H. J. Kertscher, Er brachte Licht und Ordnung in die Welt. Christian Wolff – eine Biographie, Halle: mdv, 2018

Christian Wolff: der vergessene Denker.

Die Lebensgeschichte Christian Wolffs ist heute nur noch sehr wenigen bekannt, und doch war er im 18. Jahrhundert einer der bedeutendsten Denker seiner Zeit. Deutschland: das Land der vergessenen Dichter und Denker?
Nicht zufällig hat die aufwendige Arbeit, die notwendig ist, will man eine Biographie wie diese schreiben, mit Prof. Dr. H. J. Kertscher ein bereits in der DDR habilitierter Wissenschaftler geleistet. Nicht zufällig, weil die Geisteswissenschaft in der DDR in ganz anderem Maß der Aufklärung verpflichtet war als in der BRD; Namen wie die von Werner Krauss, Klaus Gysi und viele andere stehen dafür. Deren Leistungen werden dereinst, wenn die Diffamierung der DDR nicht mehr zum guten Ton gehört, auch wieder gewürdigt werden, soviel steht schon heute fest.
Prof. Dr. Kertscher also ist es zu verdanken, dass seit langem wieder eine Biographie über Christian Wolff vorliegt, mit dem schönen Titel: „Er brachte Licht und Ordnung in die Welt, Christian Wolff – eine Biographie“ und, um es vorweg zu sagen, er hat seine Aufgabe – trotz aller unserer konzeptionellen Kritik (s.u.) – hervorragend gelöst.

Kertscher verfolgt den Lebensweg Wolffs, verweilt an den Orten, in denen dieser lebte, beleuchtet dort den sozialen Hintergrund, meist auf das schulische oder universitäre Leben in den jeweiligen Städten (Breslau, Jena, Halle, Marburg) bezogen. So erfährt man, dass Breslau (heute Wrozlaw), bevor es zu einem Zentrum der Gegenreformation wurde, eine Hochburg theologischer Debatten war, in der sich Jesuiten, Pietisten und Calvinisten lebhafte dogmatische Wortgefechte lieferten. Christian Wolff, er war Protestant, profitierte als Schüler davon und besuchte auch die anderen, jesuitischen Kreise, sogar deren Gottesdienste. Auch das Theaterspiel blühte vor diesem Hintergrund geistiger Ungebundenheit, in der keine Fraktion die Macht für sich alleine besaß, anders als in Halle, wo die herrschenden Pietisten das Theaterspielen ganz verboten. Wie auch heute noch war das Theater den religiös verblendeten Finsterlingen eine teuflische Institution.
An dieser Stelle liest man aber den Satz: „Trotz alledem sah sich der Schüler in Breslau einer gewissen Orientierungslosigkeit ausgesetzt“ (S.43). Kertscher interpretiert hier die religiöse Vielfalt als Mangel an Orientierung, wo er sie – aus unserer Sicht – als Bedingung geistiger Freiheit hätte sehen sollen, die für Wolffs späteren Lebensweg erhebliche Bedeutung hatte. Diese Indifferenz des Autors gegenüber dem Religionsproblem führt ihn auch leider dazu, bei der Vertreibung des hoch angesehenen Professors Wolff aus Halle im Jahr 1723 durch die Pietistenfraktion, diesem wegen seiner Unnachgiebigkeit ein Mitverschulden an der eigenen Vertreibung anzukreiden. Es ist die alte ‚Einerseits – Andererseits’ Leier, immer dann zu hören, wenn einer gegen mächtige Gegner Stellung beziehen müsste, sich aber nicht traut – und kneift.
Weil Kertscher um die Geschichte der Aufklärung in ihrem Kampf gegen die Kirche einen Bogen macht, geht ihm der entscheidende Gesichtspunkt zur Beurteilung dieser Epoche und der Biographie Wolffs verloren; vor allem bleibt er uns die Antwort auf die Frage schuldig, warum Wolff stehen blieb, warum er den nächsten Schritt zur Überwindung der Religion nicht gewagt hat zu gehen, warum er stattdessen naserümpfend die Anhänger des großen Newton und Lockes verachtete (wobei er allerdings nicht so dogmatisch war, dass er seinen positiven Gesamteindruck von Voltaire nach dem persönlichen Zusammentreffen mit diesem verleugnet hätte).
So gut und lobenswert die Biographie ist, bleibt sie in diesem letzten, aber entscheidenden Punkt farblos. Einem späteren Versuch muss es aus unserer Sicht vorbehalten bleiben, aufbauend auf das reiche Material Kertschers, die wirkliche, tragische Geschichte des ‚gehemmten‘ Aufklärers Christian Wolff zu rekonstruieren.

Rainer Neuhaus, 2019