Gleich zu Beginn, in einer Art von Vorspiel auf dem Theater, wird die große Adorno-Glocke angeschlagen, mit ihrem warnenden Raunen vor dem Fortschritt der Wissenschaft, hier in der Variante einer Schreckensvision von massenhaft erzeugten Retortenbabys (Magret Atwoods Motiv in The Handmaid’s Tail 1985) die die Individualität auslösche. Pangloss und der Baron versuchen Candide davon zu überzeugen, dass in dieser schönen neuen Welt keine Geschichte, keine Bücher, keine Familie mehr nötig sind, sondern störend vom „Glücklichsein“ ablenken. Täter und Profiteure kommen nicht zur Sprache, die auf Candide einreden, sind lästige Propagandisten.
Doch dann geht es los, Kapitel für Kapitel mit Originalzitaten aus Candide und dem Vorspielen der Lügengespinste unserer heutigen Scheinwelt.
Waren für Voltaire das Christentum und ihre Kirchen die Hauptakteure niederträchtiger Menschenfeindschaft, spielen diese Rolle in Zurmühles Candide (im Folgenden „Candide-Z“) die Welt des Geschwätzes (symbolisiert durch Precht, Houellebecq), der Sternchen ( Madonna, di Caprio,Pamela Anderson), der Geschäftemacher und Bruchpiloten (Marschmeyer, Titanic und der Kreuzfahrtkapitän Schettino) und der Politiker (Kretschmer, Merkel, Schröder, Putin, Merz, Drosten, Lauterbach) – eine Welt, die im Stück durch eine im Hintergrund der Bühne ständig wechselnde Bilderfolge präsentiert wird und die Handlung kommentiert. Eine interessante Idee.
Wenn aber bei Voltaire Candide durch die Beobachtung einer wirklichen sexuellen Handlung Realitätssinn erwirbt und, weil er mit Kunigunde, der Tochter seines Dienstherren, die Physik des Sexuallebens selbst experimentell erkundet, aus dem jämmerlichen ThunderTenTronckhschen Paradies vertrieben wird, bleibt in Candide-Z vom sexuellen Forscherdrang nur eine Art Abklatsch in der Form von Beckenübungen des Hauptdarstellers (David Thomas Pawlak) übrig, die er zwar mit Bravour absolviert, dem Stück aber einen denkbar schlechten Einstieg beschert. Auch sonst ist es mit dem – noch bei Candide knisternden Sexualinteresse – in dem Stück nicht weit her, wie könnte es auch anders sein, wenn die Rolle der Geliebten, Kundigunde, eine hölzerne, dabei ziemlich hässliche Puppe übernimmt. Dass Candide von einer Schauspielern tamilischer Abstammung (Danja Rishany Emmanuel, die ihre Aufgabe im Übrigen sehr gut meistert) dargestellt wird, erscheint als eine Art von Reverenz an die queeren Ansprüche unserer Zeit, in der auch Werbetreibende, um en vogue zu sein, ihre Negligés von dunkelhäutigen Personen unklaren Geschlechts präsentieren müssen, um so die Bedeutungslosigkeit der Mann/Frau Frage zu unterstreichen. Ob Zurmühle dies irgendwie als Kritik versteht, oder ob ihm solche Verdrehung schon zur Natur wurde, ist ungewiss, vor dem Hintergrund der eher missgünstig präsentierten Erotik in seiner Bildergalerie ist eher letzteres zu vermuten.
Wie es überhaupt unklar bleibt, auf welche Seite sich der Autor stellt: ob es ein unabwendbares Schicksal gibt, das die Menschen ins Unglück führt, an dem auch noch ausgerechnet Wissenschaft und Aufklärung schuld sein sollen – oder ob des Menschen Los doch nicht so unabwendbar ist und Machtverhältnisse darüber entscheiden, wem die Ergebnisse der Wissenschaft und manch andere Vorzüge zugute kommen. Zurmühles Candide scheint sich zumindest aufzulehnen, will nicht dem Uniformitätszwang unterliegen, will seine Individualität behaupten, allerdings scheint er/sie diese in der Religion, der Familie und im Garten bestellen zu suchen.
Ausgerechnet die Elemente, die in Voltaires Candide nicht viel mehr als Hemmschuhe der Subjektivität sind, sollen nun die Rettung sein? Wenn Zurmühle darauf keine andere Antwort weiß, ist das kein Glanzstück seiner langen Karriere als Regisseur. Wenn nach dem Untergang der Religion nicht subjektives Glück, Wohlstand, Kunst, Wissenschaft und Freiheit getreten sind, woran hat es denn gelegen und woran liegt es denn noch immer? Immerhin kommen Ideologie, die unsere Köpfe vernebelt, Krieg, der uns als Abenteuer verkauft wird und die Politik, deren entscheidende Stellen nichtswürdige Personen besetzen in seinem Stück vor. Wer aber die Fäden spinnt? Auf diese Frage bleibt Zurmühle jede Antwort schuldig.
Wie auch immer: Für uns ist allein die Frage relevant, ob das Stück zum Lesen des Originals anregt – das ist nicht der Fall – oder ob es zumindest auf der Seite der Aufklärung steht (dafür stellvertretend Voltaire: „Vertrauen wir nur uns selbst, sehen wir alles mit unseren eigenen Augen, sie sind unsere heiligen Gefäße, unsere Orakel, unsere Götter“), eine Frage, die sich nur mit „nicht“ oder mit „eher nicht“ beantworten lässt, zu viele Tasten werden angeschlagen, zu viel gewollt und so geht der Überblick verloren; auch wenn dem Regisseur ganz am Ende (ein kritischer Satz zur Konzentration des Reichtums in wenigen Händen) noch eine Ahnung von dem befällt, was Candide-Z hätte sein können – doch da war es bereits zu spät.