Vorwort von Moland

Um seine Gedanken in der Welt zu verbreiten, um sie bis zu den gewöhnlichen Menschen vordringen zu lassen, gibt es nichts geeigneteres, als sie in einem Wörterbuch zusammenzufassen. Wenn das Projekt eines philosophischen Wörterbuches auch leichthin während eines Abendessens beim König von Preußen entstanden war, ließ es Voltaire doch nicht fallen, sondern befaßte sich ernsthaft damit. Er verwirklichte es, indem er zunächst einen Band zusammenstellte, der klein genug war, um ein Taschenbuch, ein Handbuch  sein zu können.

Der Untertitel, den viele Auflagen trugen,  charakterisierte das Werk: Die Vernunft nach dem Alphabet. Dies war der Katechismus der Schule der Enzyklopädisten. 

Das Werk nahm nach und nach an Umfang zu und bald verdiente das Taschenwörterbuch diesen Titel nicht mehr. Aber erst in der Kehler Ausgabe, wie Beuchot später erklärte, hatte es den beträchtlichen Umfang erhalten, den man heute vor sich sieht.

Obwohl es aus verschiedenen Werken Voltaires zusammengestellt wurde, bildet es ein sehr einheitliches Ganzes, eine den Geist sehr ergreifende Einheit.  Dieses Buch ist sehr viel lebendiger geblieben, als man es sich vorstellt. Wenn Sie es öffnen und es durchsehen, zieht es Sie an und bald mit sich fort. Die Vielfalt des Wissens, das sich hier entfaltet, das hohe Tempo der Gedanken und die Lebendigkeit des Stils werden Sie daran hindern, Ihre Aufmerksamkeit zu verringern. Es scheint, als nehme man an jenen Konversationen Voltaires teil, von deren unwiderstehlichem Zauber die Zeitgenossen berichteten .

Das ist Voltaire, „zur selben Zeit amüsant und lehrreich“, wie Friedrich der Große sagte, sich für alles interessierend, über alles sprechend, nicht dogmatisch, sondern gelassen und leicht, sich dem Eindruck des Augenblicks überlassend, den seine lebendige und lebhafte Vorstellungskraft von jedem Gegenstand erfuhr.

Unter dem Druckort London im Sommer 1764 veröffentlicht, verbreitete sich das Taschenwörterbuch, wie alle diese Kampfschriften, mit einer außerordentlichen Geschwindigkeit.
Bekehrungseifer und  propagandistische Energie trugen zu ihrer Verbreitung bei. Besonders der Kanton Genf wurde mit diesen verbotenen Werken überschwemmt. „Sie kaufen“, sagt Desnoiresterres, „ein Bündel Bücher bei einem Buchhändler, zu Hause, beim Öffnen, werden Sie sich bewußt, daß es sich um diese verderblichen Bücher vermehrt hat. Man schob sie unter den Türen hindurch, hängte sie an die Stränge der Türglocken, die Parkbänke waren von ihnen bedeckt. In den Kultstätten der Religion waren sie mit den Büchern des Katechismus vertauscht worden, bis hin zur Kirche Madeleine, wo man philosophische Wörterbücher, im Kleide von Psalmbüchern in den Bänken liegen sah, wo sie darauf warteten, von irgend jemandem mitgenommen zu werden“. Es wird einem schwindelig, wenn man die Aufzählung dieser Fallen liest (im Werk von Gabriel: Voltaire et les Genevois) (1) die der „höllische Alte“ unter dem Anschein der Unschuld und des Mitleids fortwährend stellte. Aber wir wollen glauben, daß all dies ein wenig aufgebläht worden ist. Vor allem die Uhrmacher, diese Uhrmacher, die die Bevölkerung des entstehenden Ferney bildeten, waren aktive Verteiler und Agenten dieser heimlichen Propaganda. „Man fand stoßweise Verteidigungsschriften in den Werkstätten der Uhrmacher und die kleinen Laufjungen gaben an, daß ein Herr Ihnen sechs Sou  gegeben habe, damit sie das Paket im Geschäft des Chefs  deponierten“.
Wenn auch diese Broschüren von den Männern verschlungen wurden, so hatten die Frauen, gegenüber den Ermahnungen der Pastoren fügsamer, einen heiligen Horror vor ihnen und um sie vor irgendeinem häuslichen Autodafe zu retten, war es nur klug, sie unter dreifachem Verschluß zu halten. Einem dieser braven Leute 
war es gelungen, eine ganze Bibliothek dieser kleinen Bücher zu vereinigen, die er nicht für viel Geld aus den Händen gegeben hätte. Eines Tages, nach dem Essen, sagte seine Mutter, mit der er zusammenlebte, zu ihm: „Das Essen war gut, hat gut geschmeckt, nicht wahr?“ – „Aber ja, sehr gut und vor allem genau richtig warm“, antwortete dieser. – „Ah! Warm, das glaube ich gerne. Wenn du wissen willst, mit welchem Holz ich geheizt habe, geh nach deinem Voltaire-Versteck schauen!“. Die Alte hatte seine „Ecke“ wie die Genfer sagen, gefunden und alles durch den Kamin geschickt!

Der große Rat drohte, das Taschenbuch zu verbrennen. “Ein Magistrat”, schrieb Voltaire an d`Argental (2), “kam, um mich freundlich um die Erlaubnis zu bitten, ein gewisses Taschenbuch zu verbrennen, ich sagte ihm, daß seine Kollegen hier die Herren seien und, vorausgesetzt, sie würden mich nicht selbst verbrennen, ich keinerlei Interesse an irgendeinem Taschenbuch hätte”.
Voltaire verleugnete es entschieden. Noch besser, einem schon alten Brauch folgend, denunzierte er selbst das inkriminierte Werk und richtete am 12. Januar 1765 folgenden Brief an die Behörden der Republik: “Ich bin verpflichtet, den vorzüglichen Rat der Stadt Genf davon in Kenntnis zu setzen, daß unter den verderblichen Schmähschriften, alle in Amsterdam bei Marc Michel Rey gedruckt, mit denen die Stadt seit kurzem überschwemmt wird, am nächsten Montag bei einem gewissen Chirol, Buchhändler zu Genf, ein Paket ankommen wird, das ‘Philosophische Wörterbücher’, ‘Evangelien der Vernunft’, enthält und anderer Dummheiten, die man dreisterweise mir zuschreibt und die ich fast genauso verachte wie die ‘Briefe vom Berge’ (3). Ich glaube meiner Pflicht durch diesen Hinweis genüge getan zu haben und lege es ganz der Weisheit des Rates anheim, alle Störungen des öffentlichen Friedens und der öffentlichen Ordnung zu unterdrücken”.
Während die Hausdurchsuchung in der Buchhandlung Chirol stattfand, fügen die Genfer Chronisten hinzu, überquerte auf der gegenüberliegenden Stadtseite eine viel umfangreichere Lieferung die Stadtgrenze, adressiert an die Buchhandlung Gando, mit der sich Chirol abgesprochen hatte und  ergoß ihren Inhalt ungestraft in den Kanton.
In Frankreich und in Paris waren die Verbreitungstechniken ungefähr die gleichen. Die Schärfe des Parlamentes und die polizeilichen Untersuchungen vermochten dagegen nichts. Das Philosophische Taschenwörterbuch war kaum ein Jahr erschienen, als es in die schreckliche Affäre des Chevalier de La Barre verwickelt wurde..
Es wurde unter den Büchern des unglücklichen Chevaliers gefunden, zusammen mit Thérèse philosophe, le Portier des Chartreux, la Religieuse en chemise, la Tourière des Carmélites, le Sultan Misapouf, la Princesse Grisemine, le Cousin de Mahomet, la Belle Allemande, le Canapé couleur de feu, les Dévirgineurs, ou les Trois Frère usw. alles Werke die eher sittenwidrig als areligiös waren
Es befand sich auf jenem Regal, vor dem der Chevalier der Anklageschrift zufolge Kniefälle wie vor einem Tabernakel machte: es wurde verurteilt mit all den anderen Büchern auf den Scheiterhaufen geworfen zu werden, der auch den Körper La Barres verzehrte.
Diese Angelegenheit setzte Voltaire in großen Schrecken. “Mein lieber Bruder”, schreibt er an Damilaville (4),”mein Herz ist zerschmettert, ich bin am Boden. Ich befürchte, daß man den verbohrtesten und hemmungslosesten Schwachsinn denjenigen zuweisen muß, die nichts als Weisheit und die Reinheit der Sitten predigen. Ich bin versucht, in einem Land zu sterben, wo die Menschen weniger ungerecht sind. Ich schweige, denn ich habe zuviel zu sagen”.
Und am 12. aufs Neue: ”Ich bin unfähig irgendeine Erleichterung zu empfinden nach dieser düsteren Katastrophe für die man mich irgendwie verantwortlich machen will. Sie wissen, daß ich keinerlei Anteil an dem Buch habe, das diese armen Wahnsinnigen auf Knien angebetet haben”. Er verbrachte einige Zeit in den Bädern von Rolle in der Schweiz, um zur Ruhe zu kommen. Er träumte davon, in Kleve unter dem Schutz des preußischen Königs einen Zufluchtsort zu finden, und Diderot, d`Alembert und die Enzyklopädisten dorthin mitzunehmen.
Aber er gewann die Selbstbeherrschung bald wieder. Die Empörung führte ihn zum Leben zurück. Im Jahr 1766 richtete er die ‘Relation de la mort de chevalier de La Barre’ an den berühmten Autor des Buches ‘Des Délit et des Peines’, Beccaria und später, als Ludwig XVI. den Thron bestieg, schrieb er den ‘Schrei des unschuldigen Blutes’. Das philosophische Wörterbuch erschien weiter in allen Formaten und wuchs von Ausgabe zu Ausgabe. Es ist noch heute eines der am meisten gelesenen Bücher des Voltaireschen Werkes und das im Volk am meist gelesene. 
So ist es auch, jedenfalls nach der Auskunft, die mir verschiedene Verwalter der öffentlichen Bibliotheken erteilt haben, dort eines der am meisten nachgefragten Bücher, das man am häufigsten zu erneuern habe. 
Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Voltaire dem Christentum nur leichte Gefechte geliefert. Das philosophische Wörterbuch war der Beginn eines Krieges. Dieser wurde unermüdlich fortgeführt und dauerte 15 Jahre ohne Waffenstillstand noch Gnade und es kam dazu, daß Voltaire am Ende dieser 15 Jahre, wie Sainte Beuve sagt, Paris und Frankreich nach seinem Bilde geformt hatte. Seitdem hat jeder am Intellektuellen Leben teilnehmende Mensch einen Grundbestand an Ideen Voltaires im Kopf, sei es, daß er sie direkt aus der Quelle geschöpft hat, sei es daß er sie indirekt bezogen hat oder daß sie ihm wie angeboren übermittelt wurden. Seitdem mußte auch die christliche Apologetik von dieser unbezweifelbaren Tatsache ausgehen und hat, wenn sie beabsichtigte, sie einfach zu leugnen und ihr nicht Rechenschaft zu tragen, nichts als sterile Werke produziert.


Anmerkungen

Note_1 Paris, Cherbuliez, 1857.

Note_2 Brief  vom 23 Dezember 1764.

Note_3 Von J.-J. Rousseau.

Note_4 Brief vom  7 Juli 1766.