René Pomeau, La religion de Voltaire
1.Teil: Ein antichristliches Raunen

Zusammenfassung des 1.Teils von René Pomeau, La Religion de Voltaire, Paris: Nizet, 1986 (erweiterte Neuauflage v. 1969) – Kinder- und Jugendzeit bis zum Exil im Jahr 1726; (S. 19 – 117)

Texte: Gedicht: Le vrai Dieu / der wirkliche Gott; Vers à Louis Racine, Epitre à Uranie; Tragödie: Oedipe; Epos: Henriade;
Biographie: Duvernet, Vie de V. (1785); Anon., Mémoires pour servir à la vie de V. (1786)

Voltaire wurde in eine Zeit geboren, in der die Ideologie des Absolutismus (Ein absolut herrschender Gott im Himmel, einer einzigen Religion und Kirche auf Erden, mit einem absolut herrschenden französischen König als deren Diener) bereits deutliche Risse zeigte. Der Protestantismus hatte an Einfluss gewonnen, die katholische Fraktion war zwischen Jesuiten und Jansenisten zerstritten und antiklerikale, libertäre Freigeister suchten die Lücken im ideologischen Gefüge für sich zu nutzen. In Voltaires Elternhaus verkehrten außer den Protestanten Vertreter aller dieser Fraktionen. Das war seiner geistigen Entwicklung förderlich, er lernte, an althergebrachten Dogmen zu zweifeln. Sein Pate und Vertrauter der Mutter, der Abbé de Châteauneuf (1650 – 1708) gehörte zum Cercle du Temple, einem Kreis von Libertins, die sich vor allem gegen den christlichen Aberglauben mit all seinen Absurditäten und Wundern wendete und dem Deismus zuneigten.
Auf der anderen, väterlichen Seite, stand sein Vater und sein neunzehn Jahre älterer Bruder Armand, Vertreter des asketisch misanthropischen Jansenismus, der an einen rächenden, tyrannischen  Gott glaubte, was so gar nicht nach François-Maries Geschmack war.
Voltaires Schule, das Collège Louis-le-Grand – es stand unter Leitung der Jesuiten – vermittelte ihm sieben Jahre lang vor allem die Kenntnis der klassischen, ‚heidnischen‘ Autoren. Der Jesuitenorden war in dieser Zeit die Stütze und Speerspitze des Absolutismus, auf seinen Einfluss geht die Verfolgung der Protestanten und die Aufhebung des Edikts von Nantes 1685 zurück. Trotzdem zählten zahlreiche Abtrünnige zu ihren Schülern (Hélvetius, Diderot z.B), was nicht an ihrem fehlenden religiösen Eifer lag. Sie lehrten den Katechismus von Canisius, in dem Gottes Sohn vernachlässigt wird, die Erbsünde eine Randerscheinung ist, Wunder kaum erwähnt und die Hölle auf den 91 Seiten des Katechismus nur ein einziges Mal angesprochen wird. Gott wird als zärtlicher Vater vorgestellt, der allen Sündern verzeiht. Dieser Katechismus enthielt die Grundlagen des Deismus.  Fénelon und sein dem Deismus sehr nah kommendes Werk Télémaque übte einen großen Einfluss auf Voltaire aus, er lernte es in der Schule kennen, ebenso wie die Werke von Fontenelle und Bayle, ebenfalls Jesuitenschüler. Pomeau sieht die religiösen Anschauungen des zukünftigen Voltaire in den Lehren der Jesuiten seiner Schule wurzeln.  
1711, als V. die Schule verließ (5. 8. 1711) zog die Kirche gegen den Jansenismus zu Felde was 1713 in die Bulle Unigenitus mündete, mit der päpstlicherseits der Jansenismus als Häresie verdammt wurde, was für dessen Anhänger Verfolgung und Gefängnis bedeutete.  
In dieser Zeit schrieb V. seine Ode Le vrai Dieu, in der er starke – ironisch geäußerte Zweifel an dem christlichen Trinitätsglauben ausdrückt. Es ist das erste deistische Werk Voltaires, der ab 1714 zum Kreis des Temple gehörte und dem Hedonisten Abbé de Chaulieu nahestand, von dem diese Verse stammen:

„Geht her, wenn es einen Gott gibt, wird seine in sich ruhende Kraft
sich auf Euch kaum senken um Eure Liebe zu stören:
Könnten seiner Milde Eure Umarmungen missfallen?
Sein wichtigstes Gesetz  ist das Gesetz der Natur;
Unsere Vorfahren führte es alleine,
Lauter als die Stimmen Eurer Priester spricht es,
Für Euch, für Eure Vergnügungen, für die Liebe und für mich“.

Chaulieu ebnete den Weg zum antichristlichen Deismus Voltaires, der im Alten Testament tatsächlich nichts als ein Strickwerk von Märchen und Fabeln sah, wie es ein Denunziant von ihm 1726 behauptete.

Voltaires erstes philosophisches Werk war 1718 die Tragödie Ödipus, in der er dem jansenistischen Glauben an das Verworfensein des schuldigen Menschen seine Variante vom – obwohl durch Inzest und Vatermord gesetzesbrüchigen – trotzdem tugendhaften Menschen  Ödipus entgegenstellt. Das wurde ihm von seinen Gegnern sogleich als irreligiös angekreidet. Voltaire wendet sich gegen diesen grausamen und despotischen Gott, Oedipe wurde geschrieben, um dieses Gottesbild zu bekämpfen. Ödipus hat keine Schuldgefühle, ganz im Gegenteil klagt er den grausamen Gott und seine Priester selbst an. Das Stück ist insofern eine Antitragödie mit stark antiklerikaler Tendenz.

Ab 1722 war Milord Bolingbroke, der sich im frz. Exil befindliche Anführer der engl. Torrys, ein überzeugter Atheist, eine Art geistiger Mentor des jungen Voltaire. Außerdem hatte Bayle einen großen Einfluss auf ihn, dessen Dictionnaire bereits 1715 in Pars zirkulierte.
Voltaires vehement antichristliche Gedicht Epitre à Uranie enthält auch Verse, in denen V. Gott zu suchen behauptet, der sich aber nicht zeige. Pomeau interpretiert diese Suche nach Pascal: Wer Gott sucht, hat ihn schon gefunden 114). Sein Deismus sei – vor dem englischen Exil, wenig originell, ohne weit verbreitet gewesen im Adel und in der Großbourgeoisie –  am Ende eher eine Adaption der Ideen aus dem Temple-Kreis, nicht jedoch der Atheisten um das Café Procope oder den von ihm frequentierten Salon de Maisons.