René Pomeau, La religion de Voltaire
2.Teil: Das Credo Voltaires

Zusammenfassung des 2.Teils von René Pomeau, La Religion de Voltaire, Paris: Nizet, 1986 (erweiterte Neuauflage v. 1969) – Zeit nach der Rückkehr aus dem englischen Exil 1728, Leben mit Emilie du Châtelet in Cirey bis zur Abreise nach Berlin 1750 (pp. 121 –  254)

Texte: Extrait de Mesliers (1742), Traité de la Metaphysique (1736), Sermon des Cinquante, Discours en vers sur l’homme (1734), La Bible enfin expliquée, Examen important de milord Bolingbroke (1736),  Éléments de la philosophie de Newton (1737)

(I) Im Exil in England (Ab 1726 – 1728) festigte sich  Voltaires deistische Position – davon zeugen seine Philosophischen Briefe – jedoch ohne eine antichristliche Haltung einzunehmen.  Seine Beschäftigung mit Locke (Reasonableness of Christianity, 1695)und mit Clarke (The scripture-doctrine oft he trinity, 1712) dürften dafür entscheidend gewesen sein. Ebenso für Voltaires Ablehnung der Trinitätslehre.
Noch die 1733 erschienene Tragödie Alzire enthält die Hoffnung auf einen väterlichen, wohlmeinenden (christlichen) Gott.

(II) In Mohammed oder der Fanatismus verarbeitet V. viele zeitgenössische Berichte über das Leben Mohammeds. Sein lebenslanger Weggefährte Thiriot plante gar eine Biographie über Mohammed zu schreiben.  Nach Pomeau wird Mohammed zwar als negative Figur dargestellt, die die Religion im Kampf um die Macht benutzt und nicht davor zurückschreckt, auf dem Weg zum Ziel Opfer (Seide) zu bringen. Pomeau weiter: In der Figur Mohammeds kritisiert Voltaire insbesondere den fanatischen Jansenismus seiner Zeit. Den Islam stellte er (an diversen anderen Stellen) dem Christentum eher positiv gegenüber, weil er einen reineren Monotheismus als dieses vertritt.
Voltaire steuert zu diesem Zeitpunkt auf die These eines ursprünglichen Monotheismus zu, in Zaire vor allem zeigt er, dass die Religionen der Welt einen gemeinsamen Kern haben: sie beten alle einen höchsten Gott an, auch wenn es sich um polytheistische Religionen handelt. „Wie die Vernunft, erweitert die natürliche Religion ihren Herrschaftsbereich, de jure oder de facto, über die ganze Menschheit“. Ein universeller Deismus ebenso wie eine universelle Vernunft und universelle Menschenrechte können in der Geschichte entdeckt werden.

(III) Emilie du Châtelet arbeitete an einer umfassenden Bibelkritik (Examen de la Bible), wobei sie sich meist auf den Bibelkommentar von Dom Calmet, einem bedeutenden Benediktinermönch aus Sénones, bezog. Voltaires Anteil an diesem Werk scheint eher gering, für ihn war die Bibel ein einziges Phantasiegebilde ohne jeden historischen Wert. Allenfalls zeigt das Alte Testament, wessen Geistes Kind ein jüdische Volk ist, wenn es diesen Text, Beispiel einer archaischen Religion, als sein grundlegendes religiöses Werk betrachtet.
Aus diesem Zusammenhang heraus entsteht die Krtik Voltaires an den aktuellen Religionen, auch der christlichen, die ja das Judentum als ihren unmittelbaren Vorläufer betrachtet.
Voltaires wichtigster Text in dieser Zeit war der Sermon des cinquante, der erst 1767 erschien. „Noch nie war ein so heftiger Angriff gegen die schrecklichen Vorurteile geschrieben worden“, Voltaire ordnete ihn La Mettrie zu, weil dieser bereits am 11.11.51 gestorben war (Brief an die Comtesse de Bentinck) und leugnete seine Autorschaft zeitlebens.
Der Text ist der Ausgangspunkt für Voltaires antichristliche Kampagne und predigt einen Monotheismus ohne Prediger. Wenn es eine Kirche überhaupt geben sollte, dann als Art Aufpasserin, damit die Untertanen nicht aufbegehren.

(IV)  In der Auseinandersetzung mit Locke, Newton und Clarke zwischen 1726 und 1749 sucht Voltaire eine scharfe Trennung zwischen Geist und Materie zu vermeiden. Da der menschliche Körper materiell ist und auch denkt, kann Gott der Materie durchaus Geist oder eine Seele verliehen haben (196) und umgekehrt kann auch die Seele materiell sein.  Damit ist Voltaire allerdings kein Anhänger der religiösen Behauptung, es sei Gott mit der Seele in uns, als lebten wir sozusagen nur durch Gott. Es hieße lediglich, die Allmacht Gottes einschränken, wolle man bestreiten, es sei ihm möglich, der Materie Geist zu verleihen.
[Pomeau bemüht hier (S. 210) Einstein, um die Berechtigung eines religiösen kosmischen Gefühls zu verteidigen und zu diesem Thema überzuleiten.]
In den Epître de Newton beschreibt Voltaire ein kosmisches Gefühl, wie auch in den Discours en vers sur l’homme und auch bei Zadig, zu dem er selbst sich offenbar ebenfalls bekannte: Die Unendlichkeit des Weltraums und der Sterne  führte ihn zur Annahme eines ‚dahinter‘ stehenden Schöpfers. Dieser habe alles nach ewigen Gesetzen eingerichtet, von Anbeginn, habe alle Arten von Lebewesen und Dingen geschaffen, ein jedes an seinem vorherbestimmten Platz. Die Naturgestze wie das Gravitationsgesetz zeugten von dieser göttlichen Ordnung.

Wenn de Bonald (1754 – 1840) meinte, „ein Deist sei jemand, der nur nicht genug Zeit gehabt habe, um Atheist zu werden“, so stimmt das nicht für Voltaire. Er hatte genügend Zeit, wurde aber durch einen Aspekt der Philosophie Newtons, eben das kosmologische Gefühl, das seiner Natur entsprach, davon abgehalten, den Schritt zum Atheismus zu tun. Insofern war sein Deismus nicht gegen etwas gerichtet, sondern er entsprach seinem kosmologischen religiösen Gefühl.
Auf den Seiten 220 – 222 zieht Pomeau seine Schlussfolgerung aus dem bisher Gesagten:
Voltaire reduziert Gott bis auf ein Minimum, ein Minimum hinter den Sternen. Aber er will trotzdem auch eine wirksame Religion, sich also nicht auf universelle Naturgesetze beschränken, sondern leitet darüberhinaus auch eine universelle Moral aus dem göttlichen Prinzip  ab. Wobei, da universell, auch die Ungläubigen dieser Moral folgen müssten, so wie die Materie den Naturgesetzen folgt.

Voltaires Deismus behauptet also eine handlungswirksame gottgewollte Moral („loi naturelle“), eine Annahme, aus der sich seine Gegnerschaft gegenüber den Kirchen ergibt: Ebenso wie man den Naturgesetzen folgt, ohne eine Anweisung zu benötigen, folgt man auch der Moral ohne Anleitung. Die Kirche braucht man dazu nicht, sie basiert auf Unwissen und Aberglauben.

„Durch seine glückliche Ambivalenz sichert der Deismus Voltaires den Menschen die Handlungsfreiheit und erlaubt gleichzeitig den Rückgriff auf eine göttliche Macht (222)“.

Da menschliche Handlungsfreiheit und göttliche Allmacht schlecht zusammenpassen, befindet sich Voltaire zwar in Widerspruch zum deistischen Modell, jedoch in Einklang mit seinem persönlichen Naturell.