Miracles – Wunder

Folgt man dem Wortsinn, ist ein Wunder eine bestaunenswerte Sache. In diesem Falle ist alles ein Wunder. Die bewundernswerte Ordnung der Natur, die Rotation von 100 Millionen Erden um 1 Million Sonnen, die Aktivität des Lichts, das Leben der Tiere – alles sind fortwährende Wunder. Folgt man den überlieferten Ansichten, nennen wir Wunder die Verletzung der göttlichen und ewigen Gesetze. Wenn es bei Vollmond eine Sonnenfinsternis gibt 1, ein Toter zwei Meilen Weges geht, dabei seinen Kopf in seinen Armen trägt, nennen wir das ein Wunder. Mehrere Physiker behaupten, dass es Wunder in diesem Sinne nicht gibt – und hier sind ihre Argumente: Ein Wunder ist die Verletzung von mathematischen, göttlichen, unveränderlichen und ewigen Gesetzen. Allein, nach dieser Feststellung ist das Wunder ein Widerspruch in sich. Ein Gesetz kann nicht zugleich unveränderlich und verletzt sein. Jedoch, erwidert man ihnen, kann nicht ein von Gott selbst geschaffenes Gesetz durch seinen Schöpfer auch aufgehoben werden? Sie antworten mutig mit Nein und dass das Unendlich-Weise-Wesen unmöglich Gesetze geschaffen haben könne, um sie zu verletzen. Gott hätte seine Maschine nur angehalten, um sie zu verbessern und er hat diese unermesslich große Maschine als Gott klarerweise so gut er es konnte geschaffen – sollte er eine aus der Natur der Sache folgende Unvollkommenheit bemerkt haben, hätte er sich schon von Anfang an darum gekümmert – daher wird er sie auch zukünftig nicht mehr ändern. Außerdem kann Gott nichts grundlos tun – und welcher Grund sollte ihn dazu verleitet haben, sein eigenes Werk für einige Zeit zu verschandeln? Er tut es den Menschen zu Gefallen, sagt man ihnen. Sie antworten, dass es dann wenigstens allen Menschen zu Gefallen sein müsse, denn man könne sich unmöglich vorstellen, dass die göttliche Natur für einige Menschen gesondert arbeite. Mehr noch, die menschliche Art sei nur ein kleines Etwas, sie sei, verglichen mit all den Wesen, die das Universum ausfüllen, viel weniger als ein kleiner Ameisenhaufen. Wäre es also nicht eine der absurdesten Verrücktheiten, sich vorzustellen, dass das unendliche Wesen zu Gunsten von 3 bis 400 Ameisen auf diesem kleinen Misthaufen das ewige Spiel der unermesslichen Kräfte umkehrte, die das ganze Universum in Bewegung halten? Aber nehmen wir an, dass Gott eine kleine Anzahl Menschen durch besondere Vergünstigungen herausheben wollte, war es dafür nötig, das zu verändern, was er für alle Zeiten und alle Orte geschaffen hat? Um seine Geschöpfe zu bevorzugen, gibt es gewiss keinerlei Notwendigkeit zu solcher Veränderung, solcher Unbeständigkeit – seine Vergünstigungen bestehen in seinen Gesetzen selbst. Er hat alles vorhergesehen, alles für sie gerichtet, alles gehorcht unumkehrbar der Kraft, die er der Natur für immer eingeprägt hat. Warum sollte Gott ein Wunder geschehen lassen? Um einen bestimmten Entwurf für einige Lebewesen fertig zu stellen! Er sagte demnach: „Ich habe es mit der Herstellung des Universums, mit meinen göttlichen Erlassen, meinen ewigen Gesetzen nicht geschafft, einen bestimmten Entwurf zu Ende zu bringen – ich werde meine ewigen Vorstellungen, meine unveränderlichen Gesetze ändern, um das zu erreichen, was ich durch sie nicht geschafft habe.“ Das wäre ein Eingeständnis seiner Schwäche und nicht seiner Macht. Das wäre, scheint es, in ihm der unvorstellbarste Widerspruch. Es ist also folgendermaßen:: indem man es wagt, Gott Wunder zu unterstellen, beleidigt man ihn in Wirklichkeit (wenn Menschen Gott beleidigen können): es ist, als sagte man ihm: „Sie sind ein schwaches und inkonsequentes Wesen“.

Es ist also absurd, an Wunder zu glauben und in gewisser Hinsicht bedeutet es, die Göttlichkeit zu entehren. Man bedrängt jene Philosophen und sagt ihnen: „Ihr habt gut die Unwandelbarkeit des höchsten Wesens zu rühmen, die Ewigkeit seiner Gesetze, die Gleichförmigkeit seiner unendlichen Welten – unser kleiner Dreckhaufen war von Wundern ganz und gar bedeckt, die Geschichten sind genauso voll von Wundern wie von natürlichen Ereignissen“. Die Töchter des großen Priesters Anius 2 verwandelten alles was sie wollten zu Weizen, zu Wein oder zu Öl; Athalide3 Tochter des Merkur, erstand mehrere Male auf; Äskulap4 erweckte Hippolyte zum Leben; Herkules entriss Alceste dem Tod5, Hera kehrte zur Erde zurück, nachdem sie 15 Tage in der Hölle zugebracht hatte; Romulus und Remus wurden als Kinder eines Gottes und einer Vestalin geboren, das Palladium fiel vom Himmel in die Stadt Troya6; an den Haare der Berenike wurden die Sterne festgehalten7; die Hütte von Philemon und Baucis wurde in einen phantastischen Tempel verwandelt8, der Kopf des Orpheus sprach Orakel auch nach dessen Tod9; die Mauern Thebens erbauten sich in Anwesenheit der Griechen von selbst nach dem Ton einer Flöte10; die Heilungen im Tempel des Äskulap waren unzählbar und wir haben noch immer Denkmäler, die die Namen von Augenzeugen der Wunder Äskulaps tragen.“ Nennen Sie mir ein Volk bei dem sich nicht unglaubliche Wunder zugetragen hätten, vor allem in den Zeiten, wo man kaum Lesen und Schreiben konnte. Die Philosophen der Aufklärung antworten auf diese Einwürfe mit Gelächter und mit Schulterzucken, aber christliche Philosophen meinen: „Wir glauben an die Wunder, die sich in unserer heiligen Religion zugetragen habe. wir glauben an sie aus unserem Glauben heraus und nicht nach unserem Verstand den zu hören wir wohl vermeiden, denn, wenn der Glaube spricht, das weiß man gründlich, darf der Verstand nicht ein einziges Wort sagen. Wir haben einen festen und vollkommenen Glauben in die Wunder Jesu Christus und der Apostel, aber erlauben Sie uns an zahlreichen anderen ein wenig zu zweifeln, duldet etwa, dass wir uns einem Urteil über die Geschichte eines einfachen Mannes enthalten, dem man den Beinahmen der Große gab: er versichert, dass ein einfacher Mönch sich so sehr an das Wunder tun gewöhnt hatte, dass ihm der Prior schließlich verbot, sein Talent auszuüben. Der Mönch gehorchte – aber als er sah, dass ein armer Dachdecker von einem Dach fiel, schwankte er zwischen dem Wunsch ihn zu retten und der heiligen Gehorsamkeit. Er befahl also dem Dachdecker bloß, in der Luft zu bleiben, bis er einen neuen Befehl erhalte und lief schnell, um seinem Prior den Sachverhalt zu berichten. Der Prior erteilte ihm die Absolution von der Sünde, ohne Erlaubnis mit einem Wunder begonnen zu haben und erlaubte ihm es zu vollenden, vorausgesetzt, dass er es dabei belasse und nicht wieder damit anfange. Wir gestehen den Aufklärern zu, dass man an dieser Geschichte ein wenig zweifeln sollte“. Aber wie wagt ihr zu leugnen, sagt man ihnen, dass der heilige Gervasius und der heilige Protasius dem heiligen Ambosius als Engel erschienen sind und ihm den Platz wiesen, an dem sich ihre Reliquien befanden?, dass der heilige Ambrosius sie ausgegraben hat und damit einen Blinden heilte? Der heilige Augustinus war damals in Mailand, er erzählte dieses Wunder: „Immenso populo teste‘, sagt er in seinem ‚Gotteststaat‘, Buch XXII. Da hätten wir ein bestens bezeugtes Wunder. Die Aufklärer sagen, sie glaubten nichts davon, Gervasius und Protasius seien niemandem erschienen, dass es für das Menschengeschlecht ziemlich gleichgültig sei, wo sich ihre Gerippe befinden, dass sie an diesen Blinden nicht mehr glaubten als an den des Vespasian, dass es ein unnützes Wunder sei, dass aber Gott nichts Unnützes mache und sie halten an ihren Grundsätzen fest. Meine Hochachtung für den heiligen Gervasius und den heiligen Protasius 11 erlaubt mir nicht , mich der Ansicht dieser Aufklärer anzuschließen, ich berichte lediglich von ihrem Unglauben. Sie machen großes Aufheben über eine Textstelle bei Lukian, die sich im ‚Tod des Peregrinus‘12 befindet: „Wenn nun irgendein durchtriebener Schwindler zu ihnen kommt, der die Verhältnisse zu nutzen versteht, so wird er gleich in Kurzem ein reicher Mann“. Aber da Lukian ein weltlicher Autor ist, kommt ihm unter uns keinerlei Autorität zu. Diese Aufklärer können sich nicht entschließen, an die Wunder aus dem 2. Jahrhundert zu glauben. Die Augenzeugen können noch so sehr beschreiben, wie sie, als der heilige Polykarpus, Bischof von Smyrna, zum Feuertod verurteilt, in die Flammen geworfen wurde, eine Stimme vom Himmel herabrufen hörten: „Mut, Polycarpe! Sei stark, sei ein Mann“ – während die Flammen des Scheiterhaufen sich von seinem Körper entfernten und einen Feuerpavillion um seinen Kopf bildeten und aus der Mitte des Scheiterhaufens eine Taube hervorflog, so dass man gezwungen war, Polykarpus den Kopf abzutrennen. „Wozu soll dieses Wunder gut sein?“, sagen die Ungläubigen, „wieso haben die Flammen ihre Natur verloren und warum tat dies nicht das Beil des Scharfrichters? Woher kommt es, dass so viele Märtyrer gesund und unverletzt dem kochenden Wasser entsteigen und nicht der trennenden Klinge widerstehen konnten?“ Man antwortet, dies sei der Wille Gottes. Aber die Aufklärer würden das alles gerne mit ihren eigenen Augen gesehen haben, bevor sie es glauben13. Jene, die sich für ihre Überlegungen mit der Wissenschaft wappnen, werden euch sagen, dass die Kirchenväter selbst oft zugegeben haben, dass zu ihrer Zeit keine Wunder mehr getan werden. Der heilige Chrysostomus sagt ausdrücklich: „die außergewöhnlichen Begabungen des Geistes waren selbst Unwürdigen gegeben worden, weil damals die Kirche Wunder brauchte, heute jedoch gibt man sie nicht einmal mehr Würdigen, weil die Kirche sie nicht mehr benötigt“. Dann gesteht er, dass es niemanden mehr gibt, der Tote wieder auferweckt und auch niemanden, der Kranke heilt. Der heilige Augustinus selbst, trotz des Wunders von Gervasius und Protasius, sagt in seinem Gottesstaat: „Warum gibt es die Wunder, die früher getan wurden, heute nicht mehr?“ Und gibt dafür den gleichen Grund: Cur, inquissunt, illa miracula quae praedicatis facta esse non fiunt? Possem quidem dicere nec esssaia prius fuisse quam crederet mundus, ad hoc ut crederet mundus.“14 Man entgegnet den Aufklärern, dass der heilige Augustinus trotz dieses Bekenntnisses von einem alten Flickschuster aus Hippo spricht, der als er seine Wohnung verlor, in die Kapelle der 20 Märtyrer beten ging, als er zurückkam, fand er in einen Fisch in dessen Körper ein goldener Ring war und der Koch, der den Fisch gekocht hatte, sagte zum Flickschuster: „das haben euch die 20 Märtyrer gegeben“. Daraufhin antworten die Aufklärer, dass es in dieser Geschichte nichts gebe, das den Gesetzen der Natur widerspreche, dass die Physik, dadurch, dass ein Fisch einen goldenen Ring verschluckt und ein Koch diesen Ring einem Flickschuster serviert, keinesfalls verletzt sei, dass darin keinerlei Wunder liege. Wenn man diese Aufklärer daran erinnert, dass nach dem ‚Leben des Eremiten Paul‘ des heiligen Hieronymus15 jener Eremit mehrere Unterhaltungen mit Satyren und Faunen hatte, dass ihm ein Rabe 30 Jahre lang ein halbes Brot zu seinem Mittagessen brachte, und ein vollkommen ganzes Brot am Tag, als der heilige Antonius ihn besuchen kam, könnten sie antworten, dass solches nicht absolut gegen die Regeln der Physik verstoße, dass Satyren und Faune existieren könnten und jedenfalls, wenn dieses Märchen auch kindlich sei, so hätte es doch nichts gemeinsam mit den Wundern, die der Heiland und seine Apostel vollbracht haben. Mehrere gute Christen haben die Geschichte vom heiligen Stylites des Théodoret bekämpft16. Viele Wunder. die in der griechischen Kirche als authentisch gelten, wurden von der römischen als zweifelhaft zurückgezogen, ebenso wie Wunder der römischen Kirche der griechischen suspekt sind; schließlich kamen die Protestanten und haben die Wunder der einen wie der anderen Kirche stark misshandelt. Ein jesuitischer Wissenschaftler (Ospinian) der lange in Indien gepredigt hat, beschwert sich, dass weder seine Brüder noch er selbst je ein Wunder bewirkt hätten. Xavier bedauert in mehreren seiner Briefe, dass er nicht sprachbegabt sei, er sagt, er sei unter den Japanern wie eine stumme Statue. Dennoch haben die Jesuiten geschrieben, er hätte 8 Tote wiedererweckt, was viel ist, aber man muss auch bedenken, dass er sie 6000 Meilen von hier wiedererweckte. Man hat Leute gefunden, die behauptet haben, dass die Abschaffung des Jesuitenordens in Frankreich ein viel größeres Wunder sei als die von Xavier und Ignatius17. Wie dem auch sei, alle Christen gestehen zu, dass die Wunder Jesu Christi und der Apostel von unbezweifelbarer Wahrheit sind, aber dass man mit aller Entschiedenheit an einigen Wundern zweifeln kann, die in letzter Zeit vollbracht wurden und nicht sicher belegt worden sind. Man wünschte beispielsweise, damit man ein Wunder gut belegen hätte können, dass die Akademie der Wissenschaften von Paris zugegen gewesen wäre oder die Royal Society von London und die medizinischen Fakultät, assistiert von einem Garderegiment, um die Volksmassen in Schach zu halten, die sonst durch ihre Indiskretion die Ausführung des Wunders hätten verhindern können. Man fragte eines Tages einen Aufklärer, was er sagen würde, wenn die Sonne anhielte, das heißt, wenn die Erde aufhörte, sich um diesen Stern zu drehen, wenn alle Toten wiederauferstünden und wenn sich alle Berge gemeinsam ins Meer stürzten, dies alles um irgendeine bedeutende Wahrheit zu beweisen wie etwa die der wechselhaften Gnade. „Was ich da sagen würde? antwortete der Aufklärer, ich machte mich zum Manichäer18 , ich würde sagen, es gebe ein Prinzip, das zerstört, was das andere aufgebaut hat“.


Vollmond-Sonnenfinsternis: bei Vollmond liegen sich, von der Erde aus gesehen, Sonne und Mond gegenüber, es kann also bei Vollmond nie eine Sonnenfinsternis, wohl aber eine Mondfinsternis geben (wenn der Mond so steht, dass er vom Erdschatten bedeckt wird).

2Anius, in der griechischen Religion Sohn von Apoll und Rhöo, der Tochter Bacchus‘. Anius hatte 3 Töchter Oeno, Spermo und Elais, denen von Bacchus die Gabe verliehen worden war, was auch immer in Wein, Weizen und Öl zu verwandeln – was Wunder, dass ihnen die Aufgabe zufiel, das griechische Heer vor Troja zu versorgen.

Athalide, Merkur, der Götterbote und Gott des Handels (= Hermes), soll seinen Sohn Aethalides befähigt haben, aus der Unterwelt immer wieder aufzutauchen, um für kurze Zeit bei den Menschen zu leben (nach Appolonius v. Rhodos, Die Argonauten, I,V.). Voltaire hat dieses Wunder an anderen Stellen auch so wiedergegeben, nur hier hat er ihn  zur Frau gemacht (aber fille und fils sind im Französischen nahe beieinander und Hermes und Hermaphrodit ebenfalls).

4Äskulap (Asklepios), griechischer Gott der Heilkunst, erweckte Hippolytos wieder zum Leben, den Poseidon an einem Fels zerschmettern lies.

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5Alceste, in der griechischen Religion starb sie, um Admetos, ihren Mann, zu retten. Herkules holte sie jedoch aus der Unterwelt zurück (s. Euripides Tragödie Alceste).

6Palladium, ist ein Schutzschild, mit der Abbildung der Göttin Pallas Athena versehen. Er soll angeblich auf die Stadt Troja herabgefallen sein und soll sie vor ihren Feinden geschützt haben.

7Berenike, ägyptische Königin (270 – 221 vuZ), opferte, ihrem Gelübde entsprechend, ihr prachtvolles Haar, als Ptolemaios III., ihr Mann, unversehrt aus dem Krieg zurückgekehrt war. Schon am Tag nach dem Opfer war das Haar aus dem Tempel verschwunden. Die Götter waren so entzückt von ihrem Opfer, dass sie daran die Sterne am Himmel aufhängten. Nach dieser Sage wurde das Sternbild ‚Haar der Berenike‘ benannt.

8Philemon und Baucis, in der griechischen Religion waren sie die Einzigen, die den inkognito reisenden Göttern Zeus und Hermes Gastfreundschaft gewährten – dafür wurden sie belohnt, indem ihre ärmliche Hütte in einen Tempel verwandelt wurde, zu dessen Priestern man sie auch gleich ernannte.

9Kopf des Orpheus, Orpheus, der Sänger, wurde in Stücke gerissen, Kopf mit Leier in einen Fluss geworfen, wo er nach der Sage weitersang, bis ihm, als er in Lesbos an Land gespült wurde, der Gott Apollo gebot, zu schweigen.

10die Mauern Thebens, Amphion, König von Theben, soll die Steine durch das Spiel seiner Leier dazu gebracht haben, sich zu den mächtigen Mauern des siebentorigen Thebens zusammenzufügen.

11Gervasius, Protasius, Zwillinge und Märtyrer zur Zeit Neros – erschienen am 17. Juni 386 dem heiligen Ambrosius von Mailand im Traum, um ihm die Grabstätte ihrer Gebeine zu weisen. Dieser benutzte diese ebenso zur Blindenheilung wie Vesapsian seinen Speichel. Man findet die Gebeine der Zwillinge heute angeblich in der Kirche San Ambrogio in Mailand, deren Schutzpatrone die beiden sind.

12Tod des Peregrinus, Lukian, Zitat übersetzt nach Lukian, Tod des Peregrinus, S.5 erschienen bei Ernst Heimeran München, 1925, 24. S (griechisch-dt). Peregrinus war eine äußerst dubiose Gestalt des Frühchristentums. Er verbrannte sich im Stadion zu Olympia selbst bei lebendigem Leib, um seine Anhängerschar zu beeindrucken. Nach etlichen Straftaten (unter anderem hatte er seinen Vater erdrosselt), hatte er sich christlichen Gemeinden angeschlossen und war eine Art christlicher Wanderprediger geworden. Dabei hatte er großen Erfolg und kam durch das Geld seiner Anhänger schnell zu Reichtum. Darauf bezieht sich das Zitat Voltaires aus dem Text Lukians. Lukian von Samosata (120 – ca. 200), war ein bedeutender griechischer Schriftsteller, der die Sitten seiner Zeit, besonders aber auch die Religion, kritisierte. ‚Über den Tod des Peregrinus‘ ist eines seiner ca 80 überlieferten Werke. Die Kirche ließ aus seinen Büchern – wo sie ihrer habhaft werden konnte – den Bericht über den Tod des Peregrinus herausschneiden, da sie sein Leben im Dienste des Christentums gerne verklärt hätte. Auf Deutsch ist die letzte Übersetzung 1925 erschienen.

13Polykarbus,  Heiliger (lebte um 100), Bischof von Smyrna – das heute Izmir heißt, starb den Märtyrertod um 150.

14Augustinus,  Heiliger: Vom Gottesstaat XXII, 8,566: „Ich würde antworten, dass sie nötig waren bevor die Welt glaubte, um zum Glauben zu führen.“

15 Eremit Paul, Paul der Eremit, genannt ‚von Theben‘ , Heiliger der ersten Stunde (von 229 bis 342!), verbrachte sein Leben in der Wüste – sein Leben beschrieb der heilige Hieronymus „Vie de Saint Paul Ermite“, das Werk kann man sich im Internet sogar bei jesusmarie.com herunterladen.

16Stylites, Heiliger (390 – 459), Simeon von Stylites war der Begründer eines Ordens von Säulenheiligen, also von Leuten, die sich zum Ziel setzen, es möglichst lange auf einer Säule lebend auszuhalten. Thédoret lebte von 393 – 460 in Syrien, war Kirchenhistoriker und hat das Leben des Simeon von Stylites beschrieben.

17Xavier, Ignatius, Francisco de Xavier (1506-1552), jesuitischer Missionar in Indien, Ignatius von Loyola (1491 – 1556), Gründer des Jesuitenordens.

18 Manichäer, eine Glaubenslehre die auf den den persischen Stifter Mani (216 – 276) zurückgeht und in Asien bis ins 14. Jahrhundert stark verbreitet war. In Europa wurden die manichäischen Glaubensgemeinschaften von der Kirche verfolgt und im 5. Jahrhundert endgültig zerstört. Der Manichäismus ist eine streng dualistisch angelegte Religion: dem Reich des Lichtes steht das Reich der Finsternis entgegen. Dieses zerstört, was jenes aufgebaut hat (-> guter Artikel in wikipedia.org ‚Manichäismus‘).


Préjuges – Vorurteile

Das Vorurteil ist eine Meinung ohne Urteil. So werden Kindern auf der ganzen Welt, bevor sie zu einem Urteil fähig wären, alle beliebigen Meinungen eingeflösst.
Es gibt universelle, notwendige und solche Vorurteile, die die Tugend selbst sind. In jedem Land bringt man den Kindern bei, Gott als Belohner und Bestrafenden zu ehren, Vater und Mutter zu lieben, Diebstahl als Verbrechen anzusehen, die absichtliche Lüge als böse –  und zwar bevor sie noch erraten können, was Laster und was Tugend wäre. 
Es gibt also sehr gute Vorurteile, nämlich diejenigen, die die Urteilskraft bestätigt, wenn man nachdenkt. Gefühle sind nicht einfach Vorurteile, sie sind etwas sehr viel stärkeres. Eine Mutter liebt ihren Sohn nicht deshalb, weil man ihr gesagt hätte, sie solle ihn lieben: sie hängt gegen ihren eigenen Willen an ihm. Man folgt nicht einem Vorurteil, wenn man einem Kind zu Hilfe eilt, das droht, in den Abgrund zu fallen, oder von einem wilden Tier gebissen zu werden. Aber es geschieht aus Vorurteil, wenn Sie einem gut gekleideten, würdig einher schreitenden und ebenso sprechenden  Mann mit Respekt begegnen. Ihre Eltern haben Sie gelehrt, dass Sie sich vor diesem Mann verneigen sollen – Sie respektieren ihn noch bevor Sie wissen, ob er Ihren Respekt verdient. Sie werden älter in Jahren und Erfahrung, Sie bemerken, dass dieser Mensch ein Scharlatan ist, voller Hochmut, Eigennutz und Arglist, Sie werden das, was Sie überprüft haben, gering schätzen und das Vorurteil weicht dem Urteil. Sie haben aus Vorurteil den Märchen geglaubt, mit denen man Ihre Kindheit ausgefüllt hat, man hat Ihnen erzählt, dass die Titanen gegen die Götter Krieg führten und Venus Adonis liebte, mit 12 haben Sie diese Märchen für Wahrheit genommen, mit 20 haben Sie sie für gut gemachte Allegorien angesehen.
Untersuchen wir ein wenig die Begriffe der verschiedenen Arten von Vorurteilen, um in unsere Angelegenheiten etwas Ordnung zu bringen. Es wird uns dabei vielleicht am Ende ergehen wie jenen, die zur Zeit der Lawschen Systeme1 bemerkten, dass sie mit eingebildeten Reichtümern gehandelt haben.

Vorurteil der Sinne
Ist es nicht eine komische Sache, dass, obwohl wir sehr gut sehen, uns unsere Augen laufend täuschen, während uns unsere Ohren nicht täuschen? Wenn Ihr richtig ausgerichtetes Ohr vernimmt: „Sie sind schön, ich liebe Sie“ ist es ziemlich gewiss, dass man nicht: „Ich hasse Sie, Sie sind hässlich“ zu Ihnen gesagt hat. Aber betrachten Sie die glatte Oberfläche eines Spiegels – man kann zeigen, dass Sie sich  täuschen, denn sie ist uneben. Sie sehen die Sonne mit ungefähr zwei Fuß Durchmesser, man kann zeigen, dass sie eine Million mal größer ist als die Erde. Es scheint, dass Gott die Wahrheit in unsere Ohren gelegt hat und die Täuschung in unsere Augen.

Studieren Sie jedoch die Gesetze der Optik, werden Sie erkennen, dass Gott 
sich nicht getäuscht hat und dass Ihnen die Gegenstände unmöglich anders als in ihrem gegenwärtigen Zustand erscheinen können.

Physikalische Vorurteile
Die Sonne geht auf, der Mond ebenfalls, die Erde bewegt sich nicht: da haben wir physikalische Vorurteile aus der Natur. Aber dass Krustentiere gut für das Blut sind, weil sie gekocht ebenso rot sind, dass der Zitteraal Lähmungen heilt, weil er zappelt, dass der Mond unsere Krankheiten beeinflusst, weil man eines Tages beobachtet hat, dass ein Kranker doppelt so hohes Fieber hatte, als der Mond abnahm: diese Vorurteile und tausend andere gehen auf Fehler von Scharlatanen in der Vergangenheit zurück, die urteilten ohne nachzudenken und die, selbst Getäuschte, Andere täuschten.

Historische Vorurteile
Die meisten Geschichten hat man ohne Überprüfung geglaubt und dieses Zutrauen war ein Vorurteil. Fabius Pictor2 erzählt, dass einige Jahrhunderte vor seiner Zeit eine Vestalin der Stadt Alba vergewaltigt wurde, als sie Wasser in ihren Krug schöpfen wollte und dann mit Romulus und Remus niederkam, die von einer Wölfin gesäugt wurden usw. Das römische Volk glaubte dieses Märchen, es untersuchte nicht, ob es zu diesem Zeitpunkt im Latium Vestalinnen gab, ob es glaubhaft ist, dass die Tochter eines Königs ihr Kloster mit einem Krug verließ, ob es wahrscheinlich war, dass eine Wölfin 2 Kinder, statt sie zu verspeisen, säugte. Das Vorurteil verfestigte sich.
Ein Mönch schrieb, dass Clovis, als er während der Schlacht von Tolbiac in große Gefahr geriet, schwur, Christ zu werden, wenn er heil herauskäme.3 Aber ist es normal, sich in einer derartigen Situation an einen fremden Gott zu wenden? Ist es nicht vielmehr so, dass die Religion, in die man geboren wurde, die größte Wirkung ausübt? Welcher Christ hätte sich in einer Schlacht gegen die Türken eher an Mohammed und nicht an die Jungfrau Maria gewandt? Es wird hinzugesetzt, dass, um Clovis zu salben, eine Taube in ihrem Schnabel die heilige Ampulle brachte und ein Engel das Lilienbanner trug, um ihn zu führen. Das Vorurteil glaubt alle derartigen Histörchen. Wer die menschliche Natur kennt, weiß sehr gut, dass der Besetzer Clovis ebenso wie die Besetzer Rolon oder Rol4  Christen wurden, um Christen besser beherrschen zu können, ebenso wie die türkischen Besatzer zum Islam konvertierten, um Moslems besser zu regieren.

Religiöse Vorurteile
Wenn Ihnen Ihre Amme erzählt hat, dass Ceres dem Getreide befiehlt, oder dass  Vichnu und Xaca mehrere Male zu Menschen wurden, oder dass Sammonocodom einen ganzen Wald abholzen kann, oder dass Odin Sie in seiner Halle zu Jütland erwartet5, oder dass Mohammed oder irgend ein anderer eine Reise in den Himmel getan hat, wenn schließlich Ihr Erzieher das einmeißelt, was Ihre Amme in Ihr Hirn eingravierte, werden Sie Ihr ganzes Leben daran tragen. Fall sich Ihr Urteilsvermögen gegen diese Vorurteile erheben wollte, werden Ihre Nachbarn, vor allem Ihre Nachbarn, Gotteslästerung schreien und sich fürchten. Euer Derwisch, in voller Angst, sein Einkommen zu verlieren, zeigt Sie bei Gericht an und der Richter wird Sie pfählen lassen, wenn er kann. Denn er will Dummköpfe regieren und glaubt, dass Dummköpfe besser gehorchen als andere. Und das wird so lange dauern, bis Ihre Nachbarn, oder der Derwisch und der Richter zu verstehen beginnen, dass die Dummheit zu nichts führt und dass der Verfolgungswahn verabscheuenswert ist. 


1 – Lawsches System,  der Schotte John Law (1671-1729), Ökonom, Bankier, kam unter der Regentschaft Phillippe d’Orléans ab 1715 zu Einfluss. Er  gab mit staatlicher Genehmigung Banknoten und Anteilsscheine auf seine Bank aus, die in barer Münze bezahlt werden mussten, als Sicherheit dienten Goldreserven und Staatsgarantien. Doch verbreitete sich nach anfänglich großem Erfolg das Gerücht mangelnder Deckung und als die Aktionäre in Panik 1720 ihre Banknoten und Aktientitel einlösen wollten, brach das Lawsche System zusammen und riss zahlreiche Teilhaber in den Ruin, einige im Verlauf der ausbrechenden Unruhen auch in den Tod. Voltaire war es gelungen, seine Anteile rechtzeitig abzustoßen..

2 – Fabius Pictor, Quintus Fabius Pictor, römischer Historiker (254 – 201 vuZ), schrieb die Annalen Roms, die wohl auch den bekannten Mythos von der Gründung Roms enthielten. 

3 – Clovis I. (dt. ‚Chlodwig I.‘, 466 – 511), erster christlicher König Frankreichs, besiegte 496 in der Schlacht bei Tolbiac (heute Zülpich) im Süden Kölns ein alemannisches Heer. Nach dem Sieg bekehrte sich Clovis zum Christentum.

4 – Rolon/Rol – Rollo (860 – 932), bedeutender Anführer der Wikinger, fiel 911 in Nordfrankreich ein und bekehrte sich zum Christentum, um die Herrschaft über die Grafschaft Rouen und das umgebende Gebiet, etwa mit der heutigen Normandie identisch, zu erlangen.

5 – Ceres, römische Göttin des Getreides, der Kultur überhaupt – nach ihr heißen Feldfrüchte ‚Cerealien‘; Vichnu, im Hinduismus Gott der Erhaltung; Xaca, Sammonocolus (Samano Khodom) Synonyme für Buddha; Odin (=Wotan), germanischer Hauptgott

Amour nommé socratique – Homosexualität

Wie hat es geschehen können, dass ein Übel, Untergang des Menschengeschlechts, wäre es allgemein, schändliches Attentat auf die Natur, trotzdem so natürlich erscheint. Es scheint die letzte Stufe von Geistesverwirrung zu sein und ist doch übliche Praxis von Leuten, die noch gar nicht die Zeit zum Verwirrtsein gefunden haben. Es hat in ganz frische Herzen Eingang gefunden, die weder Ehrgeiz, Täuschung noch Geldgier kennen; es ist die blinde Jugend, die sich gleich am Ausgang der Kindheit aus fehlgeleitetem Instinkt dieser Verwirrung hingibt. Frühzeitig offenbart sich die Neigung der beiden Geschlechter zueinander; aber was man auch immer über Afrikanerinnen und Asiatinnen gesagt haben mag, diese Neigung ist sehr viel stärker beim Mann als bei der Frau, dies ist ein Gesetz, das in der Natur für alle Tiere gilt, es ist immer das Männchen, das das Weibchen angeht. Die jungen Männchen unserer Art fühlen die Kraft, die die Natur in ihnen entfaltet und finden, da sie gemeinschaftlich erzogen werden, kein natürliches Objekt für ihren Trieb; so stürzen sie sich auf das, was ihm gleicht. Oft gleicht ein Knabe zwei oder drei Jahre lang einem schönen Mädchen durch die Frische seines Teints, durch sein plötzliches Erröten, die Süße seiner Augen; wenn man ihn liebt, ist es, weil sich die Natur irrt; man huldigt dem Sex, in dem man sich an das bindet, was die Merkmale der Schönheit besitzt und wenn das Alter die Ähnlichkeit zum Verschwinden bringt, besteht der Irrtum fort.
‚Citraque juventam, aetiats breve ver et primos carpere flores‘ (Ovid Met. X, 84-85)1.

Man weiß zur Genüge, dass dieser Irrtum der Natur im Süden viel gebräuchlicher ist, als im eisigen Norden, weil dort das Blut entzündbarer ist und die Gelegenheit häufiger: auch ist, was beim jungen Alkibiades2 als Schwäche erscheint, abstoßend bei einem holländischen Matrosen oder einem Moskauer Marketender.
Ich kann es nicht hinnehmen, dass man behauptet, die Griechen hätten diese Zügellosigkeit erlaubt. Man zitiert Solon, den Gesetzgeber, weil er in zwei schlechten Versen gesagt hat: „Zärtlich liebe einen schönen Jungen, solange er keinen Bart am Kinn trägt.“
Aber wirklich, handelte Solon als Gesetzgeber, als er diese beiden lachhaften Verse schrieb? Er war noch jung. Und als der Lüstling weise wurde, hütete er sich, seinen republikanischen Gesetzen eine derartige Schändlichkeit  hinzuzufügen.3 Es ist dasselbe, wenn man Theodore von Bèze anklagt, die Knabenliebe in seiner Kirche gepredigt zu haben, weil er in seiner Jugend Verse für den schönen Candide verfasst hat, in denen es heißt: „Aplector hunc et illiam“4. Man missbraucht einen Text Plutarchs, der in den Plaudereien seines Dialog über die Liebe einen Gesprächspartner sagen lässt, dass die Frauen der wirklichen Liebe nicht wert seien, ein anderer Gesprächsteilnehmer jedoch unterstützt die Seite der Frauen wie es sein sollte.
Es ist gewiss, soweit sich die Wissenschaft über die Antike gewiss sein kann, dass die sokratische Liebe nicht schändlich war, hier hat der Begriff der Liebe zur Verwirrung beigetragen. Was man „die Liebhaber eines jungen Mannes“ nannte, war genau das, was bei uns die Edelknaben der Adligen sind,  was die Ehrenkinder waren: junge Leute, die zur Erziehung einem Kind aus hohem Hause beigegeben wurden, gemeinsam die selben Übungen machten, dieselben militärischen Arbeiten, eine militärische und heilige Einrichtung, die man zu nächtlichen Festen und Orgien missbrauchte.

Das Heer der Liebenden, das  Laios unterhielt, war eine unbesiegbare Einheit von jungen Kriegern, die durch ihren Schwur verpflichtet waren, ihr Leben füreinander zu geben; und es war das disziplinierteste Heer, das die Antike je hatte.
Sextus Empiricus5 und andere haben gut reden, wenn sie behaupten, die Knabenliebe sei von den Gesetzen Persiens empfohlen worden. Sie sollten den Gesetzestext zitieren, sie sollten den entsprechenden Paragraphen nennen, und, wenn sie ihn nennen würden, so glaubte ich es noch immer nicht und würde sagen, die Geschichte sei falsch, und zwar deshalb, weil sie unmöglich ist. Nein, in der Natur des Menschen liegt es nicht, ein Gesetz zu verfassen, das der Natur widerspricht und das die Natur beleidigt, ein Gesetz, das die Natur auslöschte, würde es buchstabengetreu befolgt. Gewisse Leute haben beschämende Praktiken, die in einem Land toleriert wurden, für ein Gesetz des Landes ausgegeben. Sextus Empiricus, der alles bezweifelte, hätte an solcher Rechtsprechung zweifeln sollen. Wenn er unserer Tage lebte und zwei oder drei Jesuiten einige ihrer Schüler missbrauchen sähe, hätte er deshalb das Recht zu sagen, dass dieses Spiel durch die Regeln Ignatius von Loyolas6 erlaubt sei ?  Die Knabenliebe war in Rom so verbreitet, dass man sich nicht unterstand, diese Albernheit zu bestrafen, vor der alle Welt die Augen verschloss. Octavius Augustus, dieser lüsterne Mordbube und Feigling, der es wagte, Ovid zu verbannen7, fand es sehr gut, dass Virgil Alexis besang und dass Horaz für Ligurinus kleine Oden verfasste8, aber das alte Gesetz Scantinia 9, das die Knabenliebe verbot, bestand  noch immer: der Herrscher Philipp verhalf ihm wieder zur Geltung und hat alle kleinen Jungen, die diesem Metier nachgingen, aus Rom hinausgejagt. Schlussendlich glaube ich nicht, dass jemals eine zivilisierte Nation Gesetze gegen die guten Sitten gemacht hat.


1 – Citraque… vor der Reife den kurzen Frühling der Jugend und die ersten Blüten zu pflücken

2 – Alkibiades ( 450- 404 vuZ), skrupelloser Politiker und Feldherr Athens, von dem es heißt, er habe mit seinem Lehrer Sokrates eine homosexuelle Liebschaft gehabt.  
3 – Solon (640 -560 vuZ), athenischer Politiker, der den Staat durch eine umfangreiche Gesetzesreform neu ordnete.

4 – Theodore von Bèze (1519 – 1605), Genfer Reformator, verteidigte die Hinrichtung des Gelehrten Michel Servet als Ketzer auf dem Scheiterhaufen in Genf (1553). Der Vers aus seinen Poemata juvenilia, die ihm wegen einiger erotischer Stellen unbequem wurden, heißt richtig: „Amplector quoque, sic et hunc et illiam‘ was in Voltaires verkürzter Version, der die Gelegenheit zu einem Seitenhieb auf den ihm verhassten Theologen nutzt, bedeutet: „Ich liebe sie und liebe ihn“.

5 – Sextus Empiricus (2.Jh. uZ),  griechischer Philosoph, Skeptiker, der an der Möglichkeit gesicherten Wissens zweifelte

6 – Ignazius von Loyola (1491 – 1556);  Gründer des Jesuitenordens, für die militärische Strenge seiner Ordensregeln und seine extremen Glaubensübungen bekannt, Kindesmissbrauch kam in den jesuitischen Anstalten nicht selten vor..

7 – Oktavius Augustus (63 vuZ – 14 uZ) römischer Kaiser, besann sich am Ende seines Lebens auf Sitte und Anstand, so wollte er, der mit seiner dritten Frau Livia zusammenlebte, bevor sie sich von ihrem Mann scheiden ließ, jetzt den Ehebruch verbieten und verbannte im Jahre 8 uZ Ovid nach Tomis am schwarzen Meer.

8 – Virgil Alexis… bezieht sich auf die von Vergil in den Jahren 42 – 39 vuZ verfassten Hirtengedichte „Bucolica“. In den Eklogen 2 verliebt sich der Hirte Corydon in den schönen Alexis. Horaz – Ligurinus: Ligurinus ist der Titel der 10. Ode des vierten Buches von Horaz Oden, die die Schönheit des Knaben Ligurinus besingt.

9 – Scantinia  Lex Scantinia hieß das Gesetz, das im 2. Jh. vuZ in Rom die Knabenliebe untersagte und unter Augustus‘ Lex Lulia verschärft wurde. Mit Phillipus ist Marcus Julius Phillipus I., der auch  Phillipus Arabs genannte römische Kaiser gemeint. Er regierte von 204 – 249 in der Ära der römischen Soldatenkaiser.

Tolérance – Toleranz

Was ist Toleranz? Toleranz ist die Lebensader der Humanität. Wir alle sind voller Schwächen und Irrtümer: Vergeben wir uns gegenseitig unsere Dummheiten! – dies sei das erste Gesetz der Natur.
Wenn an der Börse von Amsterdam, in London, in Surat oder Basra der Anhänger Zarathustras, Banians1, der Jude, der Mohammedaner, der gläubige Chinese, der Brahmane, der griechisch-katholische Christ, der römisch-katholische Christ, der protestantische Christ, der christliche Quäker miteinander Handel  treiben, so zücken sie nicht ihre Messer gegeneinander, um Seelen für ihre Religion zu gewinnen. Warum haben wir uns dann seit dem Konzil von Nicäa2 fast pausenlos die Hälse durchgeschnitten?  Konstantin begann mit einem Erlass, der alle Religionen erlaubte, doch er endete als Verfolger. Vor ihm erhob man sich gegen die Christen nur, wenn sie anfingen, sich in die Staatsgeschäfte einzumischen. Die Römer ließen jede Religion zu, sogar die der Juden und die der Ägypter, welche sie so sehr verachteten. Warum tolerierte Rom diese Religionen? Weil weder Ägypter noch Juden versuchten, die alte Religion des Imperiums auszulöschen, weil sie nicht über Land und Meer auszogen, um Anhänger zu machen, sie waren nur darauf bedacht, Geld zu verdienen, aber es ist unbestreitbar, dass die Christen ihre Religion zur allein herrschenden  machen wollten. Die Juden wollten die Jupiterstatue nicht in Jerusalem dulden, aber die Christen wollten sie nicht auf dem römischen Kapitol. Der heilige Thomas gab ehrlich zu, dass die Christen die Kaiser nur deshalb nicht vom Thron gestürzt haben, weil sie es nicht konnten. Ihre Meinung war, die ganze Welt hätte christlich zu sein. Also waren sie notwendig solange Feinde der ganzen Welt, bis diese bekehrt sein würde.
Sogar untereinander befehden sie sich wegen jedem einzelnen Punkt ihrer Meinungsverschiedenheiten. Hat man Jesus Christus zuallererst als Gott anzusehen, verbannt man diejenigen, die dies leugnen als Ebioniten3 welche ihrerseits wiederum die Jesusanbeter verdammen. Sind einige unter ihnen  dafür, das Eigentum gemeinschaftlich zu gebrauchen, wie es  – behauptet man – zur Zeit der Apostel gewesen war, bezeichnen ihre Gegner sie als Nikolaiten4 und beschuldigen sie der niederträchtigsten Verbrechen. Streben andere nach mystische Hingabe, nennt man sie Gnostiker5 und verfolgt sie mit rasender Leidenschaft. Ringt Marcianus6 um die Dreifaltigkeit, wird er als Götzendiener geschmäht. 
Tertullian, Praxeas, Origines, Novar, Novatianus, Sabellius, Donatus7 wurden alle noch vor Konstantin von ihren Glaubensbrüdern verfolgt, kaum hatte Konstantin der christlichen Religion zur Macht verholfen, zerrissen sich Athanasier8 und Eusebier9  auch schon gegenseitig  und seither watet die Kirche in Blut, bis auf unsere Zeit.
Das jüdische Volk war, ich gebe es zu, ein ebenso barbarisches Volk. Es erwürgte erbarmungslos die Einwohner eines unglücklichen kleinen Landes, auf das es nicht mehr Anrecht besaß als auf  Paris oder London. 

Doch als Naeman10 von seinem Aussatz genas, nachdem er sich sieben Mal im Jordan untertauchte und er Elisa, aus Dankbarkeit dafür, dass er ihm dieses Geheimnis offenbart hatte, versprach, jetzt den Gott der Juden anzubeten, da behielt er sich trotzdem die Freiheit vor, in gleicher Weise den Gott seines Königs anzubeten. Er bat um Elisas Erlaubnis und der Prophet zögerte nicht, sie ihm zu erteilen.
Die Juden beteten ihren Gott an, aber es erstaunte sie nie, dass jedes Volk seinen eigenen hatte. Sie fanden es gut, dass Chamos den Moabitern ein bestimmtes Gebiet  zuwies, vorausgesetzt, dass  ihr Gott ihnen ein ebensolches gab. Jakob zögerte nicht, die Töchter eines Götzendieners zu heiraten. Laban hatte seinen Gott, wie Jakob auch.  Das sind Beispiele der Toleranz bei einem der intolerantesten und grausamsten Völker der ganzen Antike: wir haben es in seinen unsinnigen Greueln nachgeahmt, jedoch nicht in seinem Großmut.
Es ist selbstverständlich, dass ein Privatmann, der einen Anderen, seinen Bruder, verfolgt, ein Scheusal ist. Das unterliegt keinem Zweifel. Jedoch die Regierung, jedoch der Beamte, jedoch die Fürsten, wie benehmen sie sich gegenüber denen, die einer anderen Religion anhängen? Handelt es sich um Ausländer, die Macht besitzen, ist es gewiss, dass sich ein Fürst mit ihnen verbünden wird. François I., sehr christlich, verbündet sich mit den Moslems gegen den sehr katholischen Karl V.  François I. gibt deutschen Lutheranern Geld, um ihren Aufstand gegen den Kaiser zu unterstützen, aber wie üblich beginnt er damit, die Lutheraner in seinem eigenen Herrschaftsgebiet zu verbrennen.  Er bezahlt sie ganz politisch in Sachsen und verbrennt sie ganz politisch in Paris. Aber mit welchem Erfolg? Verfolgungen schaffen neue Anhänger, bald ist Frankreich voll von neu bekehrten Protestanten. Zuerst lassen sie sich hängen, dann hängen sie die anderen, es gibt Bürgerkriege. Dann kommt die Sankt Bartholomäusnacht, und dieser Flecken Erde  ist schlimmer geworden als alles, was uns die Alten und die Modernen jemals über die Hölle erzählt haben.
Irrsinnige, die ihrem Gott, der sie doch erschaffen hat, nie einen reinen Gottesdienst haben darbieten können.
Unselige, die niemals dem  Beispiel der Noachiden11, der chinesischen Schriftgelehrten, der Parsen12 und all der anderen Weisen folgen konnten. Scheusale, die ihr den Aberglauben braucht wie der Kaumagen der Raben das Aas. Man hat es euch schon gesagt und man braucht es euch auch nicht anders zu sagen: habt ihr bei euch zwei Religionen, werden sie sich die Kehle durchschneiden, habt ihr dreißig, leben sie miteinander in Frieden. Seht den Großtürken: er regiert die Guebern13, die Banianen14, die griechischen Christen, die Nestorianer15, die Römer. Der erste, der Unruhe stiftet, wird gepfählt und alle Welt ist friedlich.


1  Banian – portugiesische Bezeichnung für indische Kaufleute, die einer Variante des Hinduismus, dem Jainismus, angehörten. Banyan ist außerdem der Name des heiligen Baums Indiens, eines Feigenbaums, dessen Äste sich durch Luftwurzeln wieder mit der Erde verbinden.

2  Konzil von Nicäa, erstes ökumenisches, von Kaiser Konstantin 325 einberufenes Konzil in Nicäa, heute Iznik (Türkei). Es sollte den Streit zwischen den christlichen Anhängern der Dreifaltigkeitslehre (Trinitianer) und deren Gegner (Arianer), die die Göttlichkeit Jesu bezweifelten und an die Lehre vom ‚einen und einzigen Gott‘ glaubten, schlichten. Heraus kamen Exkommunikation und Verfolgung von Arius und seinen Anhängern, die sich jedoch lange Zeit recht erfolgreich dagegen zur Wehr setzten konnten.

3  Ebioniten, eine Art urchristliche, noch eng mit dem Judentum verbundene Gemeinschaft, die im 1 Jhdt im Ostjordanland lebte.

4  Nikolaiten Kampfbegriff der katholischen Kirche gegen Glaubensgemeinschaften , die – angeblich oder wirklich – sexuelle Freizügigkeit förderten.

5  Gnostiker,Gruppe, die Gott durch Meditation nahe kommen will und sexuelle Freizügigkeit ablehnt.

6  Marcianus, spätrömischer Kaiser (390 – 457) der die Lehre von der Gott-Mensch Doppelnatur Jesu auf dem Konzil von Chalkedon 451 (heute Kadiköy bei Konstantinopel) durchsetzte.

7  …., alles Theologen des 2. und 3. Jahrhunderts.

8  Athanasius,nach Athanasius, der im 4 Jhdt lebte und die Lehre von der Göttlichkeit Jesu fanatisch durchzusetzen versuchte.

9  Eusebier,nhänger von Eusebius von Nikomedia (bis 341), Vertreter des Arianismus, s.o. unter Anm. 3

10  Naeman, aramäischer Feldhauptmann wird von Elisa geheilt 2,Könige,5)

11  Noachiden, Anhänger/Nachfahren Noahs

12,13  Parsen, Guebern, den Lehren Zoroasters anhängende Perser

14  Banian,siehe unter Anm. 1

15  Nestorianer,Anhänger Nestors, bis 431 Patriarch von Konstantinopel – Die religiös-kirchlichen Auseinandersetzungen der Spätantike beschreibt verständlich – und das ist eine nicht ganz einfache Aufgabe – Karlheinz Deschner in : Kriminalgeschichte des Christentums, Band 2 Die Spätantike, Hamburg 1988,677 S.