Volker Reinhardt, Voltaire, eine Biographie, Rezension (4): Der Homme de Lettres und die Mathematikerin

„Die Abenteuer der Freiheit“ heißt der Untertitel von Volker Reinhardts Voltaire Biographie. Im 4. Kapitel scheint es, als ob die Freiheit Voltaires weiterginge als die des Autors bzw. seines Mentors (das ist R. Pomeau) und er daher zu einem erstaunlichen Werturteil kommt. Die Zeit in Cirey ist der Lebensabschnitt, in dem Voltaire am glücklichsten war, was vor allem an der außergewöhnlichen Persönlichkeit der Frau lag, mit der er von 1733 – 1749 zusammenlebte: Emilie du Châtelet.

Reinhardt gelingt es nicht, diese bewundernswerte Frau als Mensch aus Fleisch und Blut zu zeigen. Ist Emilie ein außergewöhnlich begabtes Mädchen und erhält durch ihren Vater jedwede intellektuelle Unterstützung, so tut er das nicht, behauptet Reinhardt, „um damit uralte frauenfeindliche Vorurteile zu widerlegen, sondern um Gabrielle Emilie zu einer Ausnahmeerscheinung zu machen, die letztlich die Regel bestätigte“ (198). Hat Emilie du Châtelet eine bemerkenswert freie Einstellung zur Sexualität, reduziert Reinhardt sie auf die unter Adligen übliche Libertinage – dass sie ihre Einstellung zum Glück als dem Sinn des Lebens auch schriftlich niederlegte (Discours sur le Bonheur). findet Reinhardt zwar erwähnenswert (S.265), ändert jedoch deshalb nichts an seiner klischeehaften Einschätzung ihrer Person. Geht sie, nachdem das sexuelle Interesse zu Voltaire erkaltete, eine neue Liebesbeziehung ein, ist ihm das Arrangement der beiden, die ihre tiefe Freundschaft deshalb keineswegs aufgeben, eher befremdlich als ein Gegenstand, der genügend Stoff böte, um, seinem Untertitel „Die Abenteuer der Freiheit“ gemäß, über das besondere und zukunftsweisende dieser Beziehung einige Gedanken zu verlieren.
Dazu passt, wie er den Tod Emilies erzählt: emotionslos, routiniert und ja, auch geschwätzig. Emilie du Châtelet, diese freiheitsliebende, selbstbewusste und hochintelligente Frau ist ihm sichtlich suspekt, so dass er, wo möglich, versucht, sie auf Normalmaß zu reduzieren. Die Folge davon ist, dass er auch Voltaires enge Freundschaft zu Emilie nicht versteht und nicht nachvollziehbar erzählen kann.
Ansonsten gibt Reinhardt getreulich den Inhalt der in dieser Zeit entstandenen Werke wieder. Mit seiner Interpretation der Tragödien Alzire („Rührstück für die Frommen“, 209), Zulime („Drama voller Rosenwasser“, 232), der Komödien Les Originaux, Le Préjugé à la mode, L’Enfant Prodigue („Harmlos“, 225) und den Tragödien Mahomet („Eindimensional“, 248), Mérope („Hohelied der Mutterliebe“, 252), Princesse de Navarre („Farce für den Hof“, 265),  tut er sich sichtlich schwer. Insbesondere gelingt es ihm nie zu zeigen, wie in einem Stück die historisch so bedeutende Opposition gegen die Kirche zum Ausdruck kommt. Nur bei Sémiramis ist er dem Kern, dem Gegensatz zwischen der von „Unwürdigen usurpierten Macht“ und dem edlen, vielfach verkannten König, nahe, ohne aber diesen Aspekt weiterzuverfolgen.
Bei seiner Interpretation der philosophischen Erzählung Zadig, der Vorläufererzählung zu Candide, übersieht Reinhardt, dass es darin um die Frage geht, wie sich der Einzelne in einer feindlichen Umgebung verteidigen und behaupten kann. Zadig zeigt, wie stark Voltaire in der Tradition des Humanismus steht, für den das Subjekt, das Individuum, Zentrum und Ausgangspunkt einer neuen, lebenswerten Weltordnung werden sollte. Dass Reinhardt dies nicht erkennt, ist umso befremdlicher, als er bei der Vorstellung des Traité de la Metaphysique genau diesen Punkt (Voltaire: „Denn das zu tun, was Vergnügen bereitet, heißt frei zu sein“ (219)) sehr richtig herausarbeitet und plausibel erklärt.

In diesem längsten Kapitel der Biographie stecken noch zahlreiche weitere Fallstricke, die meist Pomeau, teilweise aber auch Reinhardt selbst ausgelegt hat. Sie aufzudecken würde den Umfang dieser Rezension deutlich sprengen. Nur Reinhardts Werturteil, dass es sich bei den Bemühungen von Voltaire und Emilie, ihre Schwangerschaft (aus einer Liebesbeziehung zu einem gewissen Saint-Lambert entstanden) zu legalisieren, um eine „schäbige Komödie“ gehandelt habe, sei noch erwähnt, denn dieses pfäffische Verdikt ist selbst so schäbig, so empörend, dass es die ganze Reinhardtsche Biographie beschmutzt. Eine Frau, die im 18. Jahrhundert ein uneheliches Kind zur Welt brachte, wurde in der Regel von ihrem Mann verstoßen und landete im Kloster. Das Kind wurde irgendwelchen Pflegeeltern übergeben. Das Leben von Emilie und das Zusammenleben mit Voltaire wäre völlig aus der Bahn geworfen worden. Dieser Gefahr zu entgehen, die sie unter enormen Druck setzte, diente das Manöver und es war vor allem ein lebensrettendes Manöver und eines, das die Kooperation zweier für unsere Kultur so wichtiger Persönlichkeiten ohne Probleme hätte absichern können. Daran ist, außer Ihrer Wertung, nichts Schäbiges, Herr Reinhardt (und zu Monsieur Pomeau, von dem er das hergenommen hat (I,583): Non, ce n’était pas une comédie odieuse)!