Volker Reinhardt, Voltaire, eine Biographie, Rezension (2): Am Hof und im Exil

Kritisch kommentiert von Rainer Neuhaus.

Im zweiten Kapitel erzählt Reinhardt Voltaires Lebensweg bis zum englischen Exil. Er stellt das epische Gedicht Henriade zu ausführlich, die Lettres Philosophiques zu knapp vor und berichtet von Voltaires Reise mit Madame de Rupelmonde, dem für sie verfassten antiklerikalen Gedicht Le pour et le contre und schließlich von der Zeit in England. Außer der lebendigen Präsentation des Gedichts und eines Teils der Philosophischen Briefe finden wir nicht viel Gefallen an dem Kapitel – eher Langeweile und bedauerliche Auslassungen. Hier die ausführlichere Begründung unserer Kritik:

Dass Voltaires epische Dichtung Henriade mit Heinrich IV das Vorbild eines „guten König“ in Szene setzten wollte, ist nicht neu, erklärt aber nicht den Jahrzehnte anhaltenden Erfolg des Werks. Für Beaumarchais etwa war es gleichrangig mit der Illias Homers und die Kritik von katholisch-klerikaler Seite (Journal de Trévoux, 1731), dass in der Henriade die „Rebellen, die Häretiker immerzu recht hätten und die Könige, die Päpste und die Katholiken immerzu unrecht“ weist einen Weg, der Reinhardt offenbar nicht ins Konzept passt. Stattdessen referiert er viele Textstellen mit dem guten König, seinen Liebschaften, seinen Kriegszügen, was Langeweile verbreitet, weil er sie nicht vor dem gesellschaftlichen Hintergrund im vorrevolutionären Frankreich erzählt. Die Henriade antwortet auf die Zerrüttung, die Frankreich durch die seit 50 Jahren andauernden Verfolgung der immerhin 10% der Bevölkerung ausmachenden Protestanten erfuhr. Sie bezieht Stellung gegen die Grundfesten einer staatlichen Ordnung, die den König als Abgesandten des katholischen Gottes betrachtet, somit beauftragt, alle Konkurrenzreligionen auszuschalten und geißelt den christlichen Fanatismus, der in der Bartholomäusnacht vom 23. Auf den 24. August 1572 wütete- eine zentrale Stelle der Henriade, die Reinhardt mit keinem Wort erwähnt.
Die ausführliche Inhaltsangabe steht wie isoliert vom biographischen Erzählfluss, so, als hätte sie eine andere Person ganz unabhängig davon angefertigt. Das ist eindrucksvoll anders, wenn Reinhardt die Philosophischen Briefe aus England vorstellt (hier zunächst den ersten Teil), deren Religionskritik, Voltaires positive Erfahrung mit den Quäkern – hier erzählt er lebendig und nah an der Situation des in England exilierten Voltaire.
Warum aber Voltaires „am häufigsten zitierter Absatz“ (135), der davon spricht, dass dreißig Religionen in einem Land besser sind als eine allein, missverständlich sein soll, muss Reinhardts Geheimnis bleiben, denn eine Erklärung dafür gibt er nicht. Auch sind die Auslassungen störend: weder Voltaires authentischer Bericht über die frühe Pockenimpfung in London kommt vor, noch diese vielzitierte Stelle zur Londoner Börse – es ist der Satz unmittelbar vor dem oben erwähnten: „Dort treiben der Jude, der Mohammedaner, und der Christ Handel miteinander, als ob sie sich alle zur gleichen Religion bekennen“.
Diese Lücke ist von besonderer Bedeutung, weil sie in dem Prozess „Reinhardt gegen Voltaire wegen Antisemitismus“, den der Autor längst vorbereitet hat, einen wichtigen Hinweis zur Entlastung des Angeklagten enthält. Reinhardt hat sich auch schon vorher wenig bemüht, entlastendes Material zu finden: weder greift er zu Pomeaus Charakterisierung des Mehrfachspions und Waffenhändlers Levy, noch fühlt er sich bemüßigt, den tatsächlichen Verlust, den Voltaire durch den Bankrott seines jüdischen Bankiers erlitten hatte zu beziffern und den Vorfall korrekt einzuordnen. Es macht einen Unterschied, ob man als Leser weiß oder nicht weiß, wer Salomon Levy war, von dem im übrigen Pomeau korrekt berichtet. Auch heute ist es üblich, von Finanzleuten zu sagen, sie hätten kein Heimatland und folgten dem, der ihnen am meisten Gewinn verspricht, zudem: „Jude“ und „Finanzier“ waren noch bis vor kurzem Begriffe mit großer semantischer Übereinstimmung.