buch zu unterdrücken. Voltaire hatte sich sehr viel von dem Werk versprochen und viel daran gearbeitet, er versuchte nun im Auftrag Friedrichs den mit der Herausgabe bereits beauftragten Verleger Van Düren (1687 – 1757)* in Den Haag zu überzeugen, von einer Veröffentlichung abzusehen, was sich als schwierig erwies. Van Düren, einer der führenden Verleger Hollands, der auch in Frankfurt und Leipzig ausstellte, weigerte sich  nämlich, die Herausgabe fallenzulassen, denn eine skandalträchtige Veröffentlichung dieses Buches, verfasst von einem frisch gekrönten Haupt, war werbewirksam und gewinnträchtig. Also kündigte er  in der Zeitung s’Gravenhaagse Courant vom 25. 7. 1740 das baldige Erscheinen des Antimachiavels an.

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Was die Kirchen ärgert – Die Verteidigung des Luxus bei Voltaire

Die Debatte über den Luxus

Mandeville verteidigt in seiner berühmten ‚Bienenfabel’ (London 1723) nicht nur den Luxus – er versteht darunter alles, was über das Lebensnotwendige hinausgeht – und bewertet ihn als für die Gesellschaft positiv, denn im Überfluss und nicht im Mangel sieht er den Anstoß für die Entwicklung der Menschheitsgeschichte. Er verteidigt über den Luxus hinaus sogar die menschlichen ‚Laster‘ überhaupt gegen eine puritanische, genussfeindliche Moral. Es war Voltaires Lebensgefährtin Émilie du Châtelet, die die Bienenfabel erstmalig ins Französische übersetzte.

Luxus, was im Lateinischen ‚Verschwendung, Liederlichkeit‘ bedeutet, hat diesen Makel behalten und bis heute soll man Wohlstand und gutes Leben nur mit einem ordentlich schlechten Gewissen genießen dürfen. Angefangen vom persönlichen Schmuck über erlesene Speisen und alkoholische Getränke bis hin zu sündhaft teuren Fahrzeugen – all dies ist von Übel und wer es begrüßt, ist ein Feind des Volkes und Verschwender. Stattdessen soll man bescheiden leben, den Ertrag seiner Arbeit nützlich anlegen (reinvestieren) und vermehren und nichts im Konsum nutzloser Güter verschwenden. Dass vor solchem Hintergrund auch die Kunst keine positive ‚Weiterführungsprognose‘ besitzt, liegt auf der Hand.

Mme du Châtelet – soviel steht fest – war die Verteidigung des Luxus sympathisch, gehörte sie doch zur Hocharistokratie und besaß reichlich Schmuck und war auch sonst eine ausgesprochene Genießerin und das war Voltaire wiederum sympathisch. Überhaupt verteidigten die französischen Aufklärer in ihrer Glanzzeit den Luxus, jedoch nicht wie Mandeville, der einer bigotten Moral einfach ihr Spiegelbild vorhielt, sondern indem sie zu zeigen versuchten, dass Luxus für die Gesellschaft überhaupt nicht schädlich, sondern sogar besonders nützlich sei. Folgendes waren ihre Positionen:

o Damit sich die Gesellschaft weiterentwickelt, muss mehr hergestellt werden, als man zum puren Leben braucht. Die Ungleichheit der Gesellschaftsmitglieder ist zunächst notwendig, denn sie schafft für einige die Möglichkeit, Kunst und Wissenschaft – Luxus – zu entwickeln und zu genießen, damit aber den Fortschritt für alle erst möglich zu machen.

o Die Gesellschaft sollte versuchen, die Ungleichheit zu reduzieren, denn desto mehr ihrer Mitglieder am Luxus teilhaben können, desto besser für die Gesellschaft und ihre Weiterentwicklung.

o Die Verderbtheit der Sitten resultiert nicht aus dem Luxus, sondern aus der zu großen Ungleichheit in der Verteilung des Reichtums einer Gesellschaft. Wer das Gegenteil behauptet, verdreht Ursache und Wirkung.

o Selbst der extrem Reiche, der in den Luxus investiert, bewirkt Gutes für die Gesellschaft, denn damit fördert er Kunst und Handwerk, ganz anders, wenn sein Geld in Klöster, Tierparks oder andere, nicht produktiv wirkende Dinge fließt, das erst bedeutet wirkliche Verschwendung.

o Luxus (der Genuss desselben) besänftigt die Seele und die Leidenschaften und veredelt die Umgangsformen. (nach dem Vorwort der Kehler Ausgabe der Werke Voltaires zu Le Mondain)

Natürlich hatte die Monarchie keine Freude an solchen Debatten, die mit dem Luxus begannen, ihn verteidigten, aber sich, indem sie ihn verteidigten, über die Ungleichheit in der Gesellschaft Gedanken machten und schließlich den Luxus gar möglichst Vielen zugänglich machen wollten. Nicht alle sahen das so gelassen wie M. de Melon, ehemals Sekretär beim königlichen Regenten Philippe d’Orléans, der sich in einem Brief über Voltaires Gedicht Le Mondain so äußerte:

M. de MELON A MADAME LA COMTESSE DE VERRUE SUR L’APOLOGIE DU LUXE.

J’ai lu, madame, l’ingénieuse Apologie du luxe; je regarde ce petit ouvrage comme une excellente leçon de politique, cachée sous un badinage agréable. Je me flatte d’avoir démontré, dans mon Essai politique sur le commerce combien ce goût des beaux-arts et cet emploi des richesses, cette âme d’un grand État qu’on nomme luxe, sont nécessaires pour la circulation de l’espèce et pour le maintien de l’industrie; je vous regarde, madame, comme un des grands exemples de cette vérité.Combien de familles de Paris subsistent uniquement par la protection que vous donnez aux arts? Que l’on cesse d’aimer les tableaux, les estampes, les curiosités en toute sorte de genre, voilà vingt mille hommes, au moins, ruinés tout l’un coup dans Paris, et qui sont forcés d’aller chercher de l’emploi chez l’étranger. Il est bon que dans un canton suisse on fasse des lois somptuaires, par la raison qu’il ne faut pas qu’un pauvre vive comme un riche. Quand les Hollandais ont commencé leur commerce, ils avaient besoin d’une extrême frugalité; mais à présent que c’est la nation de l’Europe qui a le plus d’argent, elle a besoin de luxe.

Madame, Ich habe die geschickte Verteidigung des Luxus gelesen, ich halte dieses kleine Werk für eine ausgezeichnete politische Lektion, die sich hinter einem angenehmen Plauderton verbirgt. Ich kann mir schmeicheln, in meinem Essay über die Wirtschaft gezeigt zu haben, wie sehr der Gefallen an den schönen Künsten und der Gebrauch der Reichtümer, diese Seele eines bedeutenden Staatswesens, die man Luxus nennt, notwendig sind für die Kreisläufe des Geldes und zum Erhalt der Wirtschaft; ich betrachte Sie, Madame als eines der großen Beispiele dieser Wahrheit. Wieviele Pariser Familien überleben ausschließlich durch die Unterstützung, die Sie der Kunst gewähren? Würde man aufhören, Gemälde zu lieben, wertvolle Drucke, interessante Gegenstände aller Arten, zwanzigtausend Menschen in Paris wären mit einem Male ruiniert und wären gezwungen, in der Fremde Arbeit zu suchen. Es ist richtig, dass ein schweizer Kanton Gesetze zur Sparsamkeit erließ, denn es kann nicht sein, dass ein Armer wie ein Reicher lebt. Als die Holländer am Anfang ihrer Handelstätigkeit standen, hatten sie eine extrem Genügsamkeit nötig, aber wenn wir es hier mit der Nation in Europa zu tun haben, die am meisten Geld besitzt, braucht sie den Luxus.

Le Mondain –  Das Gedicht zur Verteidigung des Luxus

Voltaire hat dieses Gedicht zur Verteidigung des Luxus geschrieben, als er sich schon im Exil in Cirey sur Blaise befand. Nach Cirey -er lebte dort mit Emilie du Châtelet im Schloß ihres Mannes -war er 1734 geflohen, um sich der Verfolgung zu entziehen, die ihm seine ‚Lettres philosophiques’ zugezogen hatten. In diesem Werk vergleicht und kritisiert er unter anderem die französischen Zustände der Glaubensverfolgung mit der in England praktizierten Toleranz gegenüber Minderheitsreligionen.

Kaum war Voltaires Gedicht erschienen, als es schon abgeschrieben und in den Salons vorgelesen wurde, es zirkulierte in den aufgeklärten Kreisen und provozierte die klerikalen. Alle Veröffentlichungen mussten damals den Stempel des obersten Zensors tragen, ein Amt, das von 1726 bis zu seinem Tod 1743 faktisch der Premierminister Kardinal André-Hercule de Fleury innehatte. Für ‚Le Mondain’ hat Voltaire diesen Stempel allerdings nicht erhalten, stattdessen drohte ihm dafür ein Haftbefehl, was mit seiner Respektlosigkeit gegenüber Adam und Eva zusammenhing, denn es heißt in dem Gedicht über die beiden:

Seide und Gold glänzten für sie nicht,
Bewundert Ihr dafür unsere Vorfahren?
Es fehlte ihnen Handwerk und Wohlstand:
Ist das Tugend? Es war reine Unwissenheit.
Welcher Narr würde, hätte er für eine Weile
ein gutes Bett gehabt, draußen schlafen?
Mein lieber Adam, mein Vielfraß, mein guter Vater
was machtest du im Garten Eden?
Arbeitetest Du für diese einfältige menschliche Rasse
Liebkostest du Frau Eva, meine Mutter?     

Gebt mir zu, dass ihr alle beide
lange Fingernägel hattet, etwas schwarz und schmutzig,
die Haare wenig geordnet,
der Teint gebräunt, die Haut verschmutzt und verwittert.
Ohne Sauberkeit ist die glücklichste Liebe
keine Liebe mehr, sondern ein schändliches Bedürfnis.
Bald ermüdet von ihrem schönen Abenteuer,
speisen sie herrschaftlich unter einer Eiche,
mit Wasser, Hirse und Eicheln;
das Mahl beendet, schlafen sie auf harter Erde:
Dies ist der Zustand der reinen Natur!

Voltaire floh über die nahe Grenze nach Holland, musste dort zwei Monate bleiben, wo er sich im übrigen prächtig amüsierte, denn alle Welt wollte ihn zum Bekannten haben und seine Theaterstücke sehen, außerdem arbeitete er in Amsterdam an der Herausgabe seiner gesammelten Schriften. Nachdem Gras über die Sache gewachsen war, konnte er, einflussreiche Freunde hatten sich für ihn eingesetzt, im Februar 1737 nach Cirey zurückkehren. In dieser Zeit tat sich für ihn auch eine neue Perspektive auf, denn er hatte den ersten Brief eines jungen Mannes erhalten, der später die europäische Geschichte maßgeblich beeinflussen sollte: es war der erste von vielen weiteren, schmeichelnden und lobenden Briefen aus der Feder Friedrich II, damals noch Kronprinz von Preußen, die schließlich Voltaires Übersiedlung nach Berlin in den Jahren 1750-52 bewirkten.

Doch sehen wir zunächst das Gedicht in der Übersetzung aus dem sehr zu empfehlenden Voltaire-Lesebuch von Martin Fontius, es ist eine gereimte Übertragung ins Deutsche, an der man, so flüssig sie auch ist, trotzdem bemängeln muss, daß sie hier und da versucht, Voltaire zu glätten. So übersetzt Fontius den Vers Sans propreté l’amour le plus heureux  N’est plus amour, c’est un besoin honteux flüssig: Wie glücklich auch die Neigung – wo’s gebricht an Reinlichkeit, ist’s Notdurft, Liebe nicht. Doch es heißt bei Voltaire eben nicht Neigung, sondern Liebe und er meint damit kein romantisches Schmachten, sondern körperliche Liebe in drastischer Klarheit: Ohne Sauberkeit ist die glücklichste Liebe keine Liebe mehr, sondern ein schändliches Bedürfnis.  Nur so ist zu verstehen, warum er wegen dieser Passage verfolgt und der Gotteslästerung beschuldigt wurde. Man vergleiche die wörtliche Übersetzung dieses Abschnittes oben mit der entsprechenden (kursiv gedruckt) in der Version von Fontius, er malt eine Schäferidylle, wo Voltaire das sogenannte Paradies mit der Realität eines unzivilisierten Lebens konfrontiert – und karikiert

Regrettera qui veut le bon vieux temps 
Et l’âge d’or, et le règne d’Astrée,  
Et les beaux jours de Saturne et de Rhée, 
Et le jardin de nos premiers parents; 
Moi, je rends grâce à la nature sage
Qui, pour mon bien, m’a fait naître en cet âge
Tant décrié par nos tristes frondeurs
Ce temps profane est tout fait pour mes moeurs.
J’aime le luxe, et même la mollesse,
Tous les plaisirs, les arts de toute espèce,
La propreté, le goût, les ornements:
Tout honnête homme a de tels sentiments
Betraure, wer da will, die gute alte Zeit,
Das goldne Alter und Asträas Walten,
Saturns und Rheas segensreiches Schalten,
Den Garten, dessen Adam sich erfreut.
Ich dank~ der Natur, die weisheitsvoll
Zu meinem Wohl mich jetzt hervorgebracht,
Indieser Zeit, die leidlich gut gemacht:
Den tristen Tadlern gilt sie als frivol,
Doch meiner Lebensart ist sie genehm.
Ich liebe Luxus, üppig und bequem,
Die Künste, das Vergnügen, Reinlichkeit:
Ein jeder Ehrenmann sich daran freut.
il est bien doux pour mon coeur très immonde  
De voir ici l’abondance à la ronde,  
Mère des arts et des heureux travaux,  
Nous apporter, de sa source féconde,  
Et des besoins et des plaisirs nouveaux.  
L’or de la terre et les trésors de l’onde,  
Leurs habitants et les peuples de l’air,  
Tout sert au luxe, aux plaisirs de ce monde.
O le bon temps que ce siècle de fer!
Mein Herz, das freilich unrein, ist entzückt
Vom Überfluß, der uns ringsum beglückt:
Er ist der .Künste Hort, des Schönen Quelle,
Die neue Freuden bringt und Wünsche weckt.
Der Erde Gold und das der Meereswelle,
Was sie bewohnt und was darinnen steckt
Sowie auch alles, was in Küften schwebt –
es dient dem Luxus, des Vergnügens Zweck:
Wie gut es sich im Eisenalter lebt!
Le superflu, chose très nécessaire
A réuni l’un et l’autre hémisphère.  
Voyez-vous pas ces agiles vaisseaux  
Qui, du Texel, de Londres, de Bordeaux,  
S’en vont chercher, par un heureux échange,  
De nouveaux biens, nés aux sources du Gange, 
Tandis qu’au loin, vainqueurs des musulmans, 
Nos vins de France enivrent les sultans?  
Quand la nature était dans son enfance,  
Nos bons aïeux vivaient dans l’ignorance 
Ne connaissant ni le tien ni le mien.
Das Überflüssige, nicht zu entbehren,
Verbindet jetzt die beiden Hemisphären.
Unzählige schnelle Schiffe seht ihr froh
Von Texel abgehn, London und Bordeaux
Um Güter, die von Ganges‘ Ursprung kommen,
Günstig für uns ertauscht, indes die Frommen
Des Mohammed von Frankreichs Wein besiegt
Und mancher Sultan selig trunken liegt.
Voreinst, im Kindesalter der Natur,
Schwant‘ unsern guten Ahnen keine Spur
Von einem Mein, sie wußten nichts vom Dein.
Qu’auraient-ils pu connaître? Ils n’avaient rien, 
Ils étaient nus; et c’est chose très claire
Que qui n’a rien n’a nul partage à faire.
Sobres étaient. Ah! je le crois encore:
Martialo n’est point du siècle d’or.
D’un bon vin frais ou la mousse ou la sève
Ne gratta point le triste gosier d’Ève;
La soie et l’or ne brillaient point chez eux,
Admirez-vous pour cela nos aïeux?
Il leur manquait l’industrie et l’aisance:
Est-ce vertu? c’était pure ignorance.
Quel idiot, s’il avait eu pour lors 
Quelque bon lit, aurait couché dehors? 
Wie konnte es für sie wohl anders sein?
Sie hatten nichts, sie waren nackt; ’s ist klar:
Was sie nicht hatten, nicht zu teilen war.
Sie lebten mäßig, ja, ich glaube heut
Martialo war kein Koch der goldnen Zeit.
Und keines feurig-frischen Weines Schaum 
Letzt‘ je der Eva freudelosen Gaum.
Auch glänzte Seide, Gold den Ahnen nie:
Hegt deshalb ihr Bewunderung für sie?
Von Kunstfleiß, Wohlstand fehlte jede Spur.
Gilt das für Tugend? Ignoranz war’s nur.
Und welcher Narr, wenn er’s gehabt nur hätte,
Schlief damals draußen, nicht in seinem Bette?
Mon cher Adam, mon gourmand, mon bon père
Que faisais-tu dans les jardins d’Éden?
Travaillais-tu pour ce sot genre humain?
Caressais-tu madame Ève, ma mère?
Avouez-moi que vous aviez tous deux
Les ongles longs, un peu noirs et crasseux,
La chevelure un peu mal ordonnée,
Le teint bruni, la peau bise et tannée.
Sans propreté l’amour le plus heureux
N’est plus amour, c’est un besoin honteux. 
Bientôt lassés de leur belle aventure, 
Dessous un chêne ils soupent galamment 
Avec de l’eau, du millet, et du gland; 
Le repas fait, ils dorment sur la dure: 
Voilà l’état de la pure nature.
Mein lieber Adam, guter Vater, was
Tatst du im Garten Eden, Leckermaul?
Zu lieb der dummen Menschheit warst nicht faul? 
Mit Mutter Eva kostest du im Gras? 
Indes gebt zu, die Nägel von euch zwein, 
Sie waren lang, ein wenig schwarz, nicht rein; 
nicht eben wohlgeordnet euer Haar, 
Sonnenverbrannt die Haut und ledern war.
Wie glücklich auch die Neigung – wo’s gebricht 
An Reinlichkeit, ist’s Notdurft, Liebe nicht. 
Des schönen Spieles müde ohne Frage, 
Soupieren unter Eichen sie galant, 
Wo Wasser, Hirse sich zu Eicheln fand; 
Dann schlummern sie am Boden sonder Klage: 
Dies eben ist Natur im Urzustand. 
Or maintenant voulez-vous, mes amis, 
Savoir un peu, dans nos jours tant maudits
Soit à Paris, soit dans Londre, ou dans Rome,
Quel est le train des jours d’un honnête homme?
Entrez chez lui: la foule des beaux-arts, 
Enfants du goût, se montre à vos regards.
De mille mains l’éclatante industrie 
De ces dehors orna la symétrie. 
L’heureux pinceau, le superbe dessin 
Du doux Corrége et du savant Poussin
Sont encadrés dans l’or d’une bordure;
C’est Bouchardonqui fit cette figure,
Et cet argent fut poli par Germain. 
Des Gobelins l’aiguille et la teinture 
Dans ces tapis surpassent la peinture.
Tous ces objets sont vingt fois répétés
Dans des trumeaux tout brillants de clartés. 
De ce salon je vois par la fenêtre, 
Dans des jardins, des myrtes en berceaux;
Je vois jaillir les bondissantes eaux.  
Mais du logis j’entends sortir le maître: 
Un char commode, avec grâces orné,
Par deux chevaux rapidement traîné,  
Paraît aux yeux une maison roulante, 
Moitié dorée, et moitié transparente: 
Nonchalamment je l’y vois promené; 
De deux ressorts la liante souplesse  
Sur le pavé le porte avec mollesse.  
Soll ich euch aber nun, ihr Freunde, sagen,
Wie sich’s in unsern oft verwünschten Tagen
Für einen Ehrenmann gewöhnlich lebet,
Sei’s in Paris, in Rom, in London? Gebet
Die Ehre ihm und tretet in sein Haus:
Der Reichtum schöner Künste füllt es aus;
Die der Geschmack gezeugt. Seine vier Wände
Schmückt der Gewerbefleiß von tausend Händen.
Was ein Correggio schuf, was hochgelehrt
Poussin entwarf, ein goldner Rahmen Iehrt.
Von Bouchardon stammt dieses Standbild hier 
Und von Germain des Silbers Glanz und Zier.
Und mehr als manchen Malers Arbeit wert
Sind Farbe, Zeichnung dieser Teppichpracht,
Im Haus der Gobelins hervorgebracht.
Dies alles leuchtet, funkelt viele Male
Aus klaren Pfeilerspiegeln rings im Saale.
Schau ich durchs -Fenster, seh ich Gärten prangen,
Es schatten Myrtenlauben, Wasser springen.
Ich höre ein Geräusch ans Ohr mir dringen:
Der Hausherr ist soeben ausgegangen.
Zwei Pferde ziehn in schnellem Trab den Wagen,
Der schön geziert, bequem, ich möchte sagen:
Er scheint ein Haus auf Rädern, halb aus Glas,
Vergoldet halb. Es sitzt sich gut darin,
Weich rollt er über hartes Pflaster hin;
Zwei Federn, die geschmeidig, biegsam tragen
Die prächtige Karosse, wirken das.
Il court au bain: les parfums les plus doux  
Rendent sa peau plus fraîche et plus polie 
Le plaisir presse; il vole au rendez-vous  
Chez Camargo, chez Gaussin chez Julie;  
Il est comblé d’amour et de faveurs 
Il faut se rendre à ce palais magique 
Où les beaux vers, la danse, la musique,  
L’art de tromper les yeux par les couleurs,  
L’art plus heureux de séduire les coeurs,  
De cent plaisirs font un plaisir unique.
Er eilt ins Bad: duftende Wasser geben
Mehr Frische seiner Haut. Nun drängt es ihn
Zum Stelldichein: zu Julie fliegt er eben,
Zu der Gaussin und zur Camargo hin.
Liebe und Kunstbeweis verwöhnen ihn
Nun heißt’s, in jenes Zauberschloß sich wenden,
Wo schöne Verse, Tanz, Musik, die Kunst
Des Farbentrugs zum Ganzen sich vollenden
Mit jener bessern: aller Herzen Gunst
Durch edle Schmeichelei sich zuzuwenden.
Il va siffler quelque opéra nouveau 
Ou, malgré lui, court admirer Rameau.  
Allons souper. Que ces brillants services,  
Que ces ragoûts ont pour moi de délices!  
Qu’un cuisinier est un mortel divin!  
Chloris, Églé, me versent de leur main  
D’un vin d’Aï dont la mousse pressée 
De la bouteille avec force élancée,  
Comme un éclair fait voler le bouchon;  
Il part, on rit; il frappe le plafond.  
De ce vin frais l’écume pétillante  
De nos Français est l’image brillante.  
Le lendemain donne d’autres désirs,  
D’autres soupers, et de nouveaux plaisirs.
Dort pfeift er eine neue Oper aus,
Zollt, ob er schon nicht will, Rameau Applaus.
Dann zum Souper. Welch köstliche Ragouts
Auf blinkendem Geschirr: ein Hochgenuß!
Ein Sterblicher, der göttlich, ist der Koch!
Chloris, Aglaia schenken lächelnd ein;
Soeben hielt den Wein der Pfropfen noch,
Jetzt schäumt Champagner ihm ins Glas hinein.
Seht, Freunde, wie ein Blitz der Pfropfen schießt
Zur Decke auf, und alles lacht, genießt.
Es perlt, es schäumt im Glas der kühle Wein:
Recht ein Franzose scheint er mir zu sein.
Und neue Wünsche bringt der Tag darauf,
Neue Soupers und neue Freuden auf.
Or maintenant, monsieur du Télémaque
Vantez-nous bien votre petite Ithaque,  
Votre Salente, et vos murs malheureux,  
Où vos Crétois, tristement vertueux,  
Pauvres d’effet, et riches d’abstinence,  
Manquent de tout pour avoir l’abondance:  
J’admire fort votre style flatteur,  
Et votre prose, encore qu’un peu traînante;  
Mais, mon ami, je consens de grand coeur  
D’être fessé dans vos murs de Salente,  
Si je vais là pour chercher mon bonheur.  
Et vous, jardin de ce premier bonhomme,  
Jardin fameux par le diable et la pomme 
C’est bien en vain que, par l’orgueil séduits,  
Huet, Calmet, dans leur savante audace,  
Du paradis ont recherché la place:  
Le paradis terrestre est où je suis.
Nun, werter Herr, der Telemach erschuf,
Preist Euer kleines Ithaka, den Ruf
Salentos mehrt und jener tristen Mauern, 
Wo Eure tugendreichen Kreter trauern.
Ihr Schwelgen im Verzicht beeindruckt schwerlich:
Sie leiden Mangel ums Die-Fülle-Haben.
Euern gefälligen Stil bewundere ich ehrlich,
Selbst Eurer Prosa zögerliches Traben;
Doch, guter Freund, in eines wi1lige ich:
Verprügeln soll man ohne weitres mich
Dort in Salento, wäre ich so dumm
Und säh mich da nach meinem Glücke um.
Du aber, unsrer ersten Eltern Garten, 
WoApfelbaum und Schlange jene narrten:
Vergebens haben hochgelehrte Leute
Wie Huet und Calmet, vom Stolz verführt,
Dem Ort des Paradieses nachgespürt:
Im Paradies auf Erden leb ich heute.

Kritiker und die Verteidigung des Luxus

Schnell erschienen etliche Gegenschriften, lanciert von klerikalen oder literarischen Gegnern wie die von Priron (L’Anti-Mondain‘), Voltaires begabtem Erzrivalen. Doch Voltaire war schließlich nicht auf den Mund gefallen und verfasste sogleich seine ‚Verteidigung des Mondain’, dessen Anfang hier erstmals in deutscher Sprache wiedergeben wird:

LA DÉFENSE DU MONDAIN POUR RÉPONDRE
AUX CRITIQUES QU’ON AVAIT FAITES DU MONDAIN.

La défense du Mondain

A table hier, par un triste hasard,
J’étais assis près d’un maître cafard,
Lequel me dit: « Vous avez bien la mine
D’aller un jour échauffer la cuisine
De Lucifer;et moi, prédestiné,
Je rirai bien quand vous serez damné
Damné! comment? pourquoi? – Pour vos folies.
Vous avez dit en vos oeuvres non pies,
Dans certain conte en rimes barbouillé,
Qu’au paradis Adam était mouillé Lorsqu’il pleuvait sur notre premier père;
Qu’Ève avec lui buvait de belle eau claire;
Qu’ils avaient même, avant d’être déchus,
La peau tannée et les ongles crochus.
Vous avancez, dans votre folle ivresse,
Prêchant le luxe, et vantant la mollesse,
Qu’il vaut bien mieux (ô blasphèmes maudits!)
Vivre à présent qu’avoir vécu jadis. Par quoi, mon fils, votre muse pollue
Sera rôtie, et c’est chose conclue. »
Disant ces mots, son gosier altéré
humait un vin qui, d’ambre coloré,
Sentait encor la grappe parfumée
Dont fut pour nous la liqueur exprimée.
Un rouge vif enluminait son teint.
Lors je lui dis: « Pour Dieu, monsieur le saint,
Quel est ce vin? d’où vient-il, je vous prie?
D’où l’avez-vous? Il vient de Canarie;
C’est un nectar, un breuvage d’élu:
Dieu nous le donne, et Dieu veut qu’il soit bu.
Et ce café, dont après cinq services
Votre estomac goûte encor les délices?
Par le Seigneur il me fut destiné.
Bon : mais avant que Dieu vous l’ait donné,
Ne faut-il pas que l’humaine industrie
L’aille ravir aux champs de l’Arabie?

Die Verteidigung des Luxus

Gestern zu Tisch, durch einen traurigen Zufall
kam ich neben einem Oberfrömmler zu sitzen,
welcher zu mir sprach: Sie machen mir ganz den Eindruck,
eines Tages in der Küche Luzifers verheizt zu werden
und ich als Auserwählter.
werde lachen, wenn sie verdammt sein werden
– Verdammt? Wie? Weshalb? – Für ihre Narrheiten.
Sie haben in ihren unfrommen Werken gesagt
in irgendeiner schlecht gereimten Erzählung,
dass Adam im Paradies nass wurde, als
es auf unseren ersten Vater herunterregnete,
dass Eva mit ihm gutes klares Wasser trank
dass sie sogar, bevor sie vertrieben wurden,
gegerbte Haut und gebogene Nägel hätten
Sie gehen soweit, in Ihrer verrückten Trunkenheit
Luxus zu predigen und die Weichheit zu loben,
daß es besser sei (Oh verdammte Gotteslästerung!),
heute zu leben, als damals gelebt zu haben.
Deshalb mein Sohn, wird ihre unreine Kunst
geröstet werden, das ist beschlossene Sache
Als er so sprach, benetzte seine trockene Kehle
ein bernsteinfarbener Wein,
der noch nach dem Duft der Traube roch,
aus der für uns der Nektar gepresst wurde.
Ein lebhaftes Rot belebte seinen Teint.
Da sagte ich ihm:        „Bei Gott, Herr Heiliger,
Welcher Wein!, woher kommt der bitte sehr?
Wo haben sie ihn her? – Er kommt von Canarie
es ist eine Nektar, ein auserlesener Tropfen.
Gott gab ihn uns, Gott will, dass er getrunken werde,
— und dieser Café, von dessen Erlesenheit
auch nach fünf Gängen Euren Magen noch gelüstet?
– Vom Herrgott wurde er mir zugedacht
– Gut, aber bevor Gott ihn Euch geben konnte,
musste ihn da nicht menschliche Tätigkeit
den Feldern Arabiens entlocken?

Luxus ist für Voltaire untrennbar verbunden mit Lebensfreude, sinnlichem Genuß und bedeutet nicht den Luxus derjenigen, die ihn als Staussymbol gebrauchen, ohne irgendeinen anderen Gefallen daran zu haben, als sich am Neid ihrer Zeitgenossen zu erfreuen. Luxus ist für Voltaire ein Synonym für ‚zivilisierte Lebensfreude‘ und enthält darüber hinaus das Modell einer Gesellschaft, die nach der Aufklärungsmaxime: ‚das größtmögliche Glück für die größtmögliche Zahl‘ gestaltet wäre. Zwar gibt es Lebensfreude auch ohne Zivilisation, ohne Kultur, pure Triebbefriedigung, auch sie soll man nicht verdammen, eine humane Gesellschaft steht ihr keinesfalls negativ gegenüber, sie will sie aber veredeln, verfeinern und kultivieren. Wie aktuell diese Konzeption bis heute ist, wird deutlich, wenn man sie mit den Verzichtsdebatten unseres beginnenden 21. Jahrhundert konfrontiert, wo fast jeder Genuß unter das Verdikt der Gesundheits-, Umwelt- oder Resourcenbelastung gestellt wird. Zieht man nur etwa die düstere Antiraucherkampagne als Beispiel heran, hätte ein an Voltaire orientiertes Verfahren zuallererst die Frage zu beantworten, wie der Lebensgenuß all der Raucherfreunde zu schützen wäre, ohne dabei das Verlangen anderer nach rauchfreien Zonen zu vernachlässigen. Gesellschaftlich schützenswert stünde dabei die Freude am Rauchen gleichbereichtigt neben der Begeisterung für Reinräume unter Nichtrauchern. Es ist sehr zu bedauern, wie sich in solchen Debatten ein seltsames Verständnis von Aufklärung in den Vordergrund schiebt und unter dem Vorwand der Sorge um Volksgesundheit, Kinderschutz, Gesundheitskassen und ihren Kosten das Ziel einer humanen und lebenswerten Gesellschaft zu Grabe getragen wird.

Voltaire ist immer wieder auf das Thema Luxus zurückgekommen, etwa in seinem berühmten Candide, wo er im glücklichen Eldorado die Segnungen des absoluten Luxus vorstellt. und er hat den Luxus zeitlebens – so etwa gegen das ‘Zurück zur Natur’ J. J. Rousseaus – verteidigt, auf dessen Schrift ‚Discours sur l’origine de l’inégalité parmi des hommes’ er am 30. August 1755 brieflich betont polemisch reagierte: “On n’a jamais employé tant d’esprit à vouloir nous rendre bêtes; il prend envie de marcher à quatre pattes quand on lit votre ouvrage.“ und das heißt ungefähr: Man hat noch nie so viel Geist aufgeboten, um uns schweinedumm zu machen, und man hat nicht übel Lust, auf allen Vieren zu laufen, wenn man ihr Werk liest“. Rousseau sollte es ihm nie verzeihen.

Anhang:

Voltaire an Cideville am 5. August 1736: (Pierre Robert Cornier de Cideville lebte fast zeitgleich mit Voltaire von 1693 bis 1776 und war sein Klassenkamerad im Pariser Gymnasium Louis le Grand, Poet und später Mitbegründer der Akademie von Rouen), man sieht: ‚Le Mondain‘ wurde von Hand zu Hand weitergericht, eine Veröffentlichung war erst neun Jahre später möglich, versteckt in seiner Werkausgabe bei Ledet in Amsterdam im Jahr 1745.

A M. DE CIDEVILLE.

A Cirey, ce 5 août.

Mon cher ami, on vous a envoyé le Mondain j’envoie une ode à M. de Formont. M. de Formont vous donnera l’ode, et vous lui donnerez le Mondain. Vous voyez, mon aimable Cideville, qu’on fait ce qu’on peut pour vous amuser; tenez-m’en compte, car je suis entre Newton et Émilie. Ce sont deux grands hommes, mais Émilie est bien au-dessus de l’autre. Newton ne savait pas plaire. Vous, qui entendez si bien ce métier-là, comptez que vous devriez venir à Cirey; nous quitterions pour vous les triangles et les courbes, nous ferions des vers, nous parlerions d’Horace, de Tibulle et de vous. V.        

An HerrnM. DE CIDEVILLE.

Zu Cirey, am 5 August

Mein lieber Freund, man hat Ihnen ‘Le Mondain’ zukommen lassen, ich schicke eine Ode an Monsieur de Formont. M.de Formont wird Ihnen diese Ode geben und Sie werden ihm Le Mondain übergeben. Sie sehen, mein lieber Cideville, man tut was man kann um Euch zu amüsieren, rechnen Sie mir das hoch an, denn ich befinde mich zwischen Newton und Emilie. Das sind zwei große Menschen, aber Emilie ist dem anderen deutlich über, Newton wusste nicht zu gefallen. Sie, der Sie dieses Metier so gut beherrschen, rechnen Sie damit, dass Sie nach Cirey kommen müssen, wir werden für Sie die Geodreiecke und die Krümmungsmesser verlassen und wir werden Verse machen, wir werden über Horaz sprechen, von Tibulle und von Ihnen. V.

Literatur:

– Werner Krauss, Cartaud de la Villate, Berlin:Akademie 1960  2 Bd. 230,327S.

– Voltaire, Ein Lesebuch für unser Zeit, herausgegeben von Martin Fontius, Berlin: Aufbau, 1989

– Oeuvres complètes de Voltaire herausgegeben von P. de la Beaumarchais, 70 vols., Kehl: De l’Imprimerie de la Societe Litteraire Typographique, 1784-1789.

– Oeuvres complètes de Voltaire, herausgegeben von Louis Moland, 52 vols, Paris 1877-1885.

Voltaire – ein Antisemit?

Widerlegung scheinheiliger Behauptungen. Ein Essay von Rainer Neuhaus*


Wenn wir aufhören, Voltaire zu ehren,
sind wir für die Freiheit nichts mehr wert
(Will Durant)

Antisemitismus I: Die Aufklärung und ihre Gegner.

Voltaire ist schlecht für König, Kirche, Karitas, Voltaire ist gut für alle, die ihren Lebensunterhalt selbst verdienen, lesen und schreiben können und sich kein X für ein U vormachen lassen wollen. Ob es einen Plan gibt, die Aufklärung durch den Antisemitismusvorwurf zu schwächen, oder nicht, das entsprechende Geschrei im Internet und Artikel wie der kürzlich in der Tageszeitung Die Welt (1) erschienene passen jedenfalls recht gut zum Zeitgeist, der aus ‚Antisemitismus’ und ‚Rassismus’ längst eine Waffe geschmiedet hat, die all jene zu spüren bekommen, die es wagen, aufgelegten Lügengespinsten mit eigenen Beobachtungen und Gedanken in den Weg zu treten.

Nicht nur, daß sich, befremdlich genug, mit der bloßen Behauptung, in der Tradition der Opfer des Holocaust zu stehen, Geld verdienen läßt, was vor allem diejenigen trifft, die das Andenken wirklich selbstlos bewahren, darüber hinaus dient sie selbsternannten Gralswächtern dazu, Humanisten, Pazifisten, Antiimperialisten, Antisemiten gleichermaßen zu Judenhassern zu erklären, ganz besonders dann, wenn jemand die Politik Israels und seiner Schutzmacht kritisiert. Auf solche Weise werden kriegerische und menschenfeindliche Motive ideologisch kaschiert und es bedarf keiner hellseherischen Fähigkeit, um vorhersagen zu können, daß besagte Gralshüter in dem Augenblick zu Israelfeinden mutieren werden, in dem die Schutzmacht ihren Brückenkopf Israel nicht mehr zur Durchsetzung der eigenen Interessen benötigt.

Der Antisemitismusvorwurf gegen Voltaire, d’Holbach, d’Alembert, sogar Diderot, hat schon immer rückwärtsgewandten Kreisen dazu gedient, die Aufklärung an einem ihrer vermeintlich schwachen Punkte zu treffen. Ob es sich dabei um zionistische oder christliche Finsterlinge handelte, immer ging es in solchen Reden und Texten darum, eine unliebsame Lehre anzugreifen, indem man ihre Repräsentanten als moralisch fragwürdig erscheinen lässt, ein Mittel, so alt wie die Menschheit selbst (erinnert sei nur an Aristophanes, der Sokrates eines Manteldiebstahls beschuldigte, um dessen Religionskritik anzugreifen). Was Voltaire betrifft, hat man ihn auch schon einen schwierigen Charakter, geizig und als einen undankbaren Zeitgenossen gescholten, doch jetzt, wo der Antisemitismusvorwurf als Pfeil im Köcher der Mächtigen steckt und die Schriften Voltaires weitgehend unbekannt sind, ist, so steht zu befürchten, der Zeitpunkt günstig, gegen die Aufklärung zum entscheidenden Schlag ‚wegen Antisemitismus’ auszuholen. Sehen wir, was es mit dem angeblichen Antisemitismus Voltaires auf sich hat.

Antisemitismus II: Voltaire, die Juden und die Verfolgung Andersgläubiger.

Francois Marie Voltaire lebte 84 Jahre, von 1694 bis 1778. Im ersten Drittel seines Lebens wohnte er unter seines Vaters Namen ‚Arouet’ in Paris, dann unter seinem selbstgewählten Namen ‚Voltaire’ an wechselnden Orten in Frankreich, den Niederlanden, England und Deutschland, um dann ab 1753 in der vor Verfolgung sicheren Grenzregion um Genf, teils in Frankreich, teils in der Schweiz zu residieren. Erst in seinem Todesjahr 1778 ist er nach Paris zurückgekommen.

In seiner Heimatstadt Paris hat es damals sehr wenig Juden gegeben (einige hundert nur), Voltaire dürfte sie als ‚Gemeinde’ kaum wahrgenommen haben, allerdings kam er in Kontakt zu einigen ihrer herausragenden Mitglieder: er erwähnt zum Beispiel Silva, Leibarzt der Königin, den er schätzte und konsultierte. Judenverfolgungen im engeren Sinne hat es in Frankreich damals nicht gegeben, allerdings versuchte die Obrigkeit in Paris, deren Zuzug zu beschränken und die ansässigen Juden wurden von einem ‚Judenbeauftragten’ drangsaliert, der ihnen das Leben schwer machte und sich selbst nach Kräften an ihnen bereicherte. Nur im fernen Elsaß und in Bordeaux hat es eine bedeutende jüdische Gemeinde gegeben; nach Bordeaux waren zahlreiche portugiesische Juden vor der Inquisition geflüchtet und in den Elsaß sind viele Juden aus Polen gekommen, um sich gegenüber den sehr ärmlichen Verhältnissen dort ein besseres Leben aufzubauen.

Was es im Frankreich zu Lebzeiten Voltaires allerdings immer gegeben hat, war die Verfolgung von Protestanten, den sogenannten Hugenotten, denn 1685 war das seit Henry IV (ihm hat Voltaire ein berühmtes Epos gewidmet) geltende Gebot der religiösen Toleranz, das Edikt von Nantes, aufgehoben worden. Auf die Verfolgung Andersgläubiger seit jeher spezialisiert, konzentrierte sich die katholische Kirche sofort nach der Aufhebung des Toleranzediktes auf die Bekämpfung der Protestanten, setzte für sie Berufsverbote durch, zwang deren wohlhabende Familien, nur katholisches Personal anzustellen und unterdrückte brutal ihre Religionsausübung (wagten sie trotzdem, sich insgeheim zu versammeln, hat man die Prediger gefangengenommen und umgebracht). Es ist also festzustellen, dass sich die Kirche, um mit Voltaire zu sprechen: der Fanatismus, im 18. Jahrhundert in Frankreich auf die christlichen Abweichler konzentrierte und dass er die Juden, vielleicht, weil sie nicht sehr zahlreich waren, nicht im Visier hatte.

Stattdessen gab es aber Versuche, die jüdische Tradition für das Christentum zu beerben und das ging ungefähr so: die Juden waren zu Anfang Gottes auserwähltes Volk, sie haben sich aber schlecht benommen, als sie Christus ablehnten – da war es mit der göttlichen Gnade ganz vorbei. Gott hat sie deshalb verstoßen und seinen Sohn veranlasst, eine eigene Christenpartei zu gründen, deren Mitglieder seitdem seine wahren Parteigänger sind. Die Juden sind solchermaßen die älteren Verwandten der Christen und brauchen bloß zum Christentum überzutreten, um vollwertige Mitglieder der Gesellschaft zu werden. Der Theologe, der solches, natürlich mit wohlgesetzten, anderen Worten, vor allem predigte, war der einflussreiche Hofprediger Bossuet, der mit seinem Buch Discours sur l’histoire universelle (1681) dem Thronfolger Ludwig XV. erklärte, daß die Welt in der Geschichte immer perfekter, d.h. immer christlicher geworden sei und daß sie das nur bleiben könne, wenn das Christentum auch weiterhin die Macht ausübe.

Antisemitismus III: Voltaire und die jüdische Religion.

Nur wer diesen Hintergrund kennt, ist in der Lage, Voltaires Haltung zum Judentum zu beurteilen. Voltaire hatte ebenso eine Meinung zur jüdischen Religion, wie er ein Meinung zum christlichen Glauben und zum Islam hatte. Er forderte religiöse Toleranz und erkannte die tödliche Gefahr für die Freiheit, wenn es einer Religion gelingt, sich an die Macht zu schwingen: „Habt ihr bei euch zwei Religionen, werden sie sich die Kehle durchschneiden, habt ihr dreißig, leben sie miteinander in Frieden“.

Außerdem war Voltaire ein entschiedener Gegner aller monotheistischen Offenbarungsreligionen, also der Religionen, die die Auffassung vertreten, dass außer ihren Berufsspezialisten, den Priestern, niemand beurteilen kann, was wahr oder falsch, richtig und gut, schön oder hässlich ist. Was daran liegen soll, daß Gott ihnen und nur ihnen seine Worte (‚die Wahrheit’) übermittelt hat – die soooo schwierig zu interpretieren sind, daß außerhalb der Kirche dieses Geschäft niemand beherrscht. Voltaire kritisierte die Anmaßung, die in allen monotheistischen Offenbarungsreligionen steckt und er erkannte, dass, wer solches glaubt und behauptet, Andersdenkende immer verfolgen wird, wenn er nur erst die Macht dazu besitzt, denn jeder Abweichler ist eine lebende Widerlegung ihres Gründungsmythos mit integriertem Alleinvertretungsanspruch.

Voltaire hat infolgedessen auch das Judentum an vielen Stellen kritisiert: – bei seiner Kritik am Alten Testament und am historischen Judentum, – wenn er nachweist, daß die Behauptung von der Offenbarung den Glauben vom auserwählten Volk Gottes nach sich zog und daraus, ähnlich wie später beim Christentum, Verfolgungsaktionen gegen Andersgläubige hervorgingen, – wenn er das Judentum seiner Zeit als Bastion des Aberglaubens, damit als Gegner der Aufklärung ansieht. Außerdem gibt es (wenige) Briefstellen, die vermuten lassen, daß es bei Voltaire auch Überbleibsel des christlichen Antisemitismus gegeben hat, die auf den alten Vorwurf der ‚Käuflichkeit’ und den der ‚Organisation jüdischer Seilschaften’ zurückgehen. Dagegen hat Voltaire das Judentum immer gegen die Verfolgung durch die katholische Inquisition verteidigt, in seiner bisher noch nie ins Deutsche übersetzten Schrift Sermon du Rabbin Akib (2) hat er alle Argumente zu einer Verteidigungsrede zusammengefasst, die auch heute noch Gültigkeit beanspruchen können.

Voltaires Kampf für religiöse Toleranz, also für die Gleichberechtigung aller Religionsgemeinschaften war ein Kampf gegen den Hauptfeind, gegen die mörderische katholische Kirche und ihre Inquisitionsgerichte. Er bekämpfte sie, die er unter dem Begriff der ‚Infâme’ zusammenfasste, an vielen Fronten. Bekannt geworden sind vor allem die drei spektakulären Kampagnen, in denen Voltaire gegen die Verurteilung Andersdenkender zum Tode für deren Rehabilitation kämpfte. Es handelt sich um das Todesurteil gegen Jean Calas in Toulouse 1762, den die Kirche und ihre Helfershelfer unter fadenscheinigen Anschuldigungen in Toulouse aufs Rad hatte flechten lassen (3), 1764 gegen Jean Paul Sirven, den man, wiederum in Toulouse, wie Jean Calas rädern lassen wollte – Voltaire erreichte seinen Freispruch – und gegen den Chevalier de la Barre, den man am 1.Juli 1766 in Abbéville hingerichtet hat, weil er eine Prozession nicht ehrerbietig gegrüßt hatte. In vielen seiner Theaterstücke zeigte er die Menschenfeindlichkeit der Kirche und ihrer Vertreter, nicht zuletzt deshalb werden sie heute nicht mehr aufgeführt. Er forderte religiöse Toleranz und kritisierte in zahlreichen Schriften, vor allem in seinem Philosophischen Wörterbuch, den christlichen Glauben selbst.

Das war allerdings nur unter erhöhten Sicherheitsvorkehrungen möglich, daher versteckte Voltaire sich selbst in Ferney, der äußersten Ecke Frankreichs und er versteckte seine Kritik, indem er zum Beispiel eine Diskussion um Religionsfragen in China stattfinden ließ, ein Theaterstück zum Fanatismus unter dem Titel Mahomet und nicht etwa unter ‚Paulus’ veröffentlichte und indem er sich das alte Testament, also die Grundlage, das Fundament des Christentums, unter dem Vorwand, die jüdische Religion zu kritisieren, vornahm. Adressat dieser Kritik ist nicht ein zu Voltaires Zeit gar nicht vorhandenes jüdisches Volk, er wendet sich an das Christentum selbst und an seine Vertreter, ihnen weist er nach, wie das Volk Gottes war, dessen göttlich legitimierter Nachfolger sie zu sein behaupten. Gerade daraus versuchen ihm aber heutige Gegner der Aufklärung einen Strick zu drehen. Wer die jüdische Religion – Adressat hin oder her – polemisch und satirisch ins Visier nimmt, hat sich nach diesen heutigen Hofpredigern mitschuldig am Holocaust gemacht. Es ist absurd: gerade Voltaire, dem wir die klare Idee persönlicher Unabhängigkeit, die Forderung der religiösen Toleranz und eine Vorstellung davon, was es heißt, sich für diese Ziele einzusetzen, verdanken, soll ein Antisemit gewesen sein, er, der die entscheidende Schwächung der Inquisition bewirkte? Credo quia absurdum est!

Antisemitismus IV: Ecrasez l’Infâme!


Den Zeitgenossen Voltaires dürfte die Zielrichtung seiner Kritik am Judentum klar gewesen sein, denn sie kannten Stellen wie die folgenden, an denen, tauscht man nur das Wort christlich gegen jüdisch aus, die Mechanik der Maskerade vieler anderer, angeblich ‚antijüdischer’ Stellen klar und deutlich hervortritt: „Ihre unverträgliche, intolerante Sekte wartete [zur Zeit des römischen Reiches] nur darauf, die unumschränkte Freiheit zu besitzen, um dann der übrigen Menschheit die Freiheit zu rauben.“ (319); „Zum Schluß stelle ich fest, daß jeder vernünftige, jeder anständige Mensch die christliche Sekte verabscheuen muß.“(Lord Bolingbroke, S. 370); „Möge unser großer Gott, der mich hört, dieser Gott, der gewiß nicht von einer Jungfrau geboren sein kann, noch an einem Kreuz gestorben ist, noch in einem Stück Brot gegessen werden kann, noch die Bücher voll von Widersprüchen und Schrecknissen inspiriert haben kann, möge dieser Gott, der Schöpfer der Welten, Erbarmen haben mit dieser Sekte der Christen, die ihn lästern“ (Sermon des Cinquante).

Voltaires Forderung nach Toleranz für alle Religionen ist in seinem Werk derart präsent, daß die Behauptung des Gegenteils von der finsteren Absicht der Voltairekritiker selbst zeugt. Hierzu nur zwei Textstellen als Beleg: „Ich sage euch, daß man alle Menschen als unsere Brüder anzusehen hat. Was? Mein Bruder der Türke? Mein Bruder der Chinese? Der Jude? Der Siamese? Ja, zweifellos; sind wir nicht alle Kinder desselben Vaters, Wesen desselben Gottes?“ (Traité de la Tolérance); „Es sollten doch die Wortverdreher, die in ihrem eigenen Bereich so viel Nachsicht nötig haben, endlich aufhören diejenigen zu verfolgen und auszulöschen, die als Menschen ihre Brüder und als Juden ihre Väter sind. Jeder diene Gott in der Religion, in die er hineingeboren wurde, ohne seinem Nachbarn das Herz herausreißen zu wollen, durch Streitereien, bei denen niemand den anderen versteht.“ (Sermon du Rabbin Akib).

Und wie lautet die Schlussfolgerung aus alledem? Mit der eigentlich leicht durchschaubaren Antisemitismus-Finte will das Christentum, wollen seine Nachfolger, Voltaire, einen ihrer entschiedensten Kritiker erledigen (dass Islamisten wie Tareq Ramadan beim Erledigen keineswegs abseits stehen, zeigte er 1993 in Genf), um der Aufklärung, um dem selbst denkenden, antiautoritären Menschen den Garaus zu machen.

Die Dreckschleudern gegen die Aufklärung stehen niemals still, haben niemals stillgestanden, und werden nicht stillstehen, jedenfalls nicht bis zu dem Zeitpunkt, an dem Voltaires Schlachtruf, den man heute etwas umfassender, nicht nur im antikirchlichen Sinne verstehen sollte, verwirklicht ist: „Ecrasez l’Infâme“!

*Rainer Neuhaus ist verantwortlicher Redakteur der Voltaire-Internetseiten www.correspondance-voltaire.de, die er im Namen der Voltaire-Stiftung herausgibt.
(1) Die Welt, 27.7.2012.
(2) Die Übersetzung findet man als Anhang des weiterführenden Seiten Voltaire – Juden, Antisemitismus?
(3) Siehe ausführlich zur Affaire Calas

Widerlegung scheinheiliger Behauptungen Voltaire – ein Antisemit? als pdf herunterladen.

Voltaire vernebelt: Voltaires Fanatismuskritik in Zürich entschärft

Adaption von Voltaires Der Fanatismus oder Mohammed der Prophet im Volkshaus Zürich

Aufführung am 4.11.2017 (Prophet 3.0, Regie Andrej Togni). Besprechung der Erstaufführung.

Als die politisch-propagandistische Offensive des Islam unter aktiver Förderung der westlichen Regierungen in Europa begann, bewirkte vor 24 Jahren ein Genfer Stadtrat, daß die Aufführung von Voltaires Der Fanatismus oder Mohammed der Prophet abgesagt werden musste, ganz einfach dadurch, daß er der Schauspieltruppe die zugesagten finanziellen Mittel entzog. Um des lieben Friedens willen, sozusagen, denn auf den Straßen demonstrierten von den Brüdern Ramadan aufgestachelte Kopftuchfrauen. Die Absage führte zu erregten Debatten in der Genfer Bevölkerung, immerhin hätte das Stück zum 300. Geburtstag Voltaires gezeigt werden sollen. Das geschah 1993, wenige Jahre nach dem Mordaufruf Khomeinis gegen Salman Rushdie.

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Voltaire verhunzt: Die Prinzessin von Babylon im Freitag-Blog

Zum Blog-Beitrag von Freitag-Community-Mitglied Soloto vom 21.10.2016

von Rainer Neuhaus

Der – aus unserer Sicht – widerlichste Text des Jahres 2016 stammt von einem Mitglied der Freitag-community und ist eine ‚Gendermeditation’, soll wohl heißen, daß einer herauslabert, was unter Ausschaltung jeglicher Vernunft aus seinem unbewussten Schlamassel zum Thema Voltaire so alles hochkommt. Was dabei herauskommt? Ein stinkender, sich selbst als Rosenduft empfindender Misthaufen – nichts anders.

Sich diesem Unrat zu widmen, hieße Perlen vor die Säue werfen, wenn denn nicht Gestank die Eigenschaft hätte, sich auszubreiten, oder wenn man damit rechnen könnte, daß Wissen zu Voltaires Leben und Werk allgemein verbreitet ist. Außerdem hilft es vielleicht, einige Illusionen über Zeitungen von der Art des Freitag zu vertreiben.

Hier, was Mister Soloto in seiner Gendermeditation zum Besten gibt. Und so legt er los: „Viele beziehen sich auf die Aufklärung, doch liest man die Texte wirklich, entstehen Irritationen. Irritationen, um die man seine Gedanken wie Hüften kreisen lassen kann“. Und so endet er: „Diese Sichtweise, versteht sich von selbst, kann ich mit keinerlei Quellenangaben belegen, sie ist pure Spekulation und flatterte mir eben so zu, der Weltgeist zwitscherte, tschilp, tschilp.“ Jaja, der Weltgeist zwitscherte – man hört ihn förmlich krächzen – und gab Freitag-Soloto dann noch diese feinduftende Weisheit ein: „Mag des Menschen spirituelle Essenz auch geistiger Natur sein, hat sie doch ein biologisches Korrelat, das Ejakulat.

Dazwischen liegen seine Ausgüsse zu Voltaires Roman ‚Prinzessin von Babylon’. Freitag-Soloto hat ihn auf der Straße gefunden, vor einem Hauseingang abgelegt, wie es heute üblich ist: man stößt Bücher ab, setzt sie aus, hofft, sein schlechtes Gewissen zu beruhigen, indem man ein gutes Werk verrichtet. In diesem Fall ging das daneben, denn Freitag-Soloto findet Voltaire, an dem er schon immer einmal sein Mütchen kühlen wollte: „Voltaire, der Verfechter der Vernunft. Ekelig, natürlich, aber auch er hat eine Chance verdient.“ Die Chance ist, daß Meister Soloto den Roman liest. Chapeau!

Wofür steht aber Voltaires Prinzessin von Babylon? Hier, was als Inhaltsangabe auf den Seiten der Voltaire-Stiftung steht:

Die Erzählung „Die Prinzessin von Babylon“ erschien 1768 in Genf. Eine Prinzessin, schön wie Tag und Nacht zugleich, reist, von ihrer Liebe zu Amazan, dem Schäfer, getrieben, rund um die ganze Welt, um ihn wiederzufinden. Ihre märchenhafte Reise führt durch Länder aller politischer und gesellschaftlicher Verhältnisse, von Tyranneien bis zur konstitutionellen Monarchie, von entwickelten Zivilisationen mit Handel, Kunst und Wissenschaft bis zu Gesellschaften mit nicht viel anderem als Ackerbau und Viehzucht. Es ist äußerst interessant, wie Voltaire die einzelnen Systeme bewertet und alle, die ihn der Sympathie zum Absolutismus verdächtigen, werden hier eines besseren belehrt. Es ist immer wieder überraschend, dass Voltaires Charakterisierungen der einzelnen Völker auch nach 300 Jahren Ihre Gültigkeit nicht verloren haben („Die Deutschen sind die Greise Europas…(S.248)“).Die Reise der Prinzessin endet in Spanien fast mit ihrem Tod auf dem Scheiterhaufen, denn sie fällt der Inquisition in die Hände. Erst das beherzte Auftreten Amazans und besonders seines scharfen Schwertes „Fulminante“, das mit einem einzigen Hieb „Bäume, Felsen und Priester zerspalten konnte“(S.250), rettet sie vor dem qualvollen Feuertod. Die katholischen Priester, bei Voltaire heißen sie „Schnüffler und Anthropokäer*“ werden besiegt und die Herren Inquisitoren landen auf dem für ihre Opfer vorgesehenen Scheiterhaufen. Rundum also ein glückliches Ende.
* das heißt Menschenverbrenner

Und hier, was Freitag-Soloto halluziniert:
Nachdem er sich an der Liebesgeschichte zwischen der Prinzessin und ihrem Geliebten ergötzt, dreht er Voltaire aus dessen Vergleich der unterschiedlichen Gesellschaftssysteme des 18. Jahrhunderts (von denen es ja heute die allermeisten noch gibt) einen Vorwurf, auf den man erst einmal kommen muß: Voltaire, böse, böse, verwende Stereotype! Richtig, Voltaire typisiert, um dann die Unterschiede zwischen den typisierten Gesellschaftssystemen um so schärfer ins Licht zu stellen. Er würde zum Beispiel gesagt haben, daß die Saudis Frauen verachten und nicht: „zwar dürfen Frauen dort in der Öffentlichkeit nicht erscheinen, aber zu hause werden sie sehr geachtet und verehrt“.
Aber Freitag-Soloto weiß bestimmt: „Heutzutage sind solche stereotypen Beschreibungen des Volkscharakters ja nicht mehr so en vogue und, versuchte man sich trotzdem an ihnen, käme sofort der Einwand, ‚dass ja nicht alle so sind’. Insofern muss man irritiert konstatieren, hier auf einen Punkt zu stoßen, bei dem diejenigen, die heute die Aufklärung für sich in Anspruch nehmen, eine diametral entgegengesetzte Position zu dem vertreten, was zumindest ein Gründervater der Aufklärung im Sinn hatte“.

Als nächstes schafft er ohne jeden Beleg die Schlagwerkzeuge „rassistisch, judäophob“ in seinen meditativen Raum und erklärt Voltaire, die „Ikone der Vernunft“, hätte „mehr mit den Rechtspopulisten gemein als mit ihren Gegnern“. Fait accompli! Außerdem ginge Voltaires Aufklärung nicht mit sexueller Befreiung einher. Ausgerechnet Voltaire! Und wo ist der Beleg? Daß in der Liebesgeschichte die Prinzessin an ihrer Liebe festhält und alle anderen Anwärter abweist! Wer über solche „Beweise“ verfügt, braucht sich um die sexuelle Befreiung wahrlich nicht zu sorgen!

Aber sei’s drum. Freitag-Soloto nähert sich einem der Zentralthemen Voltaires, der Kritik an der katholischen Kirche. Indem er feststellt: „Schonungslos entlarvt Voltaire die katholische Kirche als Homoorganisation und stellt sie vor den Augen der Welt bloß“, glaubt er sich zur Schlussfolgerung berechtigt:
Niemand wird behaupten können, Voltaires militante Homophobie, mag er an anderer Stelle auch noch so sehr den sanftmütigen Vegetarier geben, sei in irgendeiner Weise mit der Position der aufgeklärten Menschheit von heute vereinbar.“ Voltaires Haltung zur Homosexualität führte übrigens dazu, daß er sich erfolgreich dafür einsetzte, einen homosexuellen Schriftsteller vor der Todesstrafe zu retten. Voltaires Entlarvung der Katholika als Homosexuellenorganisation, die ja bekanntlich manchem kleinen Jungen die Unschuld geraubt hat (Voltaire möglicherweise inbegriffen) – und das jahrhundertelang! – seine Kritik an der Verlogenheit, Scheinheiligkeit, Unmenschlichkeit einer der mächtigsten Organisationen der Welt, trägt ihm bei Freitag-Soloto also den Vorwurf der Homophobie ein?
Aber nein, der „lässt sich nämlich probehalber darauf ein, die katholische Kirche als Homoorganisation anzusehen“. Und was findet er dabei heraus? Daß sich durch das Zölibat von 1139 die Attraktivität der Kirche für Heterosexuelle minimiert, aber für Homosexuelle erhöht habe! Jegliches Begreifen von dem, was in der katholischen Kirche in Sachen Sexualität vor sich geht, ist in seinem Elaborat einem bodenlosen Genderian gewichen. Und wie es bei Romantik solcher Couleur nicht anders sein kann, schließt sich an diese einzige ‚analytische’ Stelle im meditativen Text eine vorsichtige, aber doch deutliche Rehabilitation der heiligen katholischen Messe selbst an. Oh heilige Simplicitas!
Wer das alles nicht glauben will, lese es selbst. Aber bitte dabei die Nase zuhalten!

Anmerkung von Oktober 2021: Unterdessen hat man den Teilnehmer Soloto und alle seine Beiträge  aus dem Freitag Community Blog gelöscht (oder er ist selbst verduftet).

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