Charlie Hebdo ist Voltaire !

Ermordet am 7.1.2015:
Charb, CabuWolinski, Tignous, HonoréElsa CayatMustapha Ourad, Bernard Maris.
Außerdem 4 jüdische Kunden eines koscheren Supermarkts in Paris, Porte de Vincennes: Yohav Hattab (22J), Philippe Braham (45J), Yohan Cohen (23J) und François-Michel Saada (63J) sowie die beiden Polizeibeamten Franck Brinsolaro und Ahmet Merabet.

In der ersten regulären Ausgabe nach dem Attentat beschäftigen sich die Überlebenden der Charlie Hebdo Redaktion im Leitartikel mit der Frage, ob und wie es jetzt weitergehen kann. Wir haben diesen hervorragenden, in allerbester voltairescher Tradition geschriebenen Text übersetzt (und hier als pdf zum Herunterladen eingestellt: Charlie Hebdo Editorial vom 25.2.2015)

Charlie Hebdo No 1179/5, 25.Februar 2015 – Editorial

Lange Zeit habe ich geglaubt, dass die Inhaftierung das Schlimmste ist, was einem Pressezeichner zustoßen kann. So, wie es Daumier oder Philipon* unter der Regentschaft von Louis Philippe, der alten Birne, geschehen ist.
Als Charb und ich selbst als junge Zeichner, damals zu Beginn der 90er Jahre, einige unserer Arbeiten den Satirezeitungen anboten, brauchten wir keine Angst zu haben, denn über unseren Köpfen schwebte der Engel unserer Kunst: die heilige Meinungsfreiheit.
Wir wollten lachen und mit unseren Zeichnungen Leute zum Lachen bringen. Aber nach einigen Jahren, nachdem wir all die Berühmtheiten in lächerlichen Situationen gezeichnet hatten, kam uns eine Frage in den Sinn: was nützen unsere Zeichnungen und Karikaturen, was bewirken sie? Zunächst ist eine Zeichnung nur eine Zeichnung. Ein kleines hingekritzeltes Ding, das erheitern will und hofft, dabei auch ein wenig nachdenklich zu machen. Lachen und Nachdenklich machen: darin besteht sie, die ideale Zeichnung! Im Vergnügen daran, den Betrachter durch eine originelle Sichtweise zu überraschen, durch einen kleinen Schritt zur Seite, der dazu zwingt, die Dinge schräg, unter einem ungewöhnlichen Blickwinkel zu betrachten, verschieden von der Sichtweise der Mehrheit. Die Übertreibung, das Über-die-Stränge-schlagen, was man den „Charlie Hebdo“-Zeichnern oft vorwirft, sind in Wirklichkeit nur eine Methode, um sich zu trauen, unbekannte Pfade zu betreten.
Vielleicht ist es das, was die Mörder vom 7.Januar nicht ausgehalten haben. Sie haben in Wirklichkeit nie etwas gewagt, sie haben sich in der Bequemlichkeit einer Religion eingeschlossen, die schon vorher auf alles eine Antwort hat und einen vom Nachdenken und vom Zweifeln enthebt. Denn der Zweifel ist ja der ärgste Feind jeder Religion. Man darf nicht zweifeln, wenn man in eine Redaktion eindringt, um alle ihre Mitglieder zu töten. Anders die Zeichner und Redakteure von „Charlie“, sie haben ihre Zeit mit Zweifeln verbracht. Zweifeln an allem und vor allem an sich selbst, an ihrem Talent, an ihrer Inspiration, was sie manchmal etwas nervig machte.
Wolinski stellte sich nach dem Brand von 2011** die Frage: „Sind wir nicht zu weit gegangen?“ Nur ein aufrechter Mensch kann sich diese Art von Frage stellen. Niemals ein Mörder. Wolinski hatte den Mut, seine Zweifel öffentlich zu machen. Er hat eine Kunst daraus entwickelt, seine Verletzlichkeit zum Ausdruck zu bringen. Deshalb wird ein Zeichner niemals ein Mörder. Und deshalb ist es unredlich, die sogenannten Provokationen der Zeichner auf die gleiche Ebene mit der Gewalt der Killer zu stellen, indem man erklärt, diese „hätten es ja herausgefordert“.
Aber: zum Zweifeln braucht man die Anderen, vor allem die, die nicht so denken wie man selbst. Wie würden wir uns langweilen, wenn alle so denken würden wie wir selbst! In welch trauriger Welt müssen die Mörder des 7.Januar gelebt haben…. Eine uniforme Welt, wo der Kopf, der die Grenzen auch nur einen Zentimeter überschreitet, abgeschlagen wird, wo die nur im geringsten abweichende Stimme abgeschnitten wird. Man stelle sich für diese Kleingeister die Idee, kleine Zeichnungen über einen Propheten anzufertigen, vor. Arme Schlucker, die das Leben anderer in die Luft gejagt haben, um zu vergessen, dass sie das eigene verpfuscht haben.
Wie Luz auf der Titelseite von „Charlie“ geschrieben hat, man verzeiht ihnen fast, in einem solchen Ausmaß, wie sie es waren, gering gewesen zu sein. Trotz der Woge von Ermutigungen und Unterstützungen haben wir das Recht, uns zu fragen, wer wirklich den Mut hat, einen solchen Kampf zu führen. Denn, offen gesagt, wer hat Lust, für das Recht auf Blasphemie zu kämpfen, wer hat Lust, den Kirchenleuten die Stirn zu bieten, wenn das bedeutet, von zehn Polizisten 24 von 24 Stunden beschützt zu werden? Niemand! Alle haben „Charlie“ unterstützt: „Vorwärts Leute, wir stehen hinter euch!“
Aber wieviele wagen es, eine gotteslästerliche Zeichnung anzufertigen oder zu veröffentlichen? So wenige. Die Masse unterstützt „Charlie“ wie sie den Stier in der Arena unterstützt. Denn wer weiß, eines Tages wird „Charlie“ sterben, von den Banderillas erschöpft, unter dem bewundernden Beifall der Menge.
Und genau in dem Moment, in dem sich „Charlie“ bereit macht, wieder zu erscheinen, hat ein praktisch identisches Attentat in Kopenhagen stattgefunden. Weniger Tote, aber die gleichen Absichten: die an die Meinungsfreiheit glauben, mundtot zu machen und Juden zu vernichten. Jene, die versuchen, dafür Gründe zu finden, um nicht zu sagen, Entschuldigungen, in dem sie die Zeichner beschuldigen, „Öl ins Feuer zu gießen“ – welche Erklärung haben sie, um die Verantwortung der antisemitischen Killer herunterzuspielen? Denn die jüdischen Opfer in dem koscheren Supermarkt und in Kopenhagen haben keine Mahometkarikaturen gezeichnet. Und trotzdem wurden sie ermordet. Eine derartige Gewalt zu rechtfertigen ist schon ziemlich bestürzend, aber pseudointellektuelle Diskurse, die sich mehr oder weniger in Nachsicht üben, sind schlicht unerträglich. Die Anschläge von Paris und Kopenhagen sind zunächst Angriffe auf eine moderne Konzeption vom Zusammenleben der Individuen, auf die Vielfalt der Ideen und der Menschen.
Jahrhundertelang haben die Religionen diese Werte mit Gewalt bekämpft. Die Moderne schien diese rückwärtsgewandten Religionen mit ihrem Herrschaftsanspruch über die Menschen und ihre Gedanken zur Vernunft gebracht zu haben. Die Anschläge von Paris und Kopenhagen weisen darauf hin, dass noch mehr Zeit und Blut nötig sein wird, bis alle Religionen endgültig die demokratischen, nicht verhandelbaren Rahmenbedingungen akzeptieren werden.
-RiSS, Übersetzung: Rainer Neuhaus.

* 1833 wurden Honoré Daumier und Charles Philipon wegen ihrer Birnenzeichnungen, die den König Louis-Philippe darstellten, zu 6 Monaten Zuchthaus verurteilt.
** Auf das Redaktionsbüro von „Charlie Hebdo“ war bereits am 2.11.2011 ein Brandanschlag verübt worden, der das Büro komplett verwüstete

-> Mit Voltaire sein, heißt antiislamistisch sein, denn Voltaire war gegen alle monotheistischen Offenbarungsreligionen, die christliche, die islamische und die jüdische. Besonders aber kritisierte er deren Institutionen und den Fanatismus, den sie alle hervorbringen, wenn sie können. Und er sagte: Besser, man hat in einem Land dreißig verschiedene Religionen als eine allein. Ecrasez l’Infâme!