Philosophisches Taschenwörterbuch:
Vertu – Tugend (Kommentare)

Hintergund:
Die Beschäftigung mit der Frage, was Tugend oder tugendhaftes Leben sei, war zur Zeit Voltaires noch sehr stark von der kirchlich theologischen Tugendlehre durchdrungen, die jahrhunderte lang gepredigt und in die Köpfe gehämmert worden war. Die Werke der christlichen Tugendlehre würden meterlange Buchregale füllen, angeführt von Thomas von Aquin (1225-1274), der die christliche Tugendlehre in ein System goss. Auf diese bezieht sich Voltaire, ihren außerweltlichen Tugenden ‚Glaube an Gott, Hoffnung auf Gott, Liebe zu Gott’ setzt er die weltliche Wohltätigkeit entgegen, ein ganz und gar diesseitiger, gesellschaftlicher Begriff, den die große französische Revolution mit ‚fraternité’, ‚Brüderlichkeit’ übersetzte und den wir heute vielleicht am ehesten in den Begriffen ‚Hilfsbereitschaft, Solidarität’ wiederfinden. Aus dem Sprachgebrauch ist der Begriff ‚Tugend’ im Verlauf des 20. Jahrhunderts mit dem Niedergang des religiösen Einflusses fast vollständig verschwunden. Voltaire und seinen Mitstreitern, die ganz am Anfang dieser Entwicklung standen, haben wir es zu verdanken, dass das Individuum und sein Glücksanspruch, wohl eingebettet in die Gesellschaft, vom religiösen Jenseitsversprechen befreit wurde. Sein Artikel Vertu ist dafür ein erstrangiges Zeugnis und entsprechend heftig waren die Reaktionen seiner Gegner (s.u., Anm 4).

Die folgenden Kommentare zu einzelnen Textstellen beziehen sich mit ihren Seitenangaben auf die von uns bei Reclam herausgegebene Ausgabe des Philosophischen Taschenwörterbuchs (2020)):

Anmerkung 1 (Seite 377 unten: „Dass die Nächstenliebe schwerer wiegt als Glaube und Hoffnung..“):
In einem Brief (13.Februar.1768) an den Grafen Adam Lewenhaupt, einem in Frankreich dienenden Militär aus dem alten schwedischen Adelsgeschlecht der von Lewenhaupt, schreibt Voltaire: „Ich werde mit den drei theologischen Kardinaltugenden sterben, die mich trösten: Den Glauben den ich an die menschliche Vernunft habe, die beginnt, sich in der Welt zu entwickeln; die Hoffnung, dass geschickte und weise Minister endlich gleichermaßen lächerliche wie gefährliche Gewohnheiten zerstören; und die Mildtätigkeit (d.i. die Caritas), die mich über das Los meines Nächsten seufzen macht, seine Ketten beklagen und seine Befreiung erhoffen läßt“. Die Stelle zeigt sehr deutlich, wie Voltaire die christlichen Tugenden Glaube-Hoffnung- Liebe umdreht um sie ‚vom Kopf auf die Füße zu stellen’.
Warum damals ein schwedischer Adliger in französischen Diensten stand und wie damals wie heute imperialistische Politik funktionierte, kann, wer Französisch versteht, in der Zeitschrift für Wirtschafts- und Sozialgeschichte nachlesen.

Anmerkung 2 (Seite 378, Ergänzung zu Fußnote a, „Der heilige Bruno“):
Der heilige Bruno (1030 in Köln – 1101 in Kalabrien) gründete 1084 mit 6 seiner Begleiter den Karthäuserorden, der seine Mitglieder – extrem asketisch -, zum Fasten, Schweigen, zum Gebet und zur Einsamkeit verpflichtete. Sein Leichnam soll zahlreiche Wunder bewirkt haben, weshalb man ihn als Heiligen verehrte. Da er am 6.Oktober verstorben ist, sagt die Bauernregel: „Sankt Bruno, der Kartäuser, lässt Fliegen in die Häuser“.

Anmerkung 3 (Seite 378, 2. Absatz, „..an jedem Tag tugenhaft waren“):
Nonnotte, ein kaltholischer Theologe, der mehrere Bücher zur Bekämpfung Voltaires verfasste, schrieb in seinem Dictionnaire philosophique de la religion zu Voltaires Aussage über Nero und Alexander VI (wobei er wohlüberlegt den Papst nicht erwähnte): „Wie soll man einen Philosophen ansehen, der derartige Prinzipien aufstellt? Wie einen alten Verrückten.“

Anmerkung 4 (Seite 379, 2. Absatz, „Mein Gott, gib uns oft solche Schelme!“)
Vor allem dieser Artikel des philosophischen Wörterbuchs erregte bei Voltaires Gegnern größte Entrüstung. Gerade der letzte Satz zeige seine Niedertracht (Rochefort); zur Wohltätigkeit müsse der Gottesglaube kommen, sonst sei sie wertlos, giftete Chaudon, Paulian hetzte: „In dem Artikel Vertu hat der Autor des Dictionnaire die größten Niederträchtigkeiten verbreitet“. Der unsägliche Nonnotte kopierte den ganzen Artikel und verfasste eine Gegenschrift. Darin denunziert er die Tugend der Wohltätigkeit, in dem er sie mit einer Prostituierten vergleicht, die den einen ihre Wohltaten verleihe, und den anderen ihre Bedürfnisse befriedige.