Volker Reinhardt, Voltaire, eine Biographie, Rezension (3) Auf der Suche nach Reichtum und Ruhm

Das dritte Kapitel berichtet über die Jahre 1728 – 1734, den Lebensabschnitt, in dem Voltaire mit Haftbefehl verfolgt wurde und schließlich nach Cirey in die Champagne floh. Man hätte erwartet, dass diese dramatische Wendung in der Biographie Voltaires durch eine intensive Beschäftigung mit dem Corpus delicti, seinen Philosophischen Briefen und den gesellschaftlich-politischen Gründen der Verfolgung verständlich gemacht wird. Dem ist jedoch nicht so. Das Ziel, möglichst viele Werke vorzustellen, führt dazu, dass durch ausführliche Inhaltserzählungen kaum Platz für Hintergrundanalysen bleibt.

Nach der uninspirierten Erzählung über den Lotteriegewinn Voltaires konzentriert sich Reinhardt auf den zweiten Teil der Philosophischen Briefe, Voltaires Auseinandersetzung mit dem Jansenisten Blaise Pascal. Diesem bescheinigt er stets größte Eloquenz, Tiefe, beeindruckende Bilder, während Voltaire bei seiner Entgegnung meist „an Pascals Gedanken vorbei“ argumentiere (187). Die wichtigen erkenntnistheoretischen, naturwissenschaftlichen Kapitel über Locke, Newton, Pope stellt Reinhardt dem Leser dagegen nur am Rande vor und schlimmer, losgelöst von der Sprengkraft, die sie für das immer noch an Descartes und seinem Rationalismus verhafteten Frankreich spielten.
Ausführlich erzählt er dagegen den Inhalt der Tragödien Brutus, Der Tod Cäsars; Eriphyle und von Zaïre, wobei uns seine Interpretationen wiederum nicht überzeugen können. Reinhardt geht einerseits an der politischen Bedeutung der Tragödien vorbei (das ist der Gegensatz zwischen Absolutismus und Feudalismus, wobei Voltaire den Absolutismus als zivilisatorischen Fortschritt wertet und in immer neuen Facetten vor dem Wiedererstarken des seine Partikularinteressen stets über die der Allgemeinheit stellenden Feudaladels warnt) und verkennt andererseits die Bedeutung, die Voltaire dem Individuum als einem autonomen Subjekt zuweist, dessen ‚innerer Stimme‘ er gegenüber der scheinbar übergeordneten Moral und Religion immer den Vorzug gibt und deren Nichtbeachtung bei ihm fast unausweichlich den tragischen Untergang nach sich zieht. Nur bei Brutus  lobt er republikanische Tugenden und nicht die Monarchie, folgt aber trotzdem dem gleichen Schema: der wahre Herrscher, Brutus, stellt das allgemeine Interesse über das individuelle und umgekehrt: wenn sich individuelle Interessen im obersten Machtzirkel geltend machen, ist dies eine höchst alarmierende Lage und führt die Gesellschaft in den Untergang. Das ist nur scheinbar ein Widerspruch zum Drama Oedipus. Dort entwickelt sich das Verderben, weil Jocaste ihre Liebe den Staatsinteressen opfert. Bei Brutus führt Titus‘ Liebe dazu, dass er gegen das Staatsinteresse handelt, obwohl ihm seine ‚innere Stimme‘ sagt, dass dies falsch ist. Die Schlussfolgerung daraus kann nur lauten, dass ein idealer Herrscher sein individuelles Interesse mit dem Allgemeininteresse in Übereinstimmen bringen sollte. In den Dramen dieser Zeit spiegelt sich Voltaires Ringen um eine politische Theorie vor dem Hintergrund der eigenen Konflikte mit dem Staat. Durch seine oberflächliche Interpretation verliert Reinhardt diesen Punkt aus den Augen und seine Biographie deutlich an Schwung (wen interessiert, ob in der Zaïre die Empfindsamkeit als dramaturgisches Mittel die Zuschauer zu Tränen rührte?). Nur durch die engagierte Vorstellung von Karl XII., Voltaires erstem bedeutenden Geschichtswerk zu Beginn des Kapitels kann Reinhardt verhindern, dass man das Buch gelangweilt zur Seite legt.
Erwähnen wir zum Abschluss, wie Reinhardt auf Voltaires Betroffenheit angesichts des schändlichen Verhaltens der Kirche beim Tod seiner innig geliebten Schauspielerin Adrienne Lecouvreur eingeht. Zwar berichtet er korrekt über die schändliche Weigerung der Kirche, Schauspielern ein ordentliches Begräbnis zu gewähren, die Übertragung des Gedichts in Prosa gerät ihm allerdings so, dass von der Entrüstung und der tiefen Erschütterung, wie sie in dem Pathos Voltaires zum Ausdruck kommen, nicht die geringste Spur übrigbleibt.