Voltaire, Candide oder der Optimismus. Neu übersetzt von Tobias Roth und illustriert von Klaus Ensikat. Officina Ludi: Großhansdorf, 2018, 123 S.

Neuübersetzung von Voltaires Candide in bibliophiler Ausgabe: Der Elan fehlt.

Übersetzungen, besonders wenn es sich wie bei Candide um Werke der Weltliteratur handelt, die schon zwei Dutzend mal ins Deutsche übertragen wurden, erfordern einerseits Mut und andererseits Selbstvertrauen. An beidem mangelt es Tobias Roth nicht, hat er doch schon Voltaires Mohammed ins Deutsche, und zwar in gereimte Verse, übersetzt.

Jeder Übersetzer steht vor der gleichen Aufgabe wie schon vor 250 Jahren Johann Friedrich Löwen, erster Direktor des Hamburger Nationaltheaters:


„Ich habe es gewagt, ein Trauerspiel des Herrn von Voltaire zu übersetzen. (..) Von meiner Übersetzung muss ich nur anmerken, daß ich weder sclavisch noch frey gewesen bin. Der beste Weg, den man sich bey dieser Art von Arbeiten wählen kann. Unsere meisten Übersetzer gleichen, wie Despréaux sagt, einem furchtsamen Bedienten, der keinen Schritt ohne Erlaubnis seines Herrn geht, und der ihn niemals verläßt, außer nur da, wenn er ihm nicht folgen kann. Die schönsten Blumen verwelken in ihren Händen, und da sie alle Augenblicke das Deutsche verlassen, um sich an das Französische zu binden, so schreiben sie in der That weder Französisch noch Deutsch“ [1]  



Wie verhält es sich nun mit der vorliegenden Candide-Übersetzung: bringt sie die schönsten Blumen Voltaires zum Erblühen – oder zum Verwelken?

Jeder Autor, jedes literarische Werk will den Leser besonders mit seinen ersten Sätzen gleich zu Beginn an sich binden, Interesse wecken, den Ton anschlagen. Ebenso Candide: respektlos macht sich Voltaire über den dünkelhaften Landadel, den Klerus und die Hofhaltung lustig und er kündigt das Thema an: wie verrückt es doch ist, der Lehre von der besten aller möglichen Welten zu folgen. Paukenschläge, jeder Punkt für sich. Diese Ouvertüre ist wahrhaftig schwer ins Deutsche zu übertragen.

Die bekannte Übersetzung von Mylius aus dem Jahr 1778 war eine sehr freie Übertragung mit zahlreichen lustigen Zutaten, später kamen die Übersetzungen von Ilse Lehmann und Stephan Hermlin (1972) dem flüssigen Stil Voltaires am nächsten, ohne dabei den Inhalt zu verfälschen. In neuerer Zeit versuchten sich Jürgen von Stackelberg (1987), Wolfgang Tschöke (2003), Ulrich Bossier (2006) an dem Text, so daß man fast schon von einem Wettbewerb der Candide-Übersetzungen sprechen könnte, in dem, es sei vorab gesagt, die von Tobias Roth jetzt vorgelegte allerdings nicht den ersten Platz belegt. 

Dabei fehlt es ihm nicht originellen Einfällen; seine Übersetzung der Stelle, wo Hauslehrer Pangloss erklärt, daß die Welt zweckgemäß eingerichtet sei, daher auch die Nasen in idealer Weise zu den auf ihnen sitzenden Brillen paßten (Voltaire: Remarquez bien que les nez ont été fait pour porter des lunettes): „Merkt es Euch: Nasen sind dazu gemacht, daß Brillen auf ihnen liegen…“  bringt den lehrerhaften Ton im Deutschen deutlicher zum Ausdruck, als das bei Stackelberg (Beachten, Sie, daß die Nasen…), bei Hermlin (Bemerken Sie bitte, daß die Nasen…) oder – freier –  bei Inge Lehmann (Bekanntlich sind die Nasen zum Brillentragen da) gelungen ist, zumindest, was die erste Hälfte des Satzes betrifft; aber wäre es nicht trotzdem besser gewesen, im zweiten Teil, wie Stackelberg, ..um Brillen zu tragen zu verwenden, so daß der Satz also heißen würde: „Merkt es Euch, Nasen sind dazu gemacht, um Brillen zu tragen“, oder: „Merkt Euch, daß Nasen dazu gemacht sind, Brillen zu tragen“? Nicht nur an dieser Stelle entsteht der Eindruck, daß Roth, vielleicht unter Originalitätsdruck, eine eigene Variante gegenüber einer besseren, aber schon vorhandenen Lösung vorzieht.  Ein anderes Beispiel dafür ist seine Übersetzung von Sa physiognomie annonçait son âme mit der Voltaire einen Menschen, eben Candide, beschreibt, dem man alle Gefühlsregungen vom Gesicht ablesen kann. Roths „Sein Aussehen kündigte bereits seine Seele an“ ist besonders schwach, vor allem, wenn man sich einige Alternativen ansieht:
Sein Antlitz war seiner Seele Spiegel (Ernst Sander, 1925), oder:
Seine Gesichtszüge gaben von seiner Seele Kunde (Hanns Studniczka, 1957),
Seine Seele sprach aus seiner Miene (Stackelberg).

Auch ob die Übersetzung von une tapisserie mit „Wandvorhang“ (üblich bisher: Tapete, Wandteppich, Gobelin), der chiens de ses cours-basses mit „seine Hunde vom Hühnerhof“ (statt wie bisher meist: Hofhunde) so gelungen ist, oder von Ils l’appelaient tous Monseigneur mit „Sie nannten ihn alle ihren Herren“ (sonst: Euer Gnaden, oder Gnädiger Herr, wie schon 1761 Phillipi, der Erstübersetzer) darf bezweifelt werden.

Die wesentliche Schwäche von Roths Übersetzung ist jedoch ihr Mangel an Lesefluß. Durch die häufige Gewohnheit, aus einem Satz bei Voltaire zwei im Deutschen zu machen, gerät der für Candide so wichtige, beschwingte Sprechstil ins Stocken und es ergibt sich stattdessen ein Rhythmus wie bei einem nicht so gut vorgetragenen Gedicht. 

Wenn es im dritten Satz des Candide heißt:

Il avait le jugement assez droit, avec l’esprit le plus simple; c’est, je crois, pour cette raison qu’on le nommait Candide

macht Roth daraus zwei Sätze: „Er verfügte über eine ausreichend klare Urteilskraft und einen ziemlich schlichten Geist. Ich glaube, daß man ihn aus diesem Grund Candide nannte“. Das ist so hölzern wie nur irgend etwas. Welcher Dämon hinderte Roth daran, wenigstens ein Semikolon zu setzen? Auch das gewichtige „Ich glaube“ am Satzbeginn trennt zu sehr den zweiten vom ersten Teil. Besser, flüssiger und verbindender wäre gewesen: „Aus diesem Grunde, glaube ich, nannte man ihn Candide“. 

Im nächsten Satz geht es darum, was die Dienstboten sich über die Herkunft Candides erzählen. Das ist natürlich eine Litanei ohne Atemholen, Voltaire zeigt das durch Aneinanderreihen etlicher Nebensätze: 

Les anciens domestiques de la maison soupçonnaient qu’il était fils de la soeur de monsieur le baron et d’un bon et honnête gentilhomme du voisinage, que cette demoiselle ne voulut jamais épouser parce qu’il n’avait pu prouver que soixante et onze quartiers, et que le reste de son arbre généalogique avait été perdu par l’injure du temps

Roth teilt die Litanei, unterbricht dadurch das Reden (Lesen) ohne Luftholen und verpaßt so den Einstieg in den Roman.

Ein weiterer Punkt, der sich bereits bei Roths Übersetzung von Voltaires Mohammed angedeutet hatte, ist seine Neigung zur Entschärfung sinnlicher Begriffe. Aus der Kunegunde, haute en couleur, fraîche, grasse, appétissante, macht Roth: „rotbäckig, unverbraucht, vollschlank und ganz reizend“ anstatt wie meist appetitlich oder auch regelrecht zum Anbeißen (Bossier) zu sagen.

Sollten die hier genannten Beispiele noch nicht genügen, sei auf die Stelle im 16. Kapitel  (À leur réveil il sentirent…) verwiesen, die Stackelberg bereits zu einem Vergleich zahlreicher anderer Übersetzungen herangezogen hat. Warum Roth dort aus den Baststricken „Stricke aus Baumrinde“  machen musste und warum er „Steinerne Beile“ besser findet als Steinäxte, ist sehr schwer nachzuvollziehen, zumal ‚Übersetzen unter Zeitdruck’ angesichts der zahlreichen vorhandenen Übersetzungsvarianten wohl nicht in Frage kommt.

Abschließend sei aber das sehr liebevoll gemachte Buch selbst hervorgehoben, besonders die  Illustrationen von Klaus Ensikat, auch die Gestaltung des Einbands, des Innenlebens, die Schrifttypen – hier wurde ausgiebig und stilvoll geschwelgt, so daß sich das Buch für Bibliophile wärmstens empfiehlt. Daß es sich auch für einen anregenden Vergleich (dabei hilft sehr die zweisprachige Candideausgabe von Stackelberg) mit anderen bisher erschienenen Übersetzungen anbietet, sollte mit dieser Besprechung deutlich geworden sein.

Rainer Neuhaus 2018


1 Johann Friedrich Löwen, in Sämmtliche Schauspiele, Bd 3, Vorwort zur Übersetzung der Tragödie Semiramis, Nürnberg 1770