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Prof. Dr. Gyula Racz - Studentenprojekt Kirchenmusikakademie Regensburg - 2001

Candide - eine Zeitreise: nach Voltaire und L. Bernstein

Inhalt: Entstehung| Bernstein's Candide| Leonard Bernstein| Gattung Candide| Musiktheater| Dokumentation|

Candide: Operette oder Musical?

Das Broadway-Theater/Broadway-Musical

Das Broadway-Theater ist ein kommerzielles, nicht öffentlich subventioniertes Theater ohne feste Ensembles oder Orchester.

Der Erfolg eines Broadway-Musicals wird an der Zahl seiner Aufführungen gemessen. Je höher die Geldsumme, die in eine Produktion investiert wird, desto länger muss das Stück laufen, um Gewinn zu erzielen. Deshalb richtet sich die Produktion eines Musicals mindestens ebenso stark nach kommerziellen wie nach künstlerischen Gesichtspunkten. Gewöhnlich entsteht ein Musical als Gemeinschaftsarbeit eines Teams von Spezialisten. Neben dem Librettisten, dem Komponisten und dem Textdichter der Songs nehmen auch Regisseur, Choreograph, Bühnenbildner und Produzent bereits in einem frühen Stadium Einfluss auf die Gestaltung des Musicals.

Der Komponist ist vor allem für die Songs zuständig. In welchem Maße er sich an der übrigen erforderlichen Musik - wie underscoring (dem musikalischen Untermalen von Dialogen) oder Musik zu Tanzsequenzen - beteiligt, ist unterschiedlich. Tanz- und Balletsequenzen etwa bleiben vielfach einem Arrangeur, meist einem Probenpianisten, überlassen, der sie, oft nach den Wünschen des Choreographen, aus Motiven der Songs zusammenstellt. Auch die Orchestrierung eines Musicals wird üblicherweise nicht von Komponisten angefertigt, dafür sind die Orchestratoren zuständig. 

Ein Musical geht gewöhnlich nicht als komplettes, festgefügtes Stück in die Proben. Während der Probenphase, und meist noch danach, ist es ständigen Änderungen unterworfen und auch noch nach den Proben setzt sich dieser Prozess  - mitunter drastisch - während der Voraufführungen fort, den sog. tryouts (auswärtige Voraufführungen) oder den previews (Voraufführungen vor Ort, die dazu dienen, die Resonanz beim Publikum zu testen).

Candide - Musical, Operette, Oper?

Über die Unterschiede der einzelnen Gattungen von Bühnenstücken mit Musik hat sich Bernstein gerade zur Zeit der Komposition von "Candide" Gedanken gemacht. In einem Vortrag behandelt er Geschichte und Typen des amerikanischen Musicals: Er unterscheidet "zwischen Varieté-Vaudeville, Revue, Operette, Komischer Oper, Opera buffa, Opéra comique, Großer Oper und Musikdrama, zwischen Shows, die lediglich zur Unterhaltung des Publikums dienen, und Werken mit künstlerischem Anliegen, die das Publikum durch erhabene Empfindungen bereichern und erheben sollen". 

Candide sollte alles andere als ein Musical werden, denn Bernstein entgegnet selber, dass das charakteristische amerikanische Musical amerikanische Elemente, Sujets, Thematik und volkstümliche (Jazz) Sprache haben müsse. Der Inhalt und die stilistische Vielfalt von Candide aber sollte sich davon bewusst absetzten. Mit Hilfe der amerikanischen Musiktraditionen wollte nun Bernstein ursprünglich eine Mischung aus Ernstem und Heiterem anstreben. Er glaubt, sein Candide folge eher der Tradition der Operette und er bezeichnet die erste Fassung auch als solche. Doch die Operette hatte wenig Erfolg. Ein Kritiker schrieb damals: "Eine Geschichte mit philosophischer Tendenz aus dem 18. Jahrhundert ist kein idealer Stoff für ein Theaterstück." 

Eine große Schwierigkeit war eben auch die besondere formale Gestalt von Candide. Das Werk wollte und sollte in kein formales Schema passen, es war und ist weder Musical, noch Operette noch Oper. Candide verhält sich ähnlich wie die Zauberflöte, die formal zwischen Wiener Vorstadtkomödie mit Musik und großer Oper steht. Auch Bernsteins Werk ist ein unterhaltendes Stück, das sich mit ernsten Dingen beschäftigt und das formal sowohl Elemente der großen Oper als auch des Volkstheaters benutzt.

In einer späteren Fassung wird das Werk Komische Oper genannt, auch das trifft den Charakter von Candide nicht genau.

Bernstein selbst verwendet zunächst auch den Begriff Comic Operetta, eine Mischform, mit der man in Amerika und England etwas anfangen kann, die in Deutschland allerdings weniger verstanden wird. Hier hat sich im allgemeinen Bewußtsein die Bezeichnung Musical für alles eingebürgert, was an musikalischem Theater aus Amerika kommt.

Bernstein bezog 1956 selbst zum Formproblem Stellung: "Das amerikanische musikalische Theater ist einen langen Weg gegangen, auf dem es dies von der Oper, jenes von der Revue, hier etwas von der Operette, dort etwas vom Vaudeville übernommen hat. Aus all dem entstand etwas ganz Neues, das sich stetig in Richtung Oper entwickelt. All diese verschiedenen Formen kann man mit dem Wort "Musical" bezeichnen, weil ihnen eines gemeinsam ist: sie gehören einer Kunstart an, die amerikanischen Wurzeln entspringt, die unsere Sprache, unserem Rhythmus, unserem Verhalten, unserer Art zu leben entspricht."