Fanatismus

Fanatismus verhält sich zum Aberglauben wie Fieberwahn zum Fieber, wie der Wutanfall zum Zorn. Wer Ekstasen hat, Erscheinungen, wer Traumbilder für Realität nimmt und seine Einbildungen für Prophezeiungen, ist ein Enthusiast, wer seinen Irrsinn durch Mord umsetzt, ein Fanatiker.

Jean Diaz, zurückgezogen in Nürnberg lebend und fest davon überzeugt, dass der Papst der Antichrist der Apokalypse sei und einen Pferdefuß habe, war nur ein Enthusiast; sein Bruder, Bartholomäus Diaz, der Rom verlassen hatte, um seinen Bruder heiligerweise zu ermorden und ihn auch tatsächlich aus Gottesliebe ermordete, war einer der nichtswürdigsten Fanatiker, den der Aberglaube jemals hatte erzeugen können.
Polyeuktes1, der an einem Festtag zum Tempel geht, um Statuen und Schmuckwerk umzustoßen und zu zerschlagen, ist ein minder schrecklicher Fanatiker als Diaz, aber nicht minder närrisch.

Die Mörder des Herzogs François de Guise, von Willhelm, Prinz von Oranien, von Heinrich III. und des Königs Henri IV und von so vielen weiteren waren Kranke, besessen von der gleichen Raserei wie Diaz. Das verachtungswürdigste Beispiel von Fanatismus ist das der Bürger von Paris, die zusammenliefen um jene ihrer Mitbürger umzubringen, zu erwürgen, aus den Fenstern zu stürzen, in Stücke zu reißen, die nie zur Messen gingen2.

Es gibt kaltblütige Fanatiker: dies sind die Juristen, die jene zum Tode verurteilen, die kein anderes Verbrechen begangen haben, als nicht so zu denken wie sie selbst und derartige Juristen sind um so mehr verurteilenswert, verdienen um so mehr aus der menschlichen Gemeinschaft ausgeschlossen zu werden, als sie sich nicht in einem Anfall von Raserei wie Clément, Châtel, Ravaillac, Gérard, Damiens3 befanden, sondern allem Anschein nach der Vernunft hätten folgen können.
Wenn der Fanatismus erst einmal ein Gehirn vergiftet hat, ist die Krankheit nahezu unheilbar. Ich habe Verzückte gesehen, die, während sie von den Wundern des heiligen Paris4 sprachen, sich hochgradig unbeherrscht erregten: ihre Augen Feuer sprühend, mit zitternden Gliedmaßen, verzerrte die Raserei ihr Gesicht und sie hätten jeden, der ihnen widersprochen hätte, umgebracht.

Es gibt gegen diese Epidemie kein anderes Mittel als die Aufklärung, die, von Mund zu Mund weitergegeben, die Sitten der Menschen mildert und das Eindringen des Übels verhindert; denn, sobald das Übel vorankommt, bleibt einem nur die Flucht und abzuwarten, bis die Luft wieder rein ist.
Die Gesetze und die Religion erreichen gegen die Seelenpest nichts. Die Religion, weit davon entfernt, ein Heilmittel zu sein, verwandelt sich in einem infizierten Hirn zu Gift. Diese Elenden haben ohne Unterlass das Beispiel von Aod vor Augen, der König Eglon ermordete (Bibel, Richter, 3), von Judith, die Holofernes den Kopf abschnitt (bibel AT Judith, 3), während sie mit ihm schlief, von Samuel, der König Agag in Stücke hackte5(Bibel 1 samuel 15). Sie sehen nur solche Beispiele, die in der Antike achtbar waren, jedoch heute verachtungswürdig sind. Sie speisen ihre Raserei selbst aus jener Religion, die sie verurteilt. Die Gesetze sind noch sehr viel unwirksamer gegen diese Auswüchse von Raserei, es ist, als lese man einem Tobsüchtigen einen Ratsbeschluss vor.