Dictionnaire philosophique portatif 1764

Das philosophische Wörterbuch ist Voltaires Kampfansage an die christliche Religion und ihre Kirche, es ist die Schrift, in der man Voltaires lebendige Art zu denken am direktesten erleben kann. 

Philosophisches Taschenwörterbuch
Umschlagseite der Reclamausgabe (2020).

Stets die Fragestellung auf Beobachtung und unmittelbare Erfahrung beziehend, daraus zu erfrischend moralinfreien Schlussfolgerungen kommend und wo es geht, die herrschende Ideologie demaskierend, sind viele Artikel des philosophischen Wörterbuches noch so aktuell wie vor 250 Jahren: über die Liebe, die Schönheit, den Fanatismus, die Toleranz, die Eigenliebe und zahlreiche andere Themen. Das Buch wurde noch im Erscheinungsjahr in Genf und am 19.3.1765 in Paris verbrannt.
Wir haben die Erstausgabe, erstmals vollständig ins Deutsche übersetzt, bei Reclam 2020 herausgegeben. Zu den Artikeln dieser Ausgabe bieten wir hier (siehe Tabelle) ergänzende Informationen. Außerdem haben wir – zunächst exemplarisch mit einigen Artikeln – damit begonnen, zum Philosophischen Taschenwörterbuch ein Diskussionsforum aufzubauen (unter www.traumdenken.de).

Inhalt des Dictionnaire portatif von 1764.

Bei hellgelb hinterlegten Stichwörtern kann man sich eine Inhaltsangabe und den französischen Originaltext anzeigen lassen. Bei hellrot hinterlegten Stichwörtern bieten wir zusätzlich ausführliche Kommentare zur Reclamausgabe von 2020 (deutsche Ausgabe) an. Falls es zu dem Artikel auch noch ein Diskussionsforum gibt, ist der Hintergrund hellgrün:

A B C D G L S
Abraham Baptême (Taufe) Caractère (Charakter) Destin (Schicksal) Gloire (Ehre) Luxe (Luxus) Salomon
Âme (Seele) Beau, beauté (Schön, Schönheit) Catéchisme chinois (Chinesischer Katechismus) Dieu (Gott) Grâce (Gnade) M Songes (Traumbild)
Amitié
(Freundschaft)
Bêtes (Tiere) Catéchisme du curé (Katechismus des Landpfarrers) Guerre (Krieg) Matière (Materie) Superstition (Aberglaube)
Amour (Liebe) Bien,souverain bien (Das höchste
Gut)
Catéchisme du japonais (Katechismus des Japaners)

E

H

Méchant (Böse)

T

Amour nommé socratique
(Sokratische Liebe, Homosexualität)

Bien, tout est bien (Alles ist
gut)
Certain, certitude (Gewißheit) Égalité (Gleichheit) Histoire de rois juifs (Geschichte der jüdischen Könige) Messie (Messias) Tolérance
Amour propre (Eigenliebe) Bornes de l’esprit humain
(Grenzen des menschlichen Geistes)
Chaine des êtres crées (Kette der geschaffenen Lebewesen) Enfer (Hölle)

I

Métamorphose, Métempsychose (Verwandlung, Seelenwanderung) Tirannie
(Tyrannei)
Ange (Engel)   Chaine des événements (Kette der Ereignisse)

États, Gouvernements (Staatsformen)

Idole
(Götzenbild)
Miracles (Wunder)

V

Anthropohages (Menschenfresser)   De la Chine
(Über China)
D’Ézéchiel (Über Hesekiel) Inondation (Überflutung) Moïse (Mose) Vertu (Tugend)
Apis und Ägypten   Christianisme

F

J

P

 
Apocalypse   Ciel des anciens
(Der Himmel in der Antike)
Fables (Fabeln) Jephté (Jephta) Patrie (Vaterland)  
Athée, athéisme (Atheismus)   Circoncision (Beschneidung) Fanatisme Joseph Pierre (Petrus)  
    Convulsions (Zuckungen) Faussetés des vertus humaines
(Die Falschheit der menschlichen Tugenden)
L Préjugés (Vorurteile)  
    Corps (Körper)
Fin, causes finales
(Zweckursachen)
De la Liberté (Über die Freiheit)

R

 
    Critique (Kritik) Folie (Verücktheit) Des Lois (Über die Gesetze) Religion  
      Fraude (Betrug) Lois civiles et ecclésiastiques
(Zivile und kirchliche Gesetze)
Résurrection (Auferstehung)  

Philosophisches Taschenwörterbuch:
Amour – Liebe (Kommentare)

Hintergrund:
Der Artikel ist ein Meisterstück Voltaires: Ohne das Christentum auch nur zu erwähnen, grenzt er sich vom ersten bis zum letzten Satz von diesem ab. Will man über die Liebe sprechen, muss man sich zunächst mit der ‚Amour physique“, mit den physischen, physikalischen, körperlichen Gegebenheiten der Liebe, also der Sexualität befassen. Kein Hauch von der ‚platonischen Liebe’, wie sie in das Christentum einging und dort zur höchsten Gottesliebe verfeinert (’sublimiert’) herauskam. Auch die Geschlechtskrankheiten, von der Kirche so oft als ‚Strafe Gottes’ willkommen geheißen, sprechen für Voltaire eher für einen Konstruktionsfehler in dieser besten aller möglichen Welten.

Die folgenden Kommentare zu einzelnen Textstellen beziehen sich mit ihren Seitenangaben auf die von uns bei Reclam herausgegebene Ausgabe des Philosophischen Taschenwörterbuchs (2020):

Anmerkung 1 (Seite 30, „Die Liebe brächte noch ein Land von Atheisten dahin, das Göttliche anzubeten“.): Voltaire zitiert mit dem Grafen von Rochester (1647 – 1680) eine sehr umstrittene Persönlichkeit des 17. Jahrhunderts. John Wilmot, Graf von Rochester, war hochtalentierter Poet, Autor zahlreicher erotischer Gedichte und einflussreicher Vertrauter von Charles II. Er starb wahrscheinlich an der Syphilis. Seine Biographie ist in einem Film von J. Malkovitch zu sehen (The Libertine). Das Zitat Voltaires geht auf das Gedicht: „A letter from Artemesia in the town to Chloe in the country“ zurück und lautet im Original: Love, the most generous passion of the mind,
The softest refuge innocence can find,
The safe director of unguided youth,
Fraught with kind wishes, and secured by truth;
That cordial drop heaven in our cup has thrown
To make the nauseous draught of life go down;
On which one only blessing; God might raise
In lands of atheists, subsidies of praise,
For none did e’er so dull and stupid prove
But felt a god, and blessed his power in love –
This only joy for which poor we were made
Is grown, like play, to be an arrant trade
nach: http://www.ealasaid.com/fan/rochester/main.html

Anmerkung 2 (S. 31, 2. Absatz: Phryne, Lais, Flora, Messalina):
Syphillis ist gerade keine ‚Gottestrafe‘, sonst hätte sie die vier genannten für ihren ausschweifenden Lebenswandel die Krankheit ja unbedingt befallen:


Phryne, berühmte griechische Prostituierte (Hetäre), aus Thespiä gebürtig, hieß eigentlich Mnesarete und erhielt den Namen Phryne („Kröte“) wegen ihrer Blässe; sie war erst eine arme Kapernhändlerin, gelangte dann aber in Athen, wo sie ihre Reize feilbot, zu außerordentliche Reichtum, so daß sie anbieten konnte, die Mauern Thebens auf eigne Kosten wieder aufzubauen, wenn die Thebaner die Inschrift darauf setzten: „Alexander hat sie zerstört, die Hetäre P. wieder aufgebaut“. Ihrem Reiz konnte angeblich niemand widerstehen. Als Phryne wegen Gottlosigkeit vor Gericht gezogen wurde, enthüllte ihr Verteidiger Hypereides ihren schönen Busen und das beeindruckte die Richter dermaßen, daß sie nicht anders konnten, als Phryne freizusprechen.

Lais, Name zweier wegen ihrer Schönheit bewunderter griechischer Hetären, von denen die ältere, aus Korinth, zur Zeit des Peloponnesischen Kriegs lebte und die Vornehmsten und Reichsten des Staats, sogar Philosophen, wie Aristippos und den Cyniker Diogenes, bezaubert haben soll. Die jüngere L., Tochter der Timandra, der treuen Gefährtin des Alkibiades, geboren zu Hykkara in Sizilien, kam in einem Alter von sieben Jahren nach Korinth, der Sage. nach als Kriegsgefangene. Der Maler Apelles soll sie zur Hetäre herangebildet haben. Später folgte sie einem Hippostratos nach Thessalien, wo sie von Frauen im Heiligtum der Aphrodite gesteinigt worden sein soll.

Flora, die ludi Florales, dieser Göttin der Blumen zu Ehren gefeiert, waren ein fröhliches Fest (28.April – 1.Mai) mit Mimen und lasziven Spielen, bei dem sich die Schauspielerinnen am Ende der Darbietungen entkleideten.

Messalina (25 – 48) heiratete im Alter von 15 Jahren Claudius, der damals bereits 50 Jahre zählte und war eine der begehrtesten Frauen ihrer Zeit. Als sie nach Claudius Krönung im Jahre 41 Kaiserin geworden war, stand der Erfüllung all ihrer zahlreich vorhandenen Begierden nichts mehr im Wege. Und sie strebte danach, nicht eine davon unbefriedigt zu lassen…. (Lit Tacitus TACITE, Annalen, XI, 12, 26-27, 31-32, 37-38 Erich Heller, hrsg. P.C.Tacitus, Annalen, (Sammlung Tusculum), WBG Darmstadt 1982). Siehe zu ihrem Lebenswandel unsere Messalinaseite.

Anmerkung 3 (Seite 31, unten: Francois 1er): Francois I. soll sich die Syphillis von einer Geliebten zugezogen haben, deren Mann, um sich an ihm zu rächen, extra , mit dem Ziel, sich dort anzustecken, Pariser Bordelle besucht haben soll. Er infizierte dann seine Frau, die wiederum den König ansteckte (nach Bayle Dictionnaire, Francois I).

Philosophisches Taschenwörterbuch:
Amour propre – Eigenliebe (Kommentare)

Hintergrund:
Wie könnte das Christentum die Eigenliebe positiv sehen, wenn es jahrhundertlang den Hass auf die Sexualität predigte, die ihm immer ein Teufelswerk war? Wer könnte die Devise befolgen „Liebe Deinen Nächsten wie die Dich selbst“, wenn ihm sein Körper als satanischer Gegner, als Territorium der Angst erscheint? Wem wäre es möglich, sich selbst zu lieben, ohne die Sexualität dabei einzubeziehen? Konsequent und ehrlich, wie er war, lehnte Blaise Pascal, der große Theoretiker des im 18. Jahrhundert einflussreichen Jansenismus, die Eigenliebe komplett ab. Sie führe unweigerlich dazu, dass man seine Unvollkommenheit, seine Laster und Fehler erkenne und dann, durch Eigenliebe zur Heuchelei getrieben, den Schein der Vollkommenheit aufrechtzuerhalten versuche. Aus der Erkenntnis der eigenen Mängel resultiere Selbsthass und Selbstverleugnung: „Der Mensch ist also nichts als Verstellung, Lüge und Heuchelei, sowohl in sich selbst als gegen die anderen“ (Pascal, Gedanken über die Religion…, I. 5, Eitelkeit, Eigenliebe). Ein wahrhaft philosophischer Gedanke!
Voltaire dagegen bekennt sich zu einer Eigenliebe, die für die Genüsse und Freuden des Lebens und sogar für das gute Funktionieren der Gesellschaft die Grundlage darstellt (siehe auch Philosophische Briefe, 25.XI, Bemerkungen über Pascal). Erstaunlich ist, wie Voltaire, Jahrhunderte vor der Psychoanalyse, völlig selbstverständlich erklärt, dass der Kern der Eigenliebe die Sexualität ist, die man genauso wie diese liebt, jedoch verstecken muss.

Die folgenden Kommentare zu einzelnen Textstellen beziehen sich mit ihren Seitenangaben auf die von uns bei Reclam herausgegebene Ausgabe des Philosophischen Taschenwörterbuchs (2020):

Anmerkung 1 (Seite 36, 1. Absatz, „Ein Missionar reiste durch Indien und traf auf einen Fakir“): Voltaire baute die Geschichte in seine kleinen Erzählung: „Lettre d’un Turc sur les fakirs (1750)“ (dt. Bababek und die Fakire, in: Sämtliche Romane, übersetzt v. Ilse Lehmann) ein. Auch dort setzt der Fakir auf eine Entschädigung für seine Leiden im Himmel. Es sei daran erinnert, dass die Selbstgeißelung bei den Jesuiten gängige Praxis war. Der erotische Roman Therèse philosophe des Marquis d’Argens, in dessen Haus Voltaire in Potsdam (dem Marquisat) 1751 eine zeitlang lebte, stellte die Verbindung zwischen der Flagellation und der masochistischen Lustbefriedigung, einer sehr irdischen Entschädigung also, explizit her. In Voltaires Erzählung befriedigt den Fakir stattdessen die öffentliche Anerkennung. Was sind Viele bereit zu erdulden, um solcher Belohnungen willen!

Anmerkung 2 (S. 36, 2. Absatz, „Die Eigenliebe ist die Grundlage all unserer Empfindungen und Handlungen“):
An dieser Stelle weist die Voltaire Foundation, Oxford, darauf hin, dass das 18. Jahrhundert mit Voltaire an erster Stelle (und beginnend mit Pope’s Essay on man) die Eigenliebe rehabilitierte. Gegenüber welcher Tradition die Eigenliebe rehabilitiert werden musste, sagen die Voltaire-Spezialisten – wie an vielen anderen Stellen – leider nicht.

Philosophisches Taschenwörterbuch:
Amour socratique – Sokratische Liebe /Homosexualität – (Kommentare)

Hintergrund:
‚Sokratische‘ Liebe heißt die Homosexualität hier, weil es Sokrates war, der nach Platon in seiner Unterhaltung mit dem jungen Phaidros die Liebe zu diesem rechtfertigt und ebenso in ‚Das Bankett‘ seine Zuneigung zu Alkibiades.
Im 18. Jahrhundert war Homosexualität, noch ganz unter der Fuchtel des Christentums, ein Kapitalverbrechen und wurde, Gott zu gefallen, mit dem Tode bestraft. Jeffry Merrick (Sodomites, Pederasts, and tribades in eigtheen-century France, Pensylvania 2019) schreibt dazu: „In Frankreich, wie in anderen Ländern, reglementierten Kirche und Staat die Sexualität und kriminalisierten nichtfortpflanzungsbezogenen Praktiken – Masturbation, Oral- und Analverkehr innerhalb der Ehe, gleichgeschlechtliche Beziehungen, Verkehr mit Tieren“. Hier zwei Beispielprozesse, die größere Bekanntheit erlangten:
o 1726 entzog sich Nattier, ein französischer Maler, der drohenden Verbrennung wegen Homosexualität, indem er den Freitod wählte; während Benjamin Deschauffours, ebenfalls verurteilt, wirklich auf dem Scheiterhaufen endete (wobei die Anklage Kinderhandel und –schänderei beinhaltete).
o 1750 wurden Jean Diot und Bron Lenoir im letzten Todesurteil wegen Homosexualität in Frankreich auf dem Scheiterhaufen verbrannt.

Wenn Voltaire die Homosexualität auch nicht verteidigte und den Missbrauch von Minderjährigen (die Knabenliebe) verurteilte, war es im Jahr 1725 doch vor allem seinem Engagement zu verdanken, dass ein gewisser Abbé Desfontaines, ein Schriftsteller, den man wegen Homosexualität im Bicêtre, einem ‚Spezialgefängnis für Homosexuelle’, inhaftierte, ohne weitere Folgen aus dem Gefängnis entlassen wurde. In folgenden Werken Voltaires kommen homosexuelle Handlungen vor:
o in Candide, wo Kunegundes Bruder von Bulgaren (d.i.: Preussen) vergewaltigt wird und dann von Jesuiten missbraucht,
o in seiner biographischen Schrift, wo er Friedrich II den Mißbrauch der ihm untergebenen jungen Soldaten anlastet.

Die folgenden Kommentare zu einzelnen Textstellen beziehen sich mit ihren Seitenangaben auf die von uns bei Reclam herausgegebene Ausgabe des Philosophischen Taschenwörterbuchs (2020):

Anmerkung 1 (Seite 32, letzter Absatz: „Oft gleicht ein Knabe mit der Frische seines Teints….einem schönen Mädchen. …und wenn mit dem Alter diese Ähnlichkeit verschwunden ist, hat der Fehlgriff ein Ende.“): Sokrates sagt bei Platon das Gegenteil, die Knabenliebe sei die erste Stufe zur Erkenntnis des wahrhaft Schönen, Göttlichen, Sittlichen (Symposium, Die Rede des Sokrates, 209 e 5 ff).

Anmerkung 2 (Seite 34, 1. Absatz Plutarch, Dialog über die Liebe):
Im Kapitel 4 sagt Protogenius: „So ist der einzige echtbürtige Eros der Knaben-Eros“ und der weibliche Eros ist „ein Bastard, der gleichsam einem niederen Stand gehört“. Ihm erwidert Daphnaios, dass die Knabenliebe keinesfalls so rein sei, wie Protogenius behaupte, „Philosophie und Selbstzucht zu pflegen – nach außen, um der guten Sitten willen, aber nachts dann, in aller Stille, erntet er süße Früchte, wenn der Wächter ist fern.“ Und umgekehrt verteidigt er den „ehelichen Eros, der dabei mitwirkt, dem sterblichen Geschlecht Unsterblichkeit zu verleihen“.

Anmerkung 3 (Seite 34, 2. Absatz, „Sextus Empiricus [behauptet], die Knabenliebe sei von den Gesetzen Persiens empfohlen worden“):
Voltaire überspitzt die Aussage. Im Grundriss der pyrrhonischen Skepsis, I,152. Dort sagt Sextus Empiricus nur, dass bei den Persern die Männerliebe Sitte ist.

Anmerkung 4 (Seite 35, 2. Absatz, „Kaiser Phillipus ..hat alle kleinen Jungen, die diesem Metier nachgingen [Lustknaben], aus Rom verjagt“):
Die Information stammt von Aelius Lampridius Alexandri Severi vita (dt. Die Kaisergeschichte der sechs Schriftsteller Aelius Spartianus, Julius Capitolinus, Aelius Lampridius, Vulcatius Gallicanus, Trebellius Pollio, Flavius Vopiscu). Dort schreibt er, dass Alexander Severus (208 – 235) alles mögliche tat, um die sexuellen Ausschweifungen in Rom in den Griff zu bekommen. Zum Beispiel ließ er die Gelder, die von den Lustknaben als Abgabe zu zahlen waren, öffentlichen Einrichtungen zukommen. Erst Phillipus Arabs (204 – 249) verbot die Lustknaben ganz, was aber dazu führte, so Aelius, dass sich das Laster ins Private verlagerte.

Philosophisches Taschenwörterbuch:
Vertu – Tugend (Kommentare)

Hintergund:
Die Beschäftigung mit der Frage, was Tugend oder tugendhaftes Leben sei, war zur Zeit Voltaires noch sehr stark von der kirchlich theologischen Tugendlehre durchdrungen, die jahrhunderte lang gepredigt und in die Köpfe gehämmert worden war. Die Werke der christlichen Tugendlehre würden meterlange Buchregale füllen, angeführt von Thomas von Aquin (1225-1274), der die christliche Tugendlehre in ein System goss. Auf diese bezieht sich Voltaire, ihren außerweltlichen Tugenden ‚Glaube an Gott, Hoffnung auf Gott, Liebe zu Gott’ setzt er die weltliche Wohltätigkeit entgegen, ein ganz und gar diesseitiger, gesellschaftlicher Begriff, den die große französische Revolution mit ‚fraternité’, ‚Brüderlichkeit’ übersetzte und den wir heute vielleicht am ehesten in den Begriffen ‚Hilfsbereitschaft, Solidarität’ wiederfinden. Aus dem Sprachgebrauch ist der Begriff ‚Tugend’ im Verlauf des 20. Jahrhunderts mit dem Niedergang des religiösen Einflusses fast vollständig verschwunden. Voltaire und seinen Mitstreitern, die ganz am Anfang dieser Entwicklung standen, haben wir es zu verdanken, dass das Individuum und sein Glücksanspruch, wohl eingebettet in die Gesellschaft, vom religiösen Jenseitsversprechen befreit wurde. Sein Artikel Vertu ist dafür ein erstrangiges Zeugnis und entsprechend heftig waren die Reaktionen seiner Gegner (s.u., Anm 4).

Die folgenden Kommentare zu einzelnen Textstellen beziehen sich mit ihren Seitenangaben auf die von uns bei Reclam herausgegebene Ausgabe des Philosophischen Taschenwörterbuchs (2020)):

Anmerkung 1 (Seite 377 unten: „Dass die Nächstenliebe schwerer wiegt als Glaube und Hoffnung..“):
In einem Brief (13.Februar.1768) an den Grafen Adam Lewenhaupt, einem in Frankreich dienenden Militär aus dem alten schwedischen Adelsgeschlecht der von Lewenhaupt, schreibt Voltaire: „Ich werde mit den drei theologischen Kardinaltugenden sterben, die mich trösten: Den Glauben den ich an die menschliche Vernunft habe, die beginnt, sich in der Welt zu entwickeln; die Hoffnung, dass geschickte und weise Minister endlich gleichermaßen lächerliche wie gefährliche Gewohnheiten zerstören; und die Mildtätigkeit (d.i. die Caritas), die mich über das Los meines Nächsten seufzen macht, seine Ketten beklagen und seine Befreiung erhoffen läßt“. Die Stelle zeigt sehr deutlich, wie Voltaire die christlichen Tugenden Glaube-Hoffnung- Liebe umdreht um sie ‚vom Kopf auf die Füße zu stellen’.
Warum damals ein schwedischer Adliger in französischen Diensten stand und wie damals wie heute imperialistische Politik funktionierte, kann, wer Französisch versteht, in der Zeitschrift für Wirtschafts- und Sozialgeschichte nachlesen.

Anmerkung 2 (Seite 378, Ergänzung zu Fußnote a, „Der heilige Bruno“):
Der heilige Bruno (1030 in Köln – 1101 in Kalabrien) gründete 1084 mit 6 seiner Begleiter den Karthäuserorden, der seine Mitglieder – extrem asketisch -, zum Fasten, Schweigen, zum Gebet und zur Einsamkeit verpflichtete. Sein Leichnam soll zahlreiche Wunder bewirkt haben, weshalb man ihn als Heiligen verehrte. Da er am 6.Oktober verstorben ist, sagt die Bauernregel: „Sankt Bruno, der Kartäuser, lässt Fliegen in die Häuser“.

Anmerkung 3 (Seite 378, 2. Absatz, „..an jedem Tag tugenhaft waren“):
Nonnotte, ein kaltholischer Theologe, der mehrere Bücher zur Bekämpfung Voltaires verfasste, schrieb in seinem Dictionnaire philosophique de la religion zu Voltaires Aussage über Nero und Alexander VI (wobei er wohlüberlegt den Papst nicht erwähnte): „Wie soll man einen Philosophen ansehen, der derartige Prinzipien aufstellt? Wie einen alten Verrückten.“

Anmerkung 4 (Seite 379, 2. Absatz, „Mein Gott, gib uns oft solche Schelme!“)
Vor allem dieser Artikel des philosophischen Wörterbuchs erregte bei Voltaires Gegnern größte Entrüstung. Gerade der letzte Satz zeige seine Niedertracht (Rochefort); zur Wohltätigkeit müsse der Gottesglaube kommen, sonst sei sie wertlos, giftete Chaudon, Paulian hetzte: „In dem Artikel Vertu hat der Autor des Dictionnaire die größten Niederträchtigkeiten verbreitet“. Der unsägliche Nonnotte kopierte den ganzen Artikel und verfasste eine Gegenschrift. Darin denunziert er die Tugend der Wohltätigkeit, in dem er sie mit einer Prostituierten vergleicht, die den einen ihre Wohltaten verleihe, und den anderen ihre Bedürfnisse befriedige.

Philosophisches Taschenwörterbuch:
Vertu – Tugend (Inhaltsangabe)

 




Tugend ist Wohltätigkeit gegenüber dem Nächsten. Die in theologischen Katalogen aufgeführten Tugenden braucht man nicht, deren Kardinaltugenden ebenso wenig.
Für uns ist nur „wirklich gut, was zum Wohl der Gesellschaft beiträgt“. Kann dann ein Einsiedler tugendhaft sein? Nein, nicht so lange er in der Einsamkeit für sich lebt.

Philosophisches Taschenwörterbuch:
Superstition – Aberglaube (Inhaltsangabe)

 




Aberglaube ist alles, was über die Anbetung eines höchsten Wesens und eine von Innen kommende Bereitschaft, die ‚ewigen Gebote’ zu befolgen, hinausgeht. Insbesondere verwerflich ist:
o die Vergebung von Verbrechen durch Priester im Namen Gottes,
o die Erhebung von Menschen zu Göttern,
o Kulte für untätige, schmutzige Bettler zu stiften.

Philosophisches Taschenwörterbuch:
Salomon (Inhaltsangabe)

 




Der Artikel ist eine Kritik jener Bücher der Bibel, die Salomon zugeschrieben werden. Es geht einmal, wie immer bei Voltaire, um die Glaubhaftigkeit der Erzählung als historisches Dokument. Kann es sein, dass Salomon so sagenhaft reich war (dass er tausend Frauen, hunderttausende Pferde und Kutschen und mehr Geld hatte, als es damals auf der ganzen Welt gab)? Kann Salomon überhaupt der Verfasser eines Textes gewesen sein, der so in sexuellen Phantasien schwelgt? Man hat auch behauptet, das Hohelied sei eine Allegorie auf die Hochzeit von Jesus mit der Kirche. Aber was bedeutet dann der Lobgesang auf die Schönheit der Tochter und welche Rolle spielen die (noch nicht vorhandenen) Brüste der kleinen Schwester, auf die man bauen solle?

Philosophisches Taschenwörterbuch:
Religion (Inhaltsangabe)

 




Der Artikel Religion gehört zu den zentralen Artikeln des Philosophischen Taschenwörterbuchs – und war neben dem ‚Christentum’ für Voltaire sicher auch der gefährlichste. In 7 Abschnitte (Fragen) aufgeteilt, kritisiert er sehr vorsichtig und allgemein das Christentum:
1. Ob der Glaube an ein Jenseits und die Auferstehung der Seele, also deren Unsterblichkeit, und die Bestrafung der Sünden für eine Religion maßgebend ist.
2. Ob der Glaube an mehrer Götter dem Glauben an einen einzigen vorherging, oder ob es umgekehrt war.
3. Ob das göttliche Wesen aus zwei (oder mehreren) Naturen besteht, ob der Teufel, die Dämonen, notwendig dazu gehören, oder nicht.
4. Wunder, Prophezeiungen und der Teufel, die zur Gründungsphase der Religion gehören, sind später verschwunden, statt Gott allein zu gehorchen, dient man ihm jetzt, indem man den weltlichen Gesetzen gehorcht.
5. Welche Religion ist die beste?
6. Ist es richtig, den Religionen der Antike alles schlechte zuzuschreiben und ist die aktuelle Religion von diesen wirklich so sehr verschieden?
7. Ist die Unduldsamkeit, mit der andere von einer fremden Religion überzeugt werden sollen, nicht das beste Mittel, um sie sich zu Feinden zu machen?

Philosophisches Taschenwörterbuch:
Résurrection – Auferstehung (Inhaltsangabe)

 




Die Frage, ob es eine Auferstehung nach dem Tode gibt und wie sie funktioniert, hat immer schon für sehr viel Streit und Verwirrung gesorgt: Ob der Körper aufersteht; ob es die Seele ist; wo dann die Seele im Körper sitzt; wie man ihn bestatten muss, damit sie heraus kann; wer auferstehen wird und an welchem Tag. Schließlich „hat man hat immer darüber gestritten, was wir waren, was wir sind und was wir sein werden“.