Volker Reinhardt, Voltaire, eine Biographie, Rezension (1): Auf dem Weg zum eigenen Namen

Kritisch kommentiert von Rainer Neuhaus

Das erste Kapitel der neuen Voltaire Biographie von Prof. Volker Reinhardt , das sich Kindheit und Jugend Voltaires widmet, orientiert sich sehr stark an der nur auf Französisch erschienenen Biographie von René Pomeau. Reinhardt erzählt routiniert, aber auch mit großer Distanz zu seinem Gegenstand.
Zum Beispiel wertet er die Jugendliebe Voltaires zu Pimpette als „Pflichtpensum“, so als ob er selbst nie neunzehn Jahre alt gewesen wäre. Bei der Vorstellung von Voltaires erstem, erfolgreichen Theaterstück Ödipus bleibt er in den Bahnen gewöhnlicher Interpretationsmuster und gerät, wo er darüber hinausgeht, in eine Sackgasse. Dagegen stellt er die ersten Erzählungen Voltaires Cosi Sancta und Der einäugige Lastenträger kurz und prägnant vor, so dass man durchaus Lust bekommt, sie selbst zu lesen, genau, wie es sein soll. Folglich ist unser Gesamteindruck von Kapitel 1 ambivalent. Hier dazu die ausführlichere Begründung: 

Wenn Besterman die Kindheit und Jugend Voltaires beleuchtet, berichtet er über das familiäre Umfeld, erklärt, was es mit dem freidenkerischen Temple Kreis auf sich hat, in dem der jugendliche Voltaire verkehrte, stellt einzelne Personen des Temple vor, von denen einige unter dem im Alter frömmelnden Ludwig XIV. verfolgt wurden und im Gefängnis saßen und kommt schließlich auf Voltaires Schule Louis le grand zu sprechen, hier insbesondere auf jene Mitschüler, die Voltaire lebenslang verbunden blieben und gewissermaßen die Basis einer antiklerikalen Gegenöffentlichkeit im 18. Jhdt. bildeten. Manches davon findet man auch bei Reinhardt, allerdings scheint für ihn  der Bericht über diese Lebensphase eher eine Art lästige Pflichtaufgabe zu sein, die er auf 30 Seiten eilig absolviert. Dabei entgehen ihm außer Fyot de la Marche die anderen so bedeutenden Freundschaften Voltaires wie die zu d’Argental, Cideville, d’Argenson.
Wenn er auf Voltaires erste Liebe zu sprechen kommt, unterstellt Reinhardt dem 19 jährigen sogar strategisches Verhalten und versteigt sich zu der Bemerkung, Voltaire habe hier ein „biographisches Pflichtpensum abgehakt, denn für einen künftigen homme-de-lettres gehörte eine ‚amour fou‘ genauso dazu wie ein Zwangsaufenthalt in der Bastille“ (47).
Ganz anders Besterman (und auch Pomeau), der durch seine intensive Beschäftigung mit den Briefen Voltaires von seinem andauernden, lebenslangen Interesse am Schicksal seiner Jugendliebe Pimpette weiß.
Ödipus, Voltaires erstes Theaterstück, war für sein weiteres Leben von großer Bedeutung, nicht nur, weil der Erfolg sein Selbstbewusstsein als Schriftsteller stärkte und ihm zu neuen Freunden und Unterstützern verhalf, ohne die er sich den Angriffen der ihn zeitlebens verfolgenden Kirche nicht hätte erwehren können. Das Stück enthält darüber hinaus drei Themen, die Voltaire später in zahlreichen Facetten weiterentwickelte: Das Recht des Einzelnen auf ein eigenes, freies Leben, die Kritik an der Kirche und – weitergehend –  am Christentum wegen seinen lebensfeindlichen Maximen, die sich mit einem aufgehetzten Pöbel leicht zu fanatischen Ausbrüchen steigern lassen. Und drittens die Forderung nach einer vernünftigen, dem Glück (Wohlstand, Entwicklung von Kunst und Wissenschaft, Rechtstaatlichkeit) ihrer Bürger  verpflichteten Regierung.
Reinhardt fragt richtig, wie es kam, dass Voltaires Ödipus so erfolgreich war und sucht die Antwort in der Kritik am Klerus, an der Prädestinationslehre der Jansenisten und am Absolutismus des Sonnenkönigs. Er vernachlässigt dagegen, dass es in dem Stück darum geht, dass man als einzelnes Subjekt seinem Schicksal (durch Herkunft, Familie gegeben) entrinnen kann, indem man seiner inneren Stimme, seinen unmittelbaren Gefühlen folgt und nicht überholten moralischen Grundsätzen oder Maximen, ebenso der eigenen Wahrnehmung und nicht den kirchlich-religiösen Dogmen.
Insofern verwundert es nicht, dass der zentrale Grundsatz der Aufklärung aus dem Mund Araspes bei Reinhardt (wie übrigens auch bei Pomeau) fehlt:
„Ne nous fions qu’à nous, voyons tous par nos yeux, ce sont là nos trépieds, nos oracles, nos dieux“ (Vertrauen wir nur uns selbst, sehen wir alles mit unseren eigenen Augen. sie sind unsere heiligen Gefäße, unsere Orakel, unsere Götter“).

Mit seiner Interpretation des Stückes als Kritik am Absolutismus Ludwig XIV begibt sich Reinhardt indessen in eine Sackgasse, an deren Ende angekommen er sich verwundert fragt, warum Voltaire den Regenten Philippe d’Orléans kritisiert, obwohl er doch von diesem Reformen am Absolutismus erhoffen konnte und erklärt sich seinen eigenen Widerspruch als Widerspruch Voltaires, der von dem Kreis um die Duchesse du Maine vielleicht gegen den Regenten aufgehetzt worden sei.
Es ist anders herum: Voltaire schätzt Ludwig XIV als Förderer von Kunst und Wissenschaft und vor allem als denjenigen, der mit der Feudalherrschaft und seiner unbeschränkten kleinstaatlichen Machtausübung Schluss machte. Er kritisiert den Regenten, weil er befürchtet, dass durch dessen schwächliche Regierung die alten Mächte wieder an die Macht kommen könnten. Auf sein Drama bezogen bedeutet dies: Laios, der Königvater ist Ludwig XIV und “gut“, Ödipus, der Vatermörder ist der Regent und „schwach“. Philoktet indessen ist das Alter-Ego Voltaires, der tugendhafte Held, der nicht König zu werden braucht, um groß zu sein. Ödipus, hervorgegangen aus einer Ehe, die Iokaste aus Staatsräson schloss, ist eine faule Frucht, ermordet den Vater aus reinem Hochmut, heiratet inzestuös seine Mutter Iokaste, die ihm – wiederum aus Staatsraison, den Vorzug vor ihrem Geliebten Philoktet gibt. Auch Ödipus hört  – wie er selbst bekennt – nicht auf seine innere Stimme, die ihn oft genug warnt und wird deshalb zum Verderber seines eigenen Vaterlandes und nicht „weil er es nicht besser wusste“. Über all dem steht die Religion, der Glaube und der Klerus, die dem unmenschlichen Treiben ihren Segen verleihen. Nie stehen sie auf Seiten des Einzelnen und repräsentieren eine Macht, die das Entwicklungspotential der Menschen und der Menschheit verspielt.