Kleve – Reisebericht

Der Reisebericht Voltaires an seine Nichte, Madame Denis, vom 9.Juli 1750, den er allerdings erst im Nachhinein (1753-1754), also nach dem Bruch seiner Freundschaft mit Friedrich, verfasst hat, ist fast eine Liebeserklärung an Kleve, reizvoll genug, um die Orte, von denen er in seinem Bericht erzählt, in ihrer heutigen Gestalt zu zeigen. Wir versuchen sie mit unseren Photos aus dem Jahr 2010) zu zeigen (Übersetzung: Rainer Neuhaus, Voltaire-Stiftung)

Ich bin in Kleve angekommen in der Erwartung, daß ich dort die Relaispferde vorfinden würde, die alle Verwaltungsstellen auf Befehl des Königs von Preussen[1] zur Verfügung derer halten, die nach Sanssouci kommen, um dort bei demjenigen zu philosophieren, den ich den Salomon des Nordens genannt habe, welchen dieser reiche Salomon die Gunst gewährt, auf seine Kosten zu reisen. Aber der Befehl des Königs von Preussen war in Wesel bei einem Mann hängen geblieben, der ihn entgegengenommen hatte wie die Spanier die Bullen des Papstes, nämlich mit dem tiefsten Respekt, aber ohne irgendeine Tat folgen zu lassen. Ich habe mich also einige Tage auf dem Schloß jener Prinzessin aufgehalten, die durch Madame de Lafayette[2] so berühmt geworden ist,

Schwanenburg

Doch der Heldin und des Herzogs von Nemours
gar verliebtes Spiel in Kleve kennt man nicht
dies hier ist, ich sag’s frei Euch ins Gesicht
nicht das Land der Romane noch des Amor.

Das ist schade, denn die Gegend scheint wie geschaffen für Prinzessinnen. Hier liegt einer der schönsten von der Natur geschaffenen Orte, dessen Reize die Kunst noch erhöht hat. Seine schöne Aussicht ist der von Meudon[3] überlegen. Das Gelände ist angelegt wie die Champs Elysees und der Bois de Boulogne, Baumalleen bedecken den sanft abfallenden Hügel.

Baumalleen Voltaireweg

Das Wasser aus diesem Hügel wird von einem großen Becken aufgenommen, in dessen Mitte sich eine Statue der Minerva erhebt. Das Wasser dieses ersten Beckens empfängt ein zweites, das es einem dritten übergibt.

Amphitheater
Minerva

Den Abschluß bildet am Fuß des Hügels ein Wasserfall, der im Halbrund einer großen Grotte eingerichtet ist. Sein Wasser ergießt sich in einen Kanal, der eine weite Ebene bewässert und sich dann mit einem Rheinarm verbindet. 

Cascade
Cascade2

Mademoiselle de Scuderi und la Calprenède[4] hätten mit dieser Beschreibung einen ganzen Band ihrer Romane gefüllt. Aber ich als Geschichtsschreiber sage euch nur, daß ein gewisser Prinz Mauritz von Nassau[5], zu seinen Lebzeiten Gouverneur dieser schönen Einsiedelei, fast alle diese Wunder schuf. Er hat sich mitten im Wald bestatten lassen in einem monsterhaften eisernen Grabmal, umgeben von den allerprimtivsten Basreliefs aus der Zeit der Dekadenz des römischen Imperiums und von einigen noch plumperen gotischen Gebäuden. Aber für jene tiefsinnigen Geister, die beim Anblick jedes schlecht behauenen Steins in Ekstase geraten, sofern er nur aus der Antike und zweitausend Jahre alt ist, bedeutet das Ganze sicher etwas äußerst Wertvolles.

Grab Mauritz
Das Grabmal von Mauritz, wie es heute aussieht – von den Basreliefs ist nicht viel übrig

Ein anderes antikes Monument ist der Rest einer von den Römern angelegten, gepflasterten Fernstraße, die nach Frankfurt, Wien und Konstantinopel führte. Das heilige römische Reich hat, seit es auf Deutschland übergegangen ist, ein wenig von seiner Pracht verloren. Man bleibt im Dreck stecken im erhabenen Germanien von heute, sogar zur Sommerzeit. Von allen modernen Nationen sind Frankreich und das kleine Land der Belgier die einzigen, deren Wege der Antike würdig sind. Wir können uns rühmen, die alten Römer vor allem an Kneipen zu übertreffen. Und es gibt noch einige Punkte, in denen wir es sehr wohl mit ihnen aufnehmen können. Aber was schließlich die unvergänglichen, nützlichen und großartigen Monumente angeht, welches Volk kommt an sie heran? Welcher Monarch errichtet in seinem Königreich, was in Nîmes und in Arles ein Prokonsul geschaffen hat.

Vollendet im Kleinen, erhaben im Schmuck,
Große Erfinder von Nichtigkeiten, spielen wir die Eifersüchtigen.
Erheben wir unseren Geist zu der erhabenen Höhe
der stolzen Kinder des Romulus:
Sie taten hundert Mal mehr für die besiegten Völker,
als wir für uns selbst.

schwanenturm

 Ungeachtet der Schönheit von Kleves Lage, ungeachtet der Römerstraße, und trotz des Turms, von dem man sagt, er sei von Julius Cäsar oder zum wenigsten von Germanicus errichtet worden, trotz der Inschriften einer 26 ten Legion, die hier im Winterquartier war, trotz der schönen Alleen, die von Mauritz von Nassau gepflanzt sind, trotz seines großen eisernen Grabmals und schließlich trotz des ausgezeichneten Mineralwassers, das erst vor kurzer Zeit hier entdeckt worden ist[6], gibt es keinen nennenswerten Besucherzustrom in Kleve, obwohl das Wasser hier ebenso gut ist. wie das von Spaa und Forges, man kann die kleinen Eisenatome an keinem schöneren Ort hinunterschlürfen als hier. Aber es genügt nicht, wie Ihr wißt, daß man Verdienste hat, um auch Zulauf zu haben, Zwar findet sich hier das Nützliche und das Angenehme vereint; aber dieser köstliche Fleck wird nur von einigen Holländern frequentiert, die von der Nachbarschaft und dem niedrigen Preis der Lebensmittel und der Häuser angezogen werden und hierher kommen, um zu bewundern und zu trinken. Zu meiner großen Genugtuung habe ich hier einen berühmten holländischen Poeten wiedergesehen, der uns die Ehre hat widerfahren lassen, unsere guten oder auch schlechten Tragödien elegant ins Batavische, und zwar Vers für Vers, zu übersetzen, Vielleicht wird der Tag kommen, an dem wir darauf angewiesen sein werden, die Tragödien aus Amsterdam zu übersetzen. Jedes Volk zu seiner Zeit. Die römischen Damen, die ihre Liebhaber im Theater von Pompeji beäugten, ahnten, nicht, daß man eines Tages bei den Galliern in einem kleinen Weiler mit Namen Lutetia bessere Theaterstücke aufführen würde als in Rom, Der Befehl des Königs für die Relais-Stationen ist endlich angekommen. Damit enden meine zauberhaften Tage bei der Prinzessin von Kleve und ich breche auf nach Berlin.


[1] Damals durfte man nur mit besonderem Erlaubnisschein des Königs weiterreisen.

[2] La Princesse de Clèves von Marie Madelaine de Lafayette ist ein 1678 erschienener Roman, den Voltaire wegen seiner Abwendung von hölzerner höfischer Attitude und der Hinwendung zu wirklichen menschlichen Empfindungen schätzte. Zu diesem Roman (mit Bibliographie): Mme. De Lafayette, Die Prinzessin von Kleve, Frankfurt am Main: Rowohltverlag 1958, 173.S.

[3] Schloß Meudon liegt im Südwesten von Paris und war berühmt für seiner Fernsicht.

[4] Mme de Scudery (1607-1701) Autorin des 17. Jahrhunderts, die Voltaire wegen ihres gestelzten Stils wenig schätzte. Ihr Hauptwerk, Clélie, histoire romaine, umfasst zehn (!) Bände. Ähnlich: La Calprenède.

[5] Johann Mauritz von Nassau-Siegen (1604 – 1679) war in Kleve preussischer Statthalter seit 1647 und hat dort die bedeutende Bauwerke und Gartenanlagen initiiert. Als langjähriger Gouverneur der Niederländisch-Westindischen Kompagnie in Brasilien hatte er den Niederlanden (gegen Portugal) in Brasilien große Gebiete erobert, deshalb wird er auch der Brasilianer genannt. Er förderte in seinem Herrschaftbereich, ausgehend von Recife,  die Zuckerwirtschaft auf Grundlage der Sklavenarbeit.

[6] Schon 1742 hatte man am Springenberg eine eisen- und virtiolhaltige Mineralquelle entdeckt, aber erst 1752 begann ihr Entdecker, Dr. Schütte, die Heilkraft des Wassers zu loben und bekannt zu machen.