Wer, wenn nicht Dieter Meier, wäre besser geeignet, einen neuen Standard für zukünftige Candide Übersetzungen zu setzen? Dieter Meier war langjähriger Lektor für französische Literatur im Reclam-Verlag. Er betreute die Neuübersetzung von Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit und auch unser Projekt, die Herausgabe der ersten vollständigen Übersetzung des Philosophischen Taschenwörterbuchs von Voltaire, – um nur diese beiden zu nennen.
Im Mai 2025 erschien nun in der Reclam Universalbibliothek der von ihm übersetzte Candide, versehen mit ausführlichen und wertvollen Anmerkungen zum Verständnis dieses Klassikers der Weltliteratur. Um es vorwegzunehmen: An seiner Übersetzung gibt es nichts auszusetzen: Sie folgt dem Ursprungstext, sie enthält keine Fehler und auch keine nach Originalität heischenden Wortschöpfungen wie etwa die zuletzt (2018) erschienene Übersetzung von Tobias Roth (siehe dazu unsere ausführliche Rezension). Seltsam nur, dass ausgerechnet Tobias Roth das Nachwort zu dem Büchlein verfasste – der Verlag wird wissen, aus welchen Gründen, doch dazu später.
Zunächst aber einige charakteristische Stellen der neuen Übersetzung, – verglichen mit ihrem unmittelbaren Vorläufer, der Übersetzung von Roth:
Etwa, wenn der Optimist Pangloss den Satz vom zureichenden Grund exemplifiziert (Voltaire: Remarquez bien que les nez ont été fait pour porter des lunettes): „Merket wohl: Nasen sind dazu gemacht, dass wir Brillen tragen“ dagegen Roth: . „Merkt es Euch: Nasen sind dazu gemacht, dass Brillen auf ihnen liegen“,
oder die Stelle, mit der Voltaire einen Menschen, eben Candide, beschreibt, dem man alle Gefühlsregungen vom Gesicht ablesen kann (Sa physiognomie annonçait son âme). Meiers elegante Formulierung: „Sein Antlitz war der Spiegel seiner Seele“ und dagegen die schwerfällig-missglückte von Roth: „Sein Aussehen kündigte bereits seine Seele an“.
Wenn es im dritten Satz des Candide heißt: Il avait le jugement assez droit, avec l’esprit le plus simple; c’est, je crois, pour cette raison qu’on le nommait Candide macht Roth daraus: „Er verfügte über eine ausreichend klare Urteilskraft und einen ziemlich schlichten Geist. Ich glaube, daß man ihn aus diesem Grund Candide nannte“. Dagegen Meier: „Er besaß ein redliches Urteilsvermögen und dazu das schlichteste Gemüt; dies war, glaube ich, der Grund, weshalb man ihn Candide nannte“, was sich flüssiger liest und dem „assez droit“ mit „redlich“ im Deutschen einen adäquaten Begriff zuweist. Sehr lesenswert dazu ist auch seine Anmerkung zur Wahl der Namen bei Voltaire.
Im Unterschied zu Roth entschärft Meier die sinnlichen Begriffe nicht: Kunegunde, haute en couleur, fraîche, grasse, appétissante, ist bei ihm „frisch und rosig und appetitlich rund“ während Roth („rotbäckig, unverbraucht, vollschlank und ganz reizend“) dem Körperlich-Erotischen bei Voltaire ersichtlich ausweicht.
Die Übersetzung von Meier ist ein Vorbild, das zukünftigen Versuchen als Maßstab dienen wird: Sie ist genau, am französischen Original orientiert und mit erhellenden Anmerkungen versehen. Einzig in Sachen Witz könnte man sich von künftigen Übersetzern noch Verbesserungen wünschen. Denn vergleicht man Meiers Übersetzung mit der allerersten, der von Johann Albrecht Philippi, dem Berliner Polizeipräsidenten unter Friedrich II, so ist dessen Versuch zwar sprachlich oft ungenau, aber, was den Humor betrifft, dem Original näher. Zur Illustration dieser Einschätzung sei angeführt, wie Philippi die Wirkung des Techtelmechtels zwischen dem Lehrer Doktor Pangloss und einem Kammerfräulein auf Kunigunde beschreibt (Voltaire: elle vit clairement la raison suffisante du docteur, les effets et les causes, et s’en retourna tout agitée, toute pensive, toute remplie du désir d’être savante): „Sie sah ganz deutlich den zureichenden Grund des Herrn Doktors, die Wirkungen und die Ursachen; sie kehrte darum ganz voll Wallung und tiefsinnig zurück, sie war von Begierde erhitzt, gleichfalls gelehrt zu werden“. Die entsprechende Übersetzung bei Meier: „in aller Deutlichkeit sah sie den zureichenden Grund des Doktors, die Wirkungen und die Ursachen, und sie ging ganz aufgewühlt zurück, ganz in Gedanken, ganz erfüllt von dem Verlangen, sich der Wissenschaft zu widmen“.
Zum Abschluss noch eine Bemerkung zum Nachwort von Tobias Roth, das einen vielinformiert zurücklässt, aber ohne dem Kern des Candide wirklich nahegekommen zu sein. Dieser Kern liegt im Begriff des Optimismus, den Voltaire so definiert (Candide, Kapitel 19 [Optimisme] est la rage de soutenir que tout est bien, quand on est mal): „Optimismus ist die Tollheit zu behaupten, alles sei gut, wenn es einem schlecht geht“, womit er die Quintessenz aller Herrschaftsideologie formuliert, den Weg vom 18. Jahrhundert über Orwells 1984 bis zu unseren heutigen massenmedialen Indoktrinationen, immer wieder ergänzt durch Gewaltexzesse (Näheres haben wir in unserem Artikel 250 Jahre Candide ausgeführt).
Wer Candide kommentiert, ohne diesen Zusammenhang in den Mittelpunkt zu stellen, verfehlt buchstäblich das Thema. Diesem kommt der Übersetzer Dieter Meier in seiner letzten Anmerkung mit dem Hinweis deutlich näher, wenn er darauf hinweist, dass der Abschied vom Paradies (also aus dem göttlichen Herrschaftsgebiet) mit der Aufgabe verbunden ist, die Erde zu bebauen und zu bewahren.
Sie menschlich zu machen, so, dass Alle ohne herrschaftlich-göttlichen Lug und Trug auf ihr glücklich leben können“, sollte man hinzufügen.
