Philosophisches Taschenwörterbuch: Catéchisme du Japonais – Katechismus des Japaners (Kommentare)

Über Geschmack kann man bekanntlich nicht streiten, besser: streiten schon, aber nicht entscheiden, denn er ist subjektiv und jede subjektive Vorliebe, so seltsam sie auch wäre, hat ihre Berechtigung. Der eine mag Kaviar, der andere verabscheut ihn. Auch religiöse Vorlieben sind rein subjektiv, der eine verehrt Allah, der andere Jesus, der dritte Huizilopochtli. Versteckt hinter einem Streit um die beste Küche demonstriert Voltaire, wie absurd Streitigkeiten um die beste Religion sind und wie gefährlich es ist, wenn nur eine Religion das Sagen hat. Besser, es gibt zwölf davon und einen robusten Staat, der das Toleranzgebot auf seinem Territorium durchsetzt. Wenn man doch schon über den richtigen Geschmack nicht entscheiden kann, wie erst über die Frage nach dem richtigen Gott, den noch niemand sinnlich wahrgenommen hat.

Hintergrund:
A
. England und Frankreich im 18. Jahrhundert:
England war nach dem Sturz nicht nur der katholischen Kirche (1534 d. Heinrich VIII und 1648 d. Cromwell), sondern auch aufgrund der Beschneidung der königlichen Macht durch ein starkes, aufstrebendes Bürgertum – der Vorgang ist unter dem Begriff der Glorious Revolution (1688/89) bekannt -, auf dem Weg zur führenden Weltmacht. Die Befreiung der Wissenschaft vor religiöser Bevormundung führte zu bedeutenden Entdeckungen und zur kräftigen Steigerung der Produktivität durch den daraus resultierenden technischen Fortschritt, siehe (Der Japaner), S. 141:
„…unsere Reichtümer nehmen zu, und wir haben zweihundert Liniendschunken, und sind der Schrecken unserer Nachbarn.“
Voltaire hatte die Vorzüge Englands während seines Exils 1726-1728 kennen- und schätzen gelernt. In seinen Philosophischen Briefen, die in Frankreich umgehend verboten wurden, berichtet er von den dortigen Entwicklungen. In Frankreich dagegen war die starke absolutistische Zentralmacht, weil sie von der katholischen Kirche unterstützt und vom Bürgertum verwaltet wurde, in der Lage, die alten, regional verstreuten Kräfte des Feudalismus niederzuhalten. Die schwankenden Kräfteverhältnisse zwischen den einzelnen Fraktionen bewirkte ein ständiges Auf- und Ab der religiösen und geistigen Unterdrückung im Land und führte dazu, dass Frankreich gegenüber England ins Hintertreffen geriet.

B. Veröffentlichungen im 18. Jahrhundert
– Voltaire, Lettres philosophiques von 1733, in denen er die gesellschaftlich intellektuelle Lage in England beschreibt.
– Voltaire, Essai sur les moeurs, Cramer: Genf, 1775. Im Kapitel 179 -182 behandelt Voltaire die Geschichte Englands seit Cromwell und bis Karl II.
– Rapin-Thoyras, Paul de (1661 – 1725), Jurist, Verfasser der ersten französischsprachigen Geschichte Englands, aus hugenottischer Familie. 1685, nach der Aufhebung des Edikts von Nantes, ging er ins engl. Exil. In seinem teils posthum erschienen Lebenswerk Histoire d’Angleterre, La Haye: de Rogissart, 1724 – 1735, 12 Bd., beschreibt er die unglaubliche Machtfülle der Katholika in England, die es ihr erlaubte, das Land buchstäblich auszusaugen. Das Werk wurde ins Deutsche (1758 – 1760) und ins Englische (1789) übersetzt.

Die folgenden Anmerkungen zu einzelnen Textstellen beziehen sich mit ihren Seitenangaben auf die von uns bei Reclam herausgegebene Ausgabe des Philosophischen Taschenwörterbuchs (2020):

Anmerkung 1: S. 137. Der Japaner: „Ganz und gar nicht, wir haben uns während nahezu zwei Jahrhunderten verfolgt..“). Das heißt, von Heinrich VIII 1534 bis 1688/9, der Glorious Revolution. Erst seitdem kehrte in England in religiösen Fragen relative Ruhe ein.

Anmerkung 2: (S.139 Der Japaner: „Die Quäker waren niemals von der Raserei besessen“). In Voltaires Philosophischen Briefen sind die ersten vier Kapitel den Quäkern gewidmet. Er lernte in London deren Religion kennen und verschaffte sich selbst ein Bild dieser nicht verfolgerischen Religionsgemeinschaft. Sie waren es, so lange sie selbst verfolgt wurden (1662 verboten, 1689 durch den Toleration Act wieder erlaubt) und blieben es sogar als dominante Religion in Pennsylvania.

Anmerkung 3: (S.140 Der Inder: „Es muss doch eine Küche geben, die die vorherrschende ist, nämlich die des Königs“). Voltaire stellt hier das Prinzip der englischen Staatskirche vor, der die Verfassung ein Ämterpatronat zugesteht, wenn sie sich nur für das vom Bürgertum erzwungene System der konstitutionellen Monarchie engagierte. Das war auch im 18. Jahrhundert noch ihre wichtigste Aufgabe, worin sie sich nicht von der katholischen Staatskirche in Frankreich unterschied, nur dass es sich dort um den Absolutismus handelte, aus dessen Vormundschaft sich das Bürgertum vor der Revolution noch nicht hatte befreien können.

Anmerkung 4: (S.142 Der Inder: „Japan, wo früher…“ ). Das Zitat von Louis Racine lautet im Original:
« L’Angelterre, ou jadis brilla tant de lumière/Recevant aujourd’hui toutes réligions/ N’est plus qu’un triste amas de folles visions » (Poème sur la Grace (1720). Er behauptet also, England würde keine intellektuellen Leistungen mehr hervorbringen, weil es jetzt so viele unterschiedliche Religionen dulde. Voltaire erklärt (der Japaner, ebd.), dass gerade weil es keine religiöse Unterdrückung gibt, die Wissenschaft in England floriert. Newton wäre ohne die größere religiöse Freiheit unmöglich gewesen und auch die technischen Erfindungen, die das Leben erleichtern und den Profit erhöhen, wie z.B. die Strumpfstrickmaschinen, wurden erst auf dem Boden der religiösen Toleranz möglich. Das ist nichts anderes als die Lehre Francis Bacons und John Lockes, nur umgekehrt: Meinen diese, da die Wissenschaft keine Autoritätsbeweise akzeptiert, sondern induktiv und empirisch vorgeht, dass die Kenntnisse über die Natur im Laufe der Zeit zu-, gleichzeitig aber religiöse Vorurteile und Aberglauben abnehmen, erklärt hier Voltaire, dass die Wissenschaft nur dort entsteht, wo die dogmatische geistige Alleinherrschaft der Kirche gebrochen wurde.

Philosophisches Taschenwörterbuch: Catéchisme du curé – Katechismus des Landpfarrers (Kommentare)

Fragt man heute in Polen, wo die katholische Kirche im Volk noch hohes Ansehen genießt und der Klerus nicht wie in Deutschland mit staatlich eingetriebenen Steuergeldern versorgt wird, einen Kleinbauern nach dem örtlichen Priester, hört man, dass er Landwirtschaft betreibe, für alle Feiern der Ansprechpartner sei und gute Arbeit leiste. Er wird als Mensch von eigenem Schlag betrachtet, nicht wie in Deutschland, als Beamter. Ein solcher Dorfpfarrer ist es, den Voltaire hier vorstellt und zwar nicht negativ; was er lehrt, ist vollkommen zweitrangig, denn auf sein Handeln kommt es an. Auf solche Pfarrer konnte auch die Französische Revolution setzen und ein solcher Pfarrer war auch der Abbé Meslier (1664 – 1729), ein Atheist, Seelsorger, Freund und Helfer seiner Gemeinde und Verfasser der ersten atheistischen Schrift (s. Das Testament des Abbé Meslier, Herausgegeben und eingeleitet von Günther Mensching, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1976).

Hintergrund:
A
. Die Organisation der Kirche im 18. Jahrhundert:
Die Land- oder Dorfpfarrer (die Curés) bildeten mit den Vikaren die unterste Stufe der kirchlichen Hierarchie, über ihnen standen Bischofe, Erzbischöfe, Kardinäle. In Frankreich gab es 135 Bistümer und Erzbistümer, 34.658 Pfarreien mit ca. 60.000 Pfarrern/Vikaren. Hinzu kamen noch 60.000 Mönche und 71.000 Weltpriester. Sie machten 1,8% der Bevölkerung aus und besaßen 5-6% des Bodens, die ihnen jährlich 100 Millionen livres einbrachten, dazu kamen 123 Millionen livres aus der Kirchensteuer, dem Zehnten. Die höhere Geistlichkeit rekrutierte ihre Funktionsträger ausschließlich aus dem Adel und bestimmte alleine, wie die Einnahmen an die unteren Ränge weitergegeben wurden. Am wenigsten erhielten die Landpfarrer, am meisten die einflussreichsten Adligen mit den besten Pfründen (oft die großen Städte), eine Quelle dauernder Konflikte. Der Pfarrer war verantwortlich für die Taufen, Eheschließungen und Sterbefälle seiner Gemeinde. Er kontrollierte die öffentliche Erziehung und die Wohltätigkeitsmaßnahmen. Auch die Gemeindeversammlungen waren den Pfarrern unterstellt. Ein weitere wichtige Kontroll-Funktion waren die sogenannten Monitorien, mit dem die Kirche die Bevölkerung zur Beihilfe und Denunziation aufforderte, immer wenn ein Verbrechen begangen wurde.

B. „Der gute Pfarrer“ – Veröffentlichungen
– 1762 erschien Rousseaus Émile und dort im vierten Kapitel „La Profession de foi du vicaire savoyard“ (Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars), also eines Vertreters der untersten hierarchischen Stufe des französischen Klerus, eine entschieden antichristliche Schrift, in der Rousseau die Gleichrangigkeit aller Glaubensrichtungen einfordert. Voltaire veröffentlichte sie – trotz seiner Querelen mit Rousseau – auszugsweise in seinem Sammelband „Récueil nécessaire (Genf 1766)“.
[Le Recueil nécessaire, à Leipzig, 1765, in-8o, contient : 1° Avis de l’éditeur ; 2° Analyse de la religion chrétienne (sous le nom de Dumarsais) ; 3° le Vicaire savoyard, tiré de l’Émile de Rousseau ; 4° Catéchisme de l’Honnête Homme; 5° Sermon des Cinquante; 6° Examen important, par milord Bolingbroke (c’est-à-dire par Voltaire; 8° Dialogue du Douteur et de l’Adorateur; 8° Les dernières paroles d’Épictète à son fils; 9° Idées de La Mothe Le Voyer]
– Voltaire bezieht sich außerdem auf den Abbé de Saint Pierre (1658-1743) und seine Abhandlung Observations politiques sur le célibat des prètres.
– Auch in der Enzyklopädie erschien ein Artikel „Célibat“ der den Argumenten des Abbé de Saint Pierre im wesentlichen folgt.

Lit: Sage, Pierre, Le ‚bon prêtre‘ dans la littérature française d’Adamis de Gaule au Génie due Christianisme, Genève 1951

Die folgenden Anmerkungen zu einzelnen Textstellen beziehen sich mit ihren Seitenangaben auf die von uns bei Reclam herausgegebene Ausgabe des Philosophischen Taschenwörterbuchs (2020):

Anmerkung 1: S. 144, 2. Ariston: „Verdrießt es sie nicht, keine Frau zu haben?“): Die Aufklärer waren allgemein gegen das Zölibat. Die Forderung nach Abschaffung des Zölibats verfolgte das Ziel einer Schwächung der katholischen Kirche durch Verweltlichung. Nicht nur verhindert das Zölibat das Abfließen von Lebensenergie des kirchlichen Personals in weltliche Dinge, sondern sichert der Kirche auch durch die Erbschaften ihrer ehe- und kinderlosen Priester bedeutende Einkommenszuwächse. Da Voltaire für sich selbst eine Verheiratung nie in Betracht zog, könnte es sein, dass diese Verweltlichung sein eigentliches Ziel war. Vielleicht konnte er so auch einige der Volkspriester auf die Seite der Aufklärung ziehen. In dem Artikel Catéchisme Chinois – Chinesischer Katechismus führt er, ebenfalls mit Bezug auf den Abbé de Saint-Pierre, noch die Nützlichkeit, die von den vielen Kindern solcher Priesterehen ausgehen würde, an (s. 5. Gespräch, S. 128/9).

Anmerkung 2 (S.145 Theotimus: „Die Beichte ist eine großartige Sache“): In der Ausgabe des Philosophischen Taschenwörterbuchs von 1765 nahm Voltaire einen kurzen Artikel zur Beichte auf, in dem er es anders sieht. Er weist darauf hin, dass die Beichte zunächst als ein Mittel der Kontrolle und Überwachung in der Kirche selbst eingeführt wurde. Erst später wurde sie allgemein. Weil sich durch die Beichte jeder Verbrecher Erleichterung verschafft, trägt sie eher zu deren Vermehrung als zur Vermeidung bei. Nur kleine Diebe kann man durch die Beichte etwa zur Rückgabe des Gestohlenen bewegen.

Anmerkung 3: (S.146 Theotimus: „Es gibt Rituale, bei denen die Heuschrecken, die Zauberer und die Schauspieler exkommuniziert werden“.)
– Heuschrecken:
Die Anmerkung in dem Kommentar der Voltaire-Foundation zu diesem Punkt bemerkt, dass Heuschrecken keiner Exkommunikation unterzogen wurden. Man hat stattdessen in einem speziellen Ritual den Ackerboden geweiht, um ihn vor den Heuschrecken zu schützen.
– Zauberer:
Papst Paul V. führte 1614 die Exkommunikationsrituale gegen Zauberer und Hexer ein, die dann in den Inquisitionsverfahren zur Anwendung kamen.
– Schauspieler:
-> Synode von Elvira (306): „Wenn ein Zirkuswettfahrer oder ein Pantomime zum Glauben übertreten will, muss er vorher seinem Gewerbe entsagen und darf nachher nicht mehr zu ihm zurückkehren; tut er es doch, soll er aus der Kirche ausgestoßen werden.“
-> Im Jahre 314 erklärte das Konzil von Arles die Schauspieler für exkommuniziert.
-> Das Konzil von Aachen 816 verbietet Klerikern die Teilnahme an Schauspielen.
-> Auf der Synode von Cambrai wurde 1300 bestimmt: „Kein Christ darf von der Kommunion zurückgewiesen werden, außer wer exkommuniziert ist oder wer durch notorisches Verbrechen gebrandmarkt ist, wie die öffentlichen Dirnen, die Komödianten und Spielleute.“
-> 1649 verordnete die Rituale von Châlon als Erste, dass Schauspieler nicht zur Kommunion zugelassen sind. Bis 1713 sollte, wie Jean Dubu aufzeigt (Les églises chrétiennes et le théâtre (1550-1850), Grenoble 1997), diese Intoleranz zunehmen. Nicht nur die Kommunion, sondern auch das Recht auf Bürgschaft und das Begräbnis wurde den Schauspielern verweigert. Die o. g. Angaben stammen aus Manuel Stadler Die Exkommunikation des Schauspielers zwischen dem Ende des Römischen Reiches bis ins 19. Jhdt.

Voltaire hatte selbst bittere Erfahrung mit dieser Variante der kirchlichen Misanthropie gemacht, als man seiner engen Freundin, der Pariser Schauspielerin  Adrienne Lecouvreur das Begräbnis verweigerte (siehe dazu sein bewegendes Gedicht).

Anmerkung 4 (S.147 Ariston: „Was werden Sie tun, um die Bauern daran zu hindern, sich an Fest- und Feiertagen zu betrinken?“): Die Anmerkung der Voltaire Foundation weist darauf hin, dass Voltaire die Berechnung des Abbé de Saint Pierre übernommen hat. Voltaire kam immer wieder auf dieses Thema zurück.
Was zunächst wie ein Versuch zur Beschneidung der freien Tage der armen Landbevölkerung aussieht (Voltaire war schließlich in Ferney ein Großgrundbesitzer mit bis zu 1500 „Untertanen“), versteht sich etwas anders, wenn man folgendes bedenkt:
– Die Anzahl der Feiertage variierte von Diözese zu Diözese, jeder Bischof versuchte die Loyalität seiner Gemeindemitglieder durch spezielle Feiertage (Heilige, spez. Anlässe) zu heben, was deshalb erfolgversprechend war, weil an solchen Tagen die religiöse Indoktrination mit großem Elan praktiziert wurde. Ende des 13. Jahrhunderts ist von ca. 40 – 60 Feiertagen pro Jahr auszugehen.
– Erste Kritik an den vielen Festen kam im 15. Jahrhundert von humanistischer Seite (Nicolas de Clamange, Contre l’institution des fêstes nouvelles (1413), auch bereits mit dem Argument, dass die Bauern, könnten sie arbeiten, sehr viel besser leben würden. Dies war der ökonomische Blick des Stadtbürgertums, das in harter Arbeit zu Wohlstand und Unabhängigkeit gekommen war. (siehe: L’évolution du nombre de jours chômés à la fin du Moyen Âge : enjeux spirituels et économiques, 2007).
In einem anderen Artikel (Temps de travail et fêtes religieuses au XVIIIe siècle, Jean-Yves Grenier, in: Revue historique 2012/3, n° 663, S. 609 – 641) erklärt der Autor, dass sich die Anzahl der Feiertage im Verlauf des 18. Jahrhunderts in Frankreich nahezu halbiert habe. Offenbar hatten sich die Manufakturbesitzer, Handwerker und Landbesitzer , die an der erhöhten Arbeitszeit interessiert waren, gegen die Kirche durchgesetzt.
Außer dass sie die Menschen dem kirchlichen Einfluss aussetzten, behinderten die vielen Feiertage auch sonst die ökonomischen Abläufe. So wurden zum Beispiel Transporte, ohnehin beschwerlich und langsam, plötzlich angehalten, weil in einer Region ein kirchlicher Feiertag ausgerufen worden war. Damit war die Belieferung von verderblichen Waren auf die Märkte der Städte oft schwierig, wenn nicht unmöglich.
Voltaire, richtig verstanden, argumentiert folglich gegen die Kirche,wenn er erklärt, dass weniger Feiertage den Bauern und Handwerkern ein höheres Einkommen, eine bessere Gesundheit, niedrigere Ausgaben für Alkohol bringen. Diese vertrat zu dieser Frage verständlicherweise genau das Gegenteil.

Philosophisches Taschenwörterbuch:
Guerre – Krieg (Kommentare)

Der Artikel ist heute (2022/2023) von einer erschreckenden Aktualität. Wieder zerstört pure Machtbesessenheit ganze Völker, wieder sind es „drei- oder vierhundert“ Personen, die Menschen gegeneinander aufhetzen, die eigentlich keinen Grund haben, gegeneinander zu kämpfen und tatsächlich segnet die Kirche noch immer die Waffen „ihrer Soldaten“.

Hintergrund

Wenn in unserer Zeit Schreibtischstrategen sich über Völkerrecht, widerrechtliche Annektion, berechtige Separation usw. in die Haare bekommen, führen sie eine Diskussion, wie sie bereits in der Antike geführt wurde und dann im 17. Jahrhundert mit der Schrift De jure belli ac pacis (1625) (dt. Über das Recht des Krieges und des Friedens) von Hugo Grotius (1583 – 1645) ihren vorläufigen Höhepunkt an Gelehrsamkeit erreichte (darüber informiert kurz und bündig Seminarpapier Uni Münster pdf).

Nicht, dass die Absicht, Ordnung in die Debatte zu bringen verwerflich wäre, ganz im Gegenteil; verwerflich ist nur, wenn im konkreten Fall das Leid der Menschen eine viel kleinere Rolle spielt, als recht zu haben oder recht zu behalten.
Obwohl Voltaire diese Schriften kannte – das Buch von Grotius zum Beispiel befand sich in seiner Bibliothek -, beschäftigt er sich mit ihnen hier nicht – für ihn ist der Krieg schrecklich wie ein Seuche, wie eine Hungersnot und, da menschengemacht, ein Zeichen von Rückständigkeit. Zudem: Wenn die Kirche diese Kriege auch noch weihevoll anfeuert, so kann sie seiner Verachtung sicher sein.

Zwar hat Voltaire seinen Artikel, als er ihn 1771 in seinen Questions sur l’Encyclopédie erneut abdruckte, um einen Absatz erweitert, in dem er die Frage stellt, ob ein Präventivkrieg gerechtfertigt sein könnte. Seine Behandlung dieses Themas zeigt aber, worum es ihm in erster Linie geht: Kriege bringen unermessliches Leid über die Menschen und alle Maßnahmen, die sie verhindern können, sind gute Maßnahmen. Nur wenn man angegriffen wird, sind militärische Mittel zur Verteidigung als ultima ratio unvermeidlich.

Der namensgleiche Artikel Guerre der Enzyklopädie (Band 7, 1757) behandelt dagegen militärhistorische und militärtaktische Überlegungen („Kriegskunst“), oder die Frage, wann Kriege gerecht bzw. ungerecht sind, welche Gesetze der Humanität auch während des Krieges beachtet werden müssen und viele ähnliche Dinge mehr. ( siehe die Übersetzung dieses Artikels und auch den Essay von Alexander Kluge, Krieg in: Die Welt der Encyclopédie, Frankfurt/Main: Eichborn, 2001, S.209 -216). Voltaires Antwort darauf ist eindeutig: Sollte jemand die so häufig trügerische Vorstellung hegen, zum gerechtesten aller gerechten Kriege berechtigt zu sein, bedenke er zunächst das furchtbare Leid, das er über die Menschen bringt, nur um einen Macht- oder Gebietszuwachs zu erzielen.


Hier nun Voltaires Zusatz zu seinem Artikel Guerre – Krieg des Philosophischen Wörterbuchs aus dem Jahr 1771 (Questions de l‘ Encyclopédie, Übersetzung E.Salewski):

„Der berühmte Montesquieu, der als menschlich galt, hat gleichwohl behauptet, dass es gerecht sei, seine Nachbarn mit Feuer und Schwert heimzusuchen, wenn man befürchten müsse, dass es ihnen gar zu gut gehe. Wenn dies der Geist der Gesetze ist, dann kann es nur derjenige eines Borgia und Machiavelli sein. Wenn er zum Unglück die Wahrheit gesagt hat, dann muss man gegen diese Wahrheit schreiben, auch wenn sie durch die Tatsachen bestätigt wird.

Montesquieu sagt folgendes (Geist der Gesetze, Buch X, Kap.2): ‚Zwischen Staaten zieht das Recht der natürlichen Verteidigung manchmal die Notwendigkeit nach sich, zum Angriff überzugehen, wenn ein Volk bemerkt, dass ein längerer Frieden ein anderes dazu befähigen würde, es selbst zu vernichten, und der Angriff in diesem Augenblick das einzige Mittel ist, die Vernichtung zu verhindern.‘

Wie kann der Angriff mitten im Frieden das einzige Mittel zur Verhinderung dieser Vernichtung sein? Dann müsstet ihr sicher sein, dass dieser Nachbar euch vernichten wird, wenn er stark ist. In diesem Falle müsste er bereits Vorkehrungen zu eurer Vernichtung getroffen haben. Dann aber ist er es, der den Krieg beginnt. Eure Voraussetzung ist also falsch und widerspruchsvoll. Wenn es je einen offensichtlich ungerechten Krieg gegeben hat, dann ist es der, den ihr empfehlt.

Ihr wollt eure Mitmenschen umbringen, damit sie (der euch keineswegs angreifen) euch nicht anzugreifen vermögen. Dann müsstet Ihr also die Vernichtung eures eigenen Landes in der Hoffnung riskieren, ohne Grund ein anders vernichten zu können. Das ist gewiss weder anständig noch nützlich; denn des Erfolgs ist man nie sicher, das wisst ihr wohl. Wenn euer Nachbar im Frieden zu stark wird, warum macht ihr euch dann nicht ebenso stark? Wenn er Bündnisse schließt, tut das doch auch! Wenn er weniger Mönche hat, dafür aber mehr Fabrikanten und mehr Soldaten hat, dann eifert ihm nach in dieser klugen Wirtschaftsführung. Wenn er seine Matrosen besser ausbildet, dann tut das auch!

Das alles ist recht und billig. Aber euer Volk dem furchtbarsten Elend auszusetzen, in der so häufig trügerischen Vorstellung, euren durchlauchtigsten Bruder, den Fürsten eines Nachbarlandes, zerschmettern zu können, diesen Rat dürfte der Ehrenvorsitzende einer Friedensgesellschaft euch nicht geben.

[Le célèbre Montesquieu, qui passait pour humain, a pourtant dit qu’il est juste de porter le fer et la flamme chez ses voisins, dans la crainte qu’ils ne fassent trop bien leurs affaires. Si c’est là l’esprit des lois, c’est celui des lois de Borgia et de Machiavel. Si malheureusement il a dit vrai, il faut écrire contre cette vérité, quoiqu’elle soit prouvée par les faits. Voici ce que dit Montesquieu(28): « Entre les sociétés le droit de la défense naturelle entraîne quelquefois la nécessité d’attaquer, lorsqu’un peuple voit qu’une plus longue paix en mettrait un autre en état de le détruire, et que l’attaque est dans ce moment le seul moyen d’empêcher cette destruction. » Comment l’attaque en pleine paix peut-elle être le seul moyen d’empêcher cette destruction? Il faut donc que vous soyez sûr que ce voisin vous détruira s’il devient puissant. Pour en être sûr, il faut qu’il ait fait déjà les préparatifs de votre perte. En ce cas, c’est lui qui commence la guerre, et ce n’est pas vous; votre supposition est fausse et contradictoire. S’il y eut jamais une guerre évidemment injuste, c’est celle que vous proposez; c’est d’aller tuer votre prochain, de peur que votre prochain (qui ne vous attaque pas) ne soit en état de vous attaquer: c’est-à-dire qu’il faut que vous hasardiez de ruiner votre pays dans l’espérance de ruiner sans raison celui d’un autre; cela n’est assurément ni honnête ni utile, car on n’est jamais sûr du succès; vous le savez bien. Si votre voisin devient trop puissant pendant la paix, qui vous empêche de vous rendre puissant comme lui? S’il a fait des alliances, faites-en de votre côté. Si, ayant moins de religieux, il a plus de manufacturiers et de soldats, imitez-le dans cette sage économie. S’il exerce mieux ses matelots, exercez les vôtres; tout cela est très juste. Mais d’exposer votre peuple à la plus horrible misère, dans l’idée si souvent chimérique d’accabler votre cher frère le sérénissime prince limitrophe! ce n’était pas à un président honoraire d’une compagnie pacifique à vous donner un tel conseil.]

Die folgenden Anmerkungen zu einzelnen Textstellen beziehen sich mit ihren Seitenangaben auf die von uns bei Reclam herausgegebene Ausgabe des Philosophischen Taschenwörterbuchs (2020):

Anmerkung 1 (S.237, 2. Absatz, „das Volk von Veij oder die Volsker“): Die etruskische Stadt Veii wurde 396 v. u. Z. von Rom besiegt, die Bewohner versklavt und die Stadt mit römischen Bürgern neu besiedelt. Die Volsker , ein altitalienischer Volksstamm, wurde im Jahr 338 v. u. Z. von Rom unterworfen.

Anmerkung 2 (S.237 3. Absatz: „Ein Ahnenforscher beweist einem Fürsten“): Voltaires Beispiel  geht auf die Argumentation Friedrich II. zurück, mit der er seinen Einmarsch in Schlesien ab 1740 begründete. Er verlangte von Maria Theresia vier schlesische Grafschaften (Voltaire schreibt darüber in seinem Précis du siècle de Louis XV) mit einer ziemlich weit hergeholten Begründung: 1537 hatte der Herzog Friedrich II von Schlesien (s. Wikipedia Piasten) für die Grafschaften Liegnitz, Brieg und Wohlau mit dem Kurfürst Joachim II von Brandenburg einen Nachfolgevertrag geschlossen, den Friedrich I. v. Habsburg wiederum für null und nichtig erklärte. Als 1675 mit Georg Wilhelm die Linie der Herzoge von Schlesien ausstarb, waren Liegnitz, Brieg, Wohlau sozusagen „herrenlos“. Der Kurfürst von Brandenburg erhob Anspruch auf diese Besitztümer, erhielt aber nur den Kreis Schwiebus. Aus diesen alten Vorfällen leitete Friedrich II. von Preußen seine Ansprüche ab, zusätzlich Jägersdorf, das ebenfalls dieser Adelslinie gehörte. Das ist, als wenn heute die Türkei Anrechte auf Kreta (alter osmanischer Besitz) erheben würde.
Der erste Schlesische Krieg nahm seinen Lauf. In dem entsprechenden Wikipediaeintrag  erfährt man zwar, wieviel Soldaten die preußische Armee (27.000) hatte, wie viele Tote dieser Krieg forderte, erfährt man jedoch nicht.

Anmerkung 3 (S.238 „So führen vier oder fünf Mächte gegeneinander Krieg…“)
Im siebenjährigen Krieg (1756 -1763), vielfach als erster Weltkrieg bezeichnet, standen England und Preußen gegen den „Rest der Welt“. Dieser „Rest der Welt“ um Habsburg, Frankreich, Russland, Schweden, sowie der deutsche Kaiser verdammten Friedrich II und verurteilten ihn, weil er den Krieg angefangen hatte und als relativ kleiner Potentat die Großmächte herausforderte.
Hinter Friedrich stand aber das aufstrebende England, das diesen Konflikt lange vorher durch gezielte Investitionen und Einflussnahmen vorbereitet hatte und am Ende einzig als wirkliche Großmacht übrig blieb. An dem entsprechenden Wikipediaeintrag  haben viele Militärexperten mitgearbeitet. Über die Gründe, die zu diesem Krieg führten, warum Englands zur Großmacht aufstieg, erfährt man wenig, dafür viel über die einzelnen Schlachten.
Etwas anschaulicher erzählt über die barbarische Zerstörung von Dresden durch Friedrich II eine Seite der Bundeszentrale für politische Bildung, garniert mit viel Anekdotischem und Küchenpsychologie  .

Anmerkung 4 (S. 237 unten „Er kleidet sie mit grobem blauem Tuch..“): Das war die Uniform der preußischen Armee im siebenjährigen Krieg. Siehe dazu die materialreiche Bildersammlung von Andreas Meininger. 

Anmerkung 5 (S.238 oben, „ …mit mehr gedungenen Mördern als Dschingis- Khan, Tamerlan, Bjazet jemals in ihrem Gefolge hatten): gedungene Mörder, das sind skrupellose Söldnerheere, mit denen die europäischen Mächte damals operierten. Die Namen Dschingis- Khan, Tamerlan , Bjazet  sind Beispiele für Herrscher, die in den Augen westlicher Geschichtsschreiber besonders grausam waren, ohne sie mit den Grausamkeiten ihrer eigenen Machthaber zu vergleichen.

Anmerkung 6 (S.238 unten Massillon, S. 239, 2. Absatz Bourdaloue): Beide waren zu Voltaires Zeit bekannte katholische Moralprediger, die in ihren Reden vor allem gegen Lasterhaftigkeit, also gegen die sexuelle Freiheit herzogen, aber nie ein Sterbenswörtchen gegen militärische Gräueltaten verloren..

Anmerkung 7 (S.239, „Die Juden nennen Zebaoth „Gott der Waffen“): Zur Begriffsgeschichte gibt es eine ausufernde Diskussion, ob Zebaoth die himmlischen oder die weltlichen Heerscharen und ihre Waffen gemeint sind usw.; siehe dazu den Artikel Sabaoth im kleinen Pauly

Anmerkung 8 (S.239, „Homer nennt Mars einen wahnsinnigen blindwütigen Gott“): Bei Homer heißt Mars, der Kriegsgott, Ares. Über ihn, den „blutigen Schilddurchbrecher“ erzählt die Illias (in XXI, 390 ff), wie er von Pallas Athene in seine Schranken gewiesen wurde.

Philosophisches Taschenwörterbuch:
Catéchisme Chinois – Chinesischer Katechismus (Kommentare)

Im Chinesischen Katechismus gibt Voltaire einen Einblick in aktuelle Positionsbestimmungen der Aufklärung zum Christentum.
Zu der aus dem Humanismus stammenden zentralen Aussage, dass die Menschen bei ihrer Verbindung zu Gott keine vermittelnde Institution benötigen, kommt im 18. Jahrhundert die klare Ablehnung der Gottesidee selbst hinzu, wie sie de Meslier, de La Mettrie, Diderot, d’Holbach und d’Alembert, formulierten, außerdem die Suche nach einer humanen, nichtchristlichen Ethik. Diese Positionsbestimmung wird auf verschiedenen Ebenen vorgenommen:

1. Auf der Ebene der christlichen Religion selbst: Welche Argumente gibt es für die Existenz ihres Gottes (Alleine, dass man an diese Frage verstandesmäßig herangeht, war für die Kirche ein erster Schritt zum Scheiterhaufen) und welche Argumente halten einer rationalen Überprüfung stand?
2. Auf der Ebene des Subjekts: Wie kann man sich den Kontakt des einzelnen Menschen zu Gott im Christentum vorstellen?
3. Welche Bedeutung kommt der christlichen Religion in Bezug auf die Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens zu?
4. Mit welchem Recht behauptet die christliche Kirche, Vertreterin der einzig wahren Religion und Gottesidee zu sein? Da es mehrere Religionen und mehrere Religionsgemeinschaften/Kirchen gibt: Wie kann ihr Zusammenleben, wenn doch jede ihren Gott für den einzigen hält, organisiert werden?
Zumindest für die Ebenen 3 und 4 war China bedeutend, weil dort selbst nach den Berichten der Jesuiten (siehe unseren Kommentar zum Artikel Über China) ein Staat existierte, der seit Jahrhunderten völlig ohne Religion und Kirche, insbesondere ohne das Christentum auskam und nach seinen eigenen konfuzianischen nicht-religiösen Grundsätzen funktionierte. Deshalb kleidet Voltaire diese für die Aufklärung entscheidende Diskussion in ein chinesisches Gewand. Die Entdeckung Chinas und der dortigen Lebensweise war ebenso überwältigend, wie wenn man heute einen fremden Planeten entdeckte, auf dem die Menschen völlig friedlich, bei gemeinschaftlicher Herstellung und Verteilung des Reichtums, genüsslich lebten – und das alles mit 20 Stunden Arbeit pro Woche….


Hintergrund:
A
.
Die alltägliche Verfolgung von Religionskritikern steht im Hintergrund des Chinesischen Katechismus, die Voltaires Vorsicht, sein Zurückweichen zum Schluss eines jeden der ersten drei Gespräche dieses Dialogs, verständlich machen. Zwei Beispiele für die existentielle Bedrohung von Philosophen der Aufklärung seien hier exemplarisch aufgeführt, auch das Leben de La Mettries gehört hierher, der sich vor den christlichen Häschern an den Hof Friedrich II. nach Berlin retten konnte, um dort als dessen Vorleser und Spassmacher zu fungieren:  

Die Verfolgung von Christian Wolff, Mathematikprofessor und Prorektor der Universität Halle
Wolff wurde nach seinem Vortrag mit dem Titel: Rede über die praktische Philosophie der Chinesen (12. Juni 1721) von der Universität und aus Preußen überhaupt verbannt. In seinem Artikel De La Chine berichtet Voltaire von dem empörenden Vorgang und zeigt Wolff als Märtyrer der Aufklärung, Opfer des verfolgerischen Christentums. Seinen Chinesischen Katechismus, insbesondere den zweiten Teil, kann man als Ergänzung zu Wolffs Rede lesen. Voltaire war mit Christian Wolff durch seine Lebensgefährtin Emilie du Châtelet, eine Wolffianerin, intensiv befasst und er besuchte ihn sogar in Halle. Er teilte nicht dessen Ansicht von unserer Welt als der besten aller möglichen und auch nicht Wolffs Hoffnung, Gott und die Religion verstandesmäßig, mit mathematischer Genauigkeit begründen zu können.
Dies sind die Thesen von Christian Wolff die er in seiner Rede vertritt, in der er seine starke Übereinstimmung mit Konfuzius  aufzeigt (Wolff bezieht sich dabei – wie später auch Du Halde in seinen Bericht über Konfuzius  – auf François Noël ):
– wie schon Konfuzius lehrt, ist es dem Einzelnen möglich, zu erkennen, was gut und was böse ist. Dieses Erkenntnisvermögen zu schulen ist eine wichtige, lebenslange Aufgabe
– den Menschen ist (Ethik der Autonomie) das Erkenntnisvermögen „ins Herz geschrieben, sie selbst sehen, was gut ist“, das wirklich tugendhafte Handeln, resultiert aus der Vernunft und nicht aus der Furcht vor einem Herren, nicht als Reaktion auf Belohnung oder Strafe: (Woher die Tugend kommt).
„Wer durch die Vernunft zum Guten angetrieben wird, der wird durch den freien Willen zu guten Handlungen bestimmt und braucht, um beim guten zu bleiben, keinen Herren“ (S.37 V 436 f).
– Zur Vollkommenheit  gelangt man durch nicht durch ständiges Bekämpfen des Bösen/der Laster, sondern durch beständiges Fortschreiten in der Erkenntnis, im Gebrauch der Vernunft. Die Erprobung dieser Grundsätze, könne man, meint Wolff, „nirgendwo sicherer auffinden als bei den alten Chinesen, bei denen es überhaupt keine Religion gab“(S.47, V. 615). Prof Heiner Roetz (Univ. Bonn) schrieb 2021 in einem Aufsatz zum 300 jährigen Jubiläum der Rede Wolffs: „Wolffs China-Rede war eine der seltenen Sternstunden einer zukunftsweisenden kosmopolitischen Philosophie. Seine Liaison mit dem Konfuzianismus hat nicht nur dazu beigetragen, die Ethik von ihrer Bevormundung durch die Theologie zu befreien, sondern auch dazu, sie auf den Pfad der Autonomie zu bringen“.
Lit.: Heiner Roetz, Menschen brauchen keine Religion und keine Gesetze – „Sie sehen selbst, was gut ist“ 08.07.2f021 (Heiner Roetz ist emeritierter Professor für Geschichte und Philosophie Chinas an der Universität Bochum).

Die Inhaftierung von Denis Diderot wegen seinem Brief über die Blinden zum Gebrauch für die Sehenden , 1749
Kurz nach der Veröffentlichung seines Textes wurde Diderot am 24.7.1749 verhaftet und in dem Gefängnis Vincennes inhaftiert, aus dem er erst am 3. November 1749 wieder entlassen wurde. In dem Brief über die Blinden geht es um die Frage, wie es mit der Allmacht Gottes zu vereinbaren sei, dass es Menschen gibt, die von Natur aus blind sind. Ausgehend von John Lockes Versuch über den menschlichen Verstand, nachdem in der Welt unseres Verstandes nichts existiert, was nicht auf einer sinnlichen Wahrnehmung beruht, bezweifelt er, dass man Gründe für die Annahme der Existenz eines allmächtigen Gottes finden könnte. Wenn man die Existenz Gottes, wie es der Deismus tut, aus der bewundernswerte Harmonie der Welt und ihrer unveränderlichen (Natur-) Gesetze ableitet, welche Stellung nehmen dann in dieser Welt die von Natur aus Blinden ein? Ausgehend von dieser Frage kommt er zu einem grundsätzlichen Zweifel an der christlichen Schöpferidee. Wenn es aber keinen allmächtigen Gott gibt, sind auch unsere Ideen über das Böse und das Gute nicht absolut gültig, sondern relativ. Auch sie sind abhängig von unserer körperlich-sinnlichen Wahrnehmung. Diese, in die Worte eines Blinden gekleidete Argumentation war ausreichend, um Diderot ins Gefängniss zu werfen. (siehe dazu:  Pierre Lepape, Denis Diderot, Frankfurt: Campus, 1994,S.8-16, S.88 ff, er folgt: Paul Bonnefon, Diderot prisonnier à Vincennes, in: Revue d’histoire littéraire de la France, Juli-Sept. 1899; einige der Briefe der Buchhändler und Verleger, die sich für die Freilassung Diderot einsetzten, findet man (frz.) in ARTFL, einem US-amerikanischen Projekt zur Digitalisierung bedeutender französischsprachiger Texte) .

B.
Außerdem sollte man sich den religiösen Hintergrund für die sechs Gespräche des Chinesischen Katechismus vor Augen führen:
1. Gespräch: Der Himmel als „Wohnung Gottes“ ist der Ort, wo die Guten landen während die Hölle für die Schlechten ist (Das christliche Glaubensbekenntnis: „ich glaube an Gott, …den Schöpfer des Himmels und der Erde…..“)
2. Gespräch: Gott als Schöpfer der Welt ist dem Christentum zufolge allmächtig („ich glaube an den allmächtigen Gott…“)
3. Gespräch: Die Seele ist der unsterbliche Teil des Menschen und wird nach dem Tod entweder aufsteigen oder muss, besonders wenn sie nicht getauft ist, in der Hölle schmoren. („ich glaube an die Auferstehung der Toten … und an das ewige Leben.“, Jesus wird „richten die Lebenden und die Toten.“)
4. Gespräch: Das Christentum ist der einzig wahre Glauben und seine religiösen Grundsätze stehen über den weltlichen Gesetzen. Keiner anderen Religion soll es erlaubt sein, über der christlichen zu stehen. („ich glaube an die heilige/christliche– katholische Kirche“)
5.  Und 6. Gespräch:  Glaube, Liebe und Hoffnung gelten dem Christentum als die höchsten Tugenden.

Die folgenden Anmerkungen zu einzelnen Textstellen beziehen sich mit ihren Seitenangaben auf die von uns bei Reclam herausgegebene Ausgabe des Philosophischen Taschenwörterbuchs (2020):

Erstes Gespräch

Anmerkung 1 Titelerklärung (S.108):
– Zisi, auch Tse Sse (481 – 402 vuZ) war der Großenkel von Konfuzius.
– Voltaires Dialog fußt auf der Description de la Chine von J.-B. Du Halde, in der er das vierte der klassischen Bücher (Meng Tsée, ou livre de Mencius) vorstellt, das ihm in der Übersetzung von François Noël vorlag. Mengzi (um 370–290 v. Chr.), einer der bedeutendsten Konfuzianer, unterweist dort diverse Adlige in der Kunst des guten Regierens. Diese Dialoge des Mencius waren ganz offensichtlich das Vorbild des Chinesischen Katechismus.
– Jean-François Fouquet, Jesuit, (1655-1741) hielt sich von 1710 bis 1717 in Peking auf. Er ist der Verfasser von Abhandlungen über das Tao, über Konfuzius. Einige seiner Manuskripte befinden sich in der Bibliothek des Vatikans.

Anmerkung 2 (S.108 „Himmel (Shangdi)“):
Der Begriff Shangdi https://en.wikipedia.org/wiki/Shangdi geht auf das zweite chinesische Kaiserreich zurück, die sogenannte Shang Dynastie (18. – 11. Jhdt v.u.Z.) deren Kaiser auf Orakelknochen genannt und offenbar göttlich verehrt wurden. Der Kaiser so glaubte man, empfing sein Herrschermandat vom Himmel und kehrte nach seinem Tod an die Seite des „Shangdi“ zurück. Weil diese Vorstellung der christlichen vom Gottkaisertum und von Gott als dem „Schöpfer des Himmels und der Erde“ fast vollständig entspricht, kann sie hier als „chinesische“ gefahrlos lächerlich gemacht werden.

Anmerkung 3 (S.111 oben „… die Strahlen, die von Ihren Augen bis zum Scheitelwinkel zwei gleiche Winkel bilden“): Gemeint sind die beiden Geraden, die vom Rand eines Gegenstands zum Auge führen, dort im Scheitelpunkt zusammenkommen und sich im gleichen Winkel in das Innere des Auges fortbewegen, wo sie auf die Netzhaut treffen. Die Natur des Lichts wurde im 18. Jahrhundert von Newton erforscht und beschrieben. Voltaire machte die Entdeckungen Newtons bereits 1732 in seinen Philosophischen Briefen bekannt. Später bauten er und seine Lebensgefährtin Emilie du Châtelet die Experimente Newtons in ihrem physikalischen Labor in Cirey nach und überprüften seine Aussagen. Ihre Ergebnisse veröffentlichte Voltaire die Eléments de la philosophie de Newton (1738). Emilie du Châtelet wiederum übersetzte bis kurz vor ihrem Tod im Jahr 1749 Newtons Principia Mathematica vom Lateinischen ins Französische: Principes Mathématiques de la Philosophie naturelle par feue Madame la Marquise du Chastellet, Paris: Desaint & Saillant, Lambert, 1756 Vol 1, 417 p. vol 2 297p.

Zweites Gespräch

Anmerkung 4 (S.114 Zisi: „Die (Regeln) des Konfuzius…“): Voltaire zitiert die beiden Regeln aus dem Lun-yu (Buch der Gespräche), dem zweiten kanonische Buch der konfuzianischen Lehren, wie es Du Halde präsentierte. In der Übersetzung von Buch XI: „Einer bat, dass er ihn lehren möge, wohl zu sterben, so sagt er: Ihr habt noch nicht angefangen wohl, lernet dieses, so wisset ihr auch wohl zu sterben“; Buch XII: „Gehet mit anderen so um, als ihr es euch selbst von anderen wünschet“

Anmerkung 5 (S. 115 Gu: „So wird ihnen Gott erlauben böse zu sein…?)
Wie das Böse in die Welt kam, wenn doch Gott allmächtig ist, war – nicht nur im 18. Jhdt. – eine vieldiskutierte Frage. Leibniz schrieb ein ganzes Buch (die Theodizee) darüber und kommt zu dem Schluss, dass Gott die beste aller möglichen Welten geschaffen haben musste, in der das Böse eben vorkommt. Siehe dazu den Artikel Tout est bien – Alles ist gut und unsere Kommentarseite dazu.

Anmerkung 6 (S. 115 Gu: „Aber wenn ich sicher bin, dass es überhaupt keines [anderes Leben nach dem Tod] gibt?“): Das zweite Gespräch mündet in einer atheistischen Position, was im 18. Jhdt. ziemlich gefährlich war. Vielleicht deshalb wird sie von Voltaire mit dem klassischen Winkelzug der Beweisumkehr, dass der Zweifelnde beweisen soll, dass es Gott, oder ein anders Leben nicht gibt, entschärft.

Drittes Gespräch

Dieses Gespräch ist ein gutes Beispiel dafür, wie Voltaire sich hinter seinen Protagonisten versteckt, mal ist er Gu, mal ist er Zisi. Vertritt Voltaire atheistische, gotteslästerliche Meinungen? Nein, nur Gu vertritt sie (S.120)…Zisi tritt ihnen entgegen, aber schon die Antwort Gus (S.121) ist wieder eine original Voltairesche Position usw. Deshalb ist es so schwer herauszufinden, wie weit Voltaire in seiner Religionskritik wirklich ging. Deshalb waren zwei ausgewiesene Voltaire Experten Pomeau (er hält Voltaire für eine Deisten) und Bestermann (er hält ihn für einen Agnostiker) gegensätzlicher Meinung. Siehe dazu unser Exzerpt der Dissertation von Pomeau: La Réligion de Voltaire.

Anmerkung 6 (S. 116 Gu: „Ist also die Seele…selbst nichts als ein Wort?“): Siehe dazu den Artikel Âme – Seele und unsere Kommentarseite dazu, außerdem die Diskussionsbeiträge zum Thema Die Seele im 18. Jhdt.

Anmerkung 7 (S. 119 Gu: dass wir immer Vorstellungen haben, auch wenn wir schlafen): Siehe dazu den Artikel Songes – Träume,

Anmerkung 8 (S. 120 oben, Zisi: „..haben Sie einen Willen und sind frei“): Über die Freiheit des Menschen s. den Artikel De La Liberté – Über die Freiheit.

Anmerkung 9 (S. 120 unten, Zisi: „..Deshalb ist es nötig, dass das Gute und das Schlechte ihr Urteil in einem anderen Leben finden“): Diesen Gedanken äußert Voltaire an etlichen Stellen, er unterstützt die disziplinierende Funktion der Religion und hofft, dass sie hilft, die Aggressionen des Volkes einzudämmen. Über Funktion des Glaubens an eine „jüngstes Gericht“ siehe unsere Zusammenfassung von R. Pomeau, La Religion de Voltaire, S. 398-406 und den Art. Enfer -Hölle.

Anmerkung 10 (Gu: “..zweihundert Familien ehemaliger Sionous..“): Eine Stadt, in der Juden seit dem 8., 9. Jh. lebten, war Kaifeng. Sie waren über die Seidenstraße gekommen. Die dortige Synagoge wurde von einem Franzosen, dem Jesuitenpater Jean Domenge, 1722 gezeichnet. Voltaire konnte von ihrer Existenz bei Du Halde (Description de la Chine, III, 64 b) erfahren.

Viertes Gespräch


In diesem Gespräch stellt Voltaire mit Hilfe der jesuitischen Kritik an den Konkurrenzreligionen, wie sie Du Halde wiedergibt, bevor er die jesuitische Mission in den höchsten Tönen lobt, die Absurditäten nicht nur jener, sondern auch der jesuitischen Glaubenserzählungen bloß. Die chinesische konfuzianische Lehre schneidet dagegen außerordentlich gut ab.

Anmerkung 11 (S. 123 oben, Zisi: „Sie opfern [dem Shangdi] vier mal im Jahr“): Du Halde beschreibt ausführlich die Frühlingszeremonie, bei der der Kaiser wie ein Bauer die Saat mit fünf verschiedenen Körnern ausbringt, um sie im Herbst zu ernten.

Anmerkung 12 (S.123 Gu: „fette Bergweisen, die nicht betrachtet werden dürfen“): Ironische Anspielung auf den Psalm 67, Vers 17 n.d. Bibelübersetzung von Lemaistre de Sacy : https://fr.wikisource.org/wiki/Bible_Sacy/Psaumes#CH068 „Was schaut ihr bewundernd auf Berge, die fett und fruchtbar sind?“ Voltaire beginnt mit den Absurditäten des Christentums.

Anmerkung 13 (S.123 Gu: „wenn ich den Mond zum Stillstand gebracht haben werde“):
Bezieht sich auf das Alte Testament, Josua, Kap. 10, Vers 12-13 „Sonne stehe stille zu Gibeon, und Mond, im Tal Ajalon! Da stand die Sonne still und der Mond blieb stehen, bis sich das Volk an seinen Feinden gerächt hatte.“

Anmerkung 14 (S.123, Gu: „Einerseits sehe ich Laotse…“): Über die sagenumwobene Geburt des Laotse und seine weißen Haare berichtet Du Halde (1735, III, 49; dt. III, S. 63 ; was die Lehre von der Vernichtung angeht, bezieht sie Du Halde in dem direkt auf Laotse folgenden Paragraphen ((1735, III, p.49; dt. III, S. 64 §116) auf Fo, d.i. Buddha: „Sehet ihr aber nicht, dass diese schöne Lehre von der Vernichtung seiner selbst, von der allgemeinen Entäußerung endlich auf eine chimärische Unsterblichkeit und auf ein solches Verlangen hinauslaufe, das nie erfüllt werden kann“.

Anmerkung 15 (S.124 Gu: „…Phantastereien von den Bonzen…“): Du Halde macht deutlich, wie die (buddhistischen) Bonzen das Volk täuschen, er beschreibt ihre Selbstkasteiungen und erzählt eine Anekdote, nach der sich ein Bonze auf einen ganz mit Nägeln besetzten Stuhl setzte und er berichtet von anderen, die sich dicke Ketten von mehr als 30 Fuß Länge um Hals und Füße hatten anbringen lassen. (Du Halde, 1735, III, 24 a + b; dt.: Du Halde III, S.32,33 §60 u. 61)

Anmerkung 16 (S.124 Mitte, Gu: „dass es besser ist, Gott mehr als den Menschen zu gehorchen“): Das ist die Antwort, die Petrus und die Apostel im Tempel dem Hohenpriester geben (Apostelgeschichte 5,29): „Haben wir euch nicht streng geboten, in diesem [christlichen] Namen nicht zu lehren? Und seht, ihr habt Jerusalem erfüllt mit eurer Lehre und wollt das Blut dieses Menschen über uns bringen. Petrus aber und die Apostel antworteten und sprachen: Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.“

Anmerkung 17 (S.124, Zisi: „Der Shandi bewahre mich davor, in Ihnen den Geist der Toleranz …auslöschen zu wollen“): Siehe den Artikel Tolérance -Toleranz.

Anmerkung 18 (S.125, Zisi: „Die chaldäischen Priester…behaupteten, ein berühmter Hecht namens Oannes habe sie einst die Theologie gelehrt“): Oannes, halb Mensch, halb Fisch, ist ein Götterbote der babylonischen Religion aus den Anfängen der Zeit, wie von Berossos (302- v.u.Z.) berichtet und von Abbé Bannier erzählt wird. Es ist offensichtlich, dass Voltaire die Geschichte als Schablone benutzt, um sich über die scholastischen Grübeldebatten lächerlich zu machen.

Fünftes Gespräch

Anmerkung 20 (S.128, Gu: Könige die 300 Frauen haben, kommen nicht zu den Staatsgeschäften):
Das ist eine Anspielung auf den König Salomon und seine legendäre Polygamie (AT, I. Könige, 11, 3)
Während für Voltaire einerseits die Polygamie abzulehnen ist, kritisiert er ebenfalls das katholische Zölibat als gegen den prosperierenden Staat gerichtet. Der Abbé Saint-Pierre (=Charles Irénée Castel de Saint-Pierre) forderte dessen Abschaffung (Ouvrages de politique, vol 2, V. Observations politique sur le célibat des prêtres, Rotterdam 1733-1741 p.150-183)

Anmerkung 21 (S.128: Gu: 50 Eunuchen, um in der Pagode zu singen):
Wieder versteckt Voltaire seine Kritik an der Kirche, diesmal hinter dem Dalai Lama. Mit den Verstümmelten des Dalai Lama sind deutlich die Jungen gemeint, die man noch im 18. Jhdt. auf Befehl des Papstes kastrierte, um sie als Sopranisten im Chor des Vatikans einzusetzen (siehe: Ambrosini, Maria Luisa, Die Geheimen Archive des Vatikans, München Kösel, 1972, S.188 f. Der Autorin zufolge wurde die Jungen-Kastration von Benedikt XIV abgeschafft, andere bekannte Kastraten im 19. Jahrhundert deuten auf einen wesentlich längeren Fortbestand der Praxis hin. Als letzter Kastrat des Vatikans gilt ein gewisser Alessandro Moreschi, der von 1858 -1922 lebte) .

Anmerkung 22 (S.130: die Freundschaft):
Die Freundschaft gehört bei Konfuzius zu den fünf elementaren menschlichen Beziehungen und ist die einzige Beziehung unter Gleichrangigen. Siehe dazu auch den Artikel Amitié – Freundschaft

Anmerkung 21 (S.131 Zisi: „dass unsere guten Handlungen nur glanzvolle Sünden seien“):
In seinem Kampf gegen den Pelagianismus Julians spricht Augustinus (Contra Julianus Plegianus) den Ungläubigen ab, tugendhaft sein zu können. Sie haben vielleicht ihre Pflichten erfüllt, aber nicht wirklich Gutes getan, sondern ihre Taten waren alle mehr oder weniger schwere Sünden, weil ihnen der christliche Glaube fehlte. Ein schlechter Baum bringt keine guten Früchte hervor. S. dazu Johann Ernst, Augustinus gegen Julian, S.80 fff

Sechstes Gespräch

Anmerkung 23 (S.132, Zisi: Lob der Gastfreundschaft): Viele der frühen Chinareisenden berichteten über die große dort herrschende Gastfreundschaft, insbesondere die der kostenlosen Unterkünfte – Voltaire hat diese Einrichtung in das Eldorado seines Candide übernommen.

Anmerkung 24 (S.134, Sammoncodom lässt die Drachen steigen): Sammonocodom ist zwar nach der Enzyklopädie der siamesische Name für Buddha, doch soll er bereits lange vor Christi Geburt der Gott der Siamesen gewesen sein und sich in 550 Tieren inkarniert haben. Voltaire folgt dem jesuitischen Missionar Guy Tachard (Voyage de Siam, Paris 1686), der mehrfach nach Siam gereist war. Von ihm stammt die Geschichte über Sammonocodom, der Drachen steigen lässt und den Bäumen befiehlt, dabei nicht zu stören.

Anmerkung 25 (S.134, die Kamis, die vom Mond herunterkamen): Die Kamis sind im japanischen Shintoismus verehrte Geister oder Götter. Voltaire bezieht sich auf Engelbert Kaempfer (1651-1716), einer der ersten Europäer, die Japan bereisten. Er wurde Leibarzt des Grafen Friedrich Adolf zur Lippe, weshalb er nicht dazu kam, alles zu veröffentlichen. Erst nach seinem Tod wurden einige seiner Manuskripte veröffentlicht, Teile seines Nachlasses wurden vom Leibarzt des englischen Königs Sir Hans Sloane gekauft, übersetzt und als The History of Japan 1727 publiziert. Bereits 1729 erschienen die ersten Auflagen einer französischen Übersetzung und Christian Wilhelm Dom brachte 1777-79 unter dem Titel Engelbert Kaempfers Geschichte und Beschreibung von Japan bei Meyer in Lemgo eine deutsche Version heraus. Ausführlich dazu der Wikipediaeintrag Engelbert Kaempfer.

Philosophisches Taschenwörterbuch: Chaîne des Êtres crées – Die Kette der geschaffenen Lebewesen. (Kommentare)

Hintergrund:
Arthur O. Lovejoy, ein Philosoph aus den USA, zeigt in seinem Buch „The Great chain of being: a study of the history of an idea, Harvard, 1933, [dt.: Die große Kette der Wesen, Frankfurt/M: Suhrkamp 1985, 462 S.]“, wie sich der Gedanke von einer Kette oder Stufenleiter der (Lebe-)wesen aus der Antike bis hin zu Locke, Pope und Leibniz, Spinoza entwickelte um sich schließlich im 20. Jahrhundert ganz aus dem Bewusstsein zu verabschieden. Er sagt:
„Die Vorstellung des Kosmos als einer Kette von Wesen … fand ihre weiteste Verbreitung und Zustimmung im 18. Jahrhundert“ (S.221).
Nach Lovejoy waren Addison, King, Bolingbroke, Pope, Haller, Akenside, Thomson, Buffon, Bonnet, Goldsmith, Diderot, Lambert, Kant, Herder, Schiller, Anhänger der Vorstellung von einer ununterbrochenen Kette der Wesen, wogegen Voltaire (und in England Dr. Samuel Johnson (1709 – 1784)) den Angriff auf das ganze Gedankengebäude führten.
Platon stellt die Stufenleiter im letzten Absatz seines Timaios („Nachdem, wie gesagt, Männer entstanden waren…“) so dar, dass Gott zunächst die Männer erschuf. Aus diesen wurden dann in einem zweiten Leben Frauen, Vögel, Landtiere, Wassertiere – in absteigender Reihenfolge, je nachdem, ob sich ein Mann gut oder schlecht betragen hatte.
Vom Christentum wurde der Gedanke einer Stufenleiter, die vom einfachsten Wesen mit zunehmender Vollkommenheit immer weiter hinaufführt, gerne aufgenommen, führte sie doch direkt zum Allmächtigen selbst. Dieser christlichen Vorlage folgten auch Locke (Versuch über den menschlichen Verstand), Spinoza und Leibniz.
Alleine schon wegen dieser weitverbreiteten Hilfsfunktion für die christlichen Gottesbeweiskonstruktionen dürfte die Stufenleitertheorie für Voltaire unsympathisch gewesen sein.

Wie man sich den Übergang von der Materie zu den lebenden Wesen vorzustellen habe, war im Rahmen des Stufenleitermodells im 18. Jahrhundert Gegenstand einer intensiven Debatte um die sogenannte Spontanerzeugung. Dabei wurden erstmals auch naturwissenschaftliche Experimente zur Wahrheitsfindung herangezogen.
Antoni van Leeuwenhoeck (1632 -1723) hatte in Delft durch immer genaueren Glasschliff Lupen entwickelt, mit denen er 1674 erstmals Mikroorganismen sichtbar machen konnte. Er publizierte Zeichnungen von Bakterien, Protozoen und anderen Einzellern, was weltweit als Entdeckung des Bindeglieds zwischen der Materie und dem Lebendigen interpretiert wurde. Man fragte sich, ob diese Mini-Lebewesen direkt, „spontan“ aus der Materie entstanden sein könnten. Das ist, was als Debatte über die Spontanerzeugung die Anfänge der Mikrobiologie begründete.

Es folgen die Experimente von John Needham (1713 -1781) und Lazzaro Spallanzani (1729-1799). Needham schloss aus der Beobachtung, dass in einer Fleischbrühe, obwohl man sie so heiß gekocht hatte, dass alles Lebendige darin abgetötet worden war, trotzdem wieder Leben entsteht, dass dieses Lebendige dort spontan entstanden sein müsse.
Needhams Experiment wurde von Spallanzani widerlegt, der die Fleischbrühe ebenso wie dieser abkochte, anschließend aber luftdicht verschloss – wonach in dieser Fleischbrühe kein „spontanes“ Leben mehr entstand. Damit war bewiesen, dass die Mikroorganismen von außen in die Flüssigkeit hineingekommen sein mussten und dort nicht spontan entstanden waren.
Diderot und d’Alembert, auch d‘Holbach, vertraten interessanterweise die Position Needhams, wohl weil sie ein Argument gegen das Christentum zu liefern schien: Wenn aus der Materie spontan Leben entsteht, ist es nicht Gott, der ihr Leben und Geist eingehaucht hat.
Voltaire vertrat dagegen die (richtige) Position Spallanzanis: Aus toter Materie kann, anders als es die Bibel glauben machen will – nichts Lebendiges entstehen – und schon gar nicht spontan. Aber auch er schlussfolgert eine Art Gottesbeweis: Wenn jedes Lebewesen aus einer Keimzelle (wie die Pflanze aus einem Samenkorn) hervorgeht , stößt man am Ende der „Kette“ auf eine causa finalis, eine göttliche Endursache, die selbst keine weiteren „Verursacher“ hat (siehe Artikel Atheismus).

Trotz des eindeutigen experimentellen Gegenbeweises durch Spallanzani hielten Diderot und d’Alembert, d‘Holbach an ihrer Position fest, was zeigt, wie wenig selbst in diesen aufgeklärten Kreisen die objektive experimentelle Methode als entscheidendes Wahrheitskriterium vorgedrungen war.


Quellen:
o Lovejoy, Arthur O., The Great chain of being: a study of the history of an idea, dt.: Die große Kette der Wesen, Frankfurt/M: Suhrkamp 1985, 462 S.) hat die Geschichte der Idee von einer Stufenleiter von der Antike bis ins 18. Jahrhundert nachgezeichnet.
o Zur Geschichte der Spontanerzeugung: Paul de Kruif, Mikrobenjäger, Zürich: Orell Füssli 1927
o Voltaire diskutiert insbesondere im ersten Gespräch seines Dialogue entre Lucrèce et Poseidonios, zuerst erschienen in Mélanges III, 1756 [dt. Gespräch zwischen Lukrez und Poseidonios, in: Voltaire Kritische u Satirische Schriften, 1970, S. 77-95] die Frage nach der Entstehung der Arten. Poseidonios verteidigt gegen Lukrez die Ansicht, dass es eine Entwicklung von der Materie zum Leben nicht gegeben haben kann und es eines intelligenten Schöpfers bedurfte, um Leben entstehen zu lassen.

Die folgenden Kommentare zu einzelnen Textstellen beziehen sich mit ihren Seitenangaben auf die von uns bei Reclam herausgegebene Ausgabe des Philosophischen Taschenwörterbuchs (2020):

Anmerkung 1 (S.88, erster Absatz: „Zoophyten”): „Es war in den Augen des 18.Jahrhunderts ein großer Augenblick in der Geschichte der Wissenschaft, als Trembley im Jahre 1739 den Süßwasserpolypen Hydra wiederentdeckte (er war vorher schon von Leeuwenhoeck beobachtet worden), ein Wesen, das sofort als das langgesuchte fehlende Glied zwischen Pflanzen und Tieren begrüßt wurde. – Aristoteles‘ nebulöse Zoophyten konnten dieser Aufgabe nicht länger gerecht werden (Lovejoy, Die große Kette, S. 280f).“ Abraham Trembley (1710 – 1784) war ein Genfer Zoologe, der sich intensiv mit dem Süsswasserpolpypen Hydra beschäftigte.

Anmerkung 2 (S.88, zweiter Absatz: „.. zwischen ihm und Gott befindet sich die Unendlichkeit”):
Der Absatz ist nicht nur eine Polemik gegen die christliche Selbstüberhöhung, sondern zeigt darüberhinaus Voltaires Abneigung, die Stufenleiter mit Werturteilen zu verknüpfen, so dass ein Wesen auf der höchsten Stufe mehr wert wäre als eines auf der unteren.

Anmerkung 3 (S.88, unten und 89 oben: „.. Wo ist also die Kette?….“):
Voltaire nimmt die Vorstellung von einer Kette wörtlich, wenn es also ein Element nicht mehr gibt, bricht die Kette auseinander. Das Argument zeigt, dass Voltaire dem Konzept einer evolutionären  Abstammungslehre nicht folgt. Daher ging es ihm auch nie darum, das Bindeglied zwischen Affen und Menschen zu suchen und womöglich eine oder mehrere Untermenschenrassen zu (er-)finden. Affen und Menschen können durchaus nebeneinander und gleichwertig exisistieren, gewisse Varietäten unter den Menschen müssen nicht der einen oder anderen über- oder untergeordnet werden.
Damit setzt er sich in Gegensatz zu Leibniz („Die Natur macht keine Sprünge“) und zu d’Alembert („Die Natur bildet ein Kontinuum, das alle Wesen wie eine Kette miteinander verbindet“ ).  

Anmerkung 4 (S.89, vierter Absatz: „Jenseits der Menschen, bringen Sie, götttlicher Platon, im Himmel einige himmlische Wesen unter…“): in Phaidros 246e-247c. In Phaidon 110-111 beschreibt Platon die Existenz einer „höheren Erde“

Anmerkung 5 (S.89 unten/90 oben: „Welche Abstufung besteht, bitte, zwischen Ihren Planeten?”):
Die kosmologischen Vorstellungen Platons finden man z.B. im Timaios 38d (pdf).

Philosophisches Taschenwörterbuch: Chaîne des Événements – Die Kette der Ereignisse. (Kommentare)

Hintergrund:
Unter dem allmächtigen Dunkelschirm der Kirche war viele Jahrhunderte in die Köpfe eingehämmert, dass alles Leben streng bestimmt ist, dass Gottes Wille über Geburt, Tod, Armut, Reichtum des Menschen entscheidet und eigenes, individuelles Zutun, eigene Anstrengungen völlig überflüssig sind, weil ohnehin alles vom Schicksal vorherbestimmt ist in das man sich ohne zu murren fügen sollte. Man nennt diese Ideologie den theologischen Determinismus.

Mit zunehmendem Murren, durch die wachsende Anzahl von Menschen, die sich von Untertanen zu selbstbewussten Bürgern entwickelten, verlor der theologische Schicksalsglauben seine ideologische Kraft, die Erforschung der Natur und der sie wirklich bestimmenden Gesetze zeigte eine andere Wirklichkeit als die der christlichen Unterdrücker. Die Idee individueller Freiheit und Selbstbestimmung trat hervor, nicht über Nacht natürlich, aber dank Voltaire und den anderen Aufklärern stetig und unaufhaltsam, bis in der großen Französischen Revolution das neue, bürgerlich-antiklerikale Denken die Oberhand gewann.

Zunächst löste ein naturwissenschaftlicher Determinismus den theologischen ab, an die Stelle Gottes traten die Naturgesetze, die alles Leben streng bestimmten. Diese Argumentation ist am deutlichsten bei Leibniz, in seiner Lehre vom zureichenden Grund, zu finden. Voltaire und Emilie du Châtelet hingen ihr selbst, über den Umweg Christian Wolffs, eine zeitlang an.

Leibniz: Für jedes Ereignis gibt es einen zureichenden Grund, der es hervorgebracht hat und dessen Wirkung es ist. Von den Ursachen, die selbst Wirkungen anderer Ursachen sind, kommt man schließlich bis auf die Endursachen, also so ziemlich bis zu den Anfängen, zurück. Am Anfang aber steht natürlich Gott, weil er der angenommene erstursächliche Schöpfer aller Dinge und Ereignisse, Naturgesetze sei, der, sozusagen „nach bestem Wissen und Gewissen“, die beste aller möglichen Welten geschaffen habe.

Worum es Voltaire geht, lässt sich an einem Beispiel demonstrieren: „Warum wachen wir morgens auf? – Eventuell, weil wir genügend ausgeruht sind? Was hat dann aber schlussendlich das Aufwachen bewirkt? War es der einsetzende Regen, oder, bei offenem Fenster, das Zwitschern eines Vogels, das Beginnen des morgendlichen Berufverkehrs, das Schlagen einer Tür, das Eindringen eines Sonnenstrahls? Welche dieser Ursachen war aber die entscheidende? Oder genauer gefragt: Welches der Elemente eines Ursachenkomplexes ist oder war das entscheidende? Ist der bekannte Tropfen, der das Glas zum Überlaufen bringt, die Ursache für das Überlaufen, oder war es der schon seit langem, immer weiter tropfende Wasserhahn?

Quellen:
o Voltaire lässt in seinem Dialogue entre un Brachmane et un Jésuite sur la Nécessite et lÈnchainement des Choses, zuerst erschienen in Mélanges III, 1756 [dt. Gespräch zwischen einem Brahmanen und einem Jesuiten über die Notwendigkeit und die Verknüpfung der Dinge, in: Voltaire Kritische u Satirische Schriften, 1970, S. 71-76] die Frage diskutieren, wie Ursache und Wirkung zusammenhängen.

Die folgenden Kommentare zu einzelnen Textstellen beziehen sich mit ihren Seitenangaben auf die von uns bei Reclam herausgegebene Ausgabe des Philosophischen Taschenwörterbuchs (2020):

Anmerkung 1 (S.84, zweiter Absatz: „Das System der Notwendigkeit …wurde zu unserer Zeit … von Leibniz erfunden”: In ihren Institutions de physique (Paris 1740; dt.: ,Der Frau Marquisinn von Chastellet Naturlehre an Ihren Sohn, Renger: Halle, 1743) stellte Voltaires Lebensgefährtin Emilie du Châtelet Leibniz‘ Lehre vom zureichenden Grund vor: “Alles, was existiert, bedarf eines anderen durch das es existiert, auf das man seine Existenz zurückführen kann“ und alles Denken beruht auf dem Satz vom zureichenden Grund weil: „Niemand legt sich auf etwas mehr als auf etwas anderes fest, ohne dass es dafür einen hinreichenden Grund gäbe, der ihn annehmen lässt, dass dieses eine dem anderen vorzuziehen sei” (§ 8).
In seiner Korrespondenz mit Friedrich dem Großen, damals (1738) noch Kronprinz, überzeugt ihn Voltaire von seiner skeptischen Sicht vom Determinismus Leibniz’ und Christian Wolffs, während auf der anderen Seite Manteuffel und sein Kreis vergeblich versuchten, Friedrich für ihre Interpretation, einer Art Verschmelzung von Aufklärung und Christentum, zu gewinnen (siehe dazu: J.Bronisch, Der Kampf um Kronprinz Friedrich, Wolff gegen Voltaire, Landt: Berlin 2011, S.61 ff).
Insbesondere ist es für Voltaire klar, dass, wenn immer wieder das kleinste Ereignis eine gewaltige Wirkung hat (z.B. der Tropfen, der das Glas zum Überlaufen bringt), es mit dem zureichenden Grund nicht allzu weit her sein kann: Man kann oft genug Ereignisse nicht aus einer eindeutigen Ursache herleiten. Wenn das so ist, landet man beim immer weiter Zurückgehen der Ursachensuche auch nicht zwangsläufig bei Gott.

Anmerkung 2 (S.85, vierter Absatz: „.. aber nicht jede Ursache hat ihre Wirkung”):
Gerade wenn es einen Ursachenkomplex gibt, also mehrere Elemente, die nur gemeinsam ein Ereignis bewirkten, kann umgekehrt nicht von jedem einzelnen auf die spezielle Wirkung geschlossen werden. David Hume bearbeitete dieses Thema ausführlich und kam zu dem Schluss, dass die Vorhersagbarkeit von Ereignissen aufgrund von Erfahrungen zwar möglich ist, aber allenfalls in den Grenzen von mehr oder weniger wahrscheinlichen Annahmen (siehe dazu auch unsere Anmerkungen zum Artikel Gewissheit).

Philosophisches Taschenwörterbuch: Certain, Certitude – Gewiss, Gewissheit. (Kommentare)

Hintergrund:
Voltaire bezieht sich in seinem, in Anbetracht der Bedeutung dieser zentralen philosophischen Fragestellung nach der Gewissheit menschlicher Erkenntnis, sehr kurzen Artikel kritisch auf den 1752 im zweiten Band der Enzyklopädie erschienenen, dagegen sehr langen (26 seitigen) Artikel Gewissheit (frz.:Certitude, engl.:Certainty) des Abbé de Prades. Jean-Marie de Prades (1720-1782), der mit Diderot befreundet war, hatte in seiner Dissertation zu zeigen versucht, dass man sogar auf Grundlage der sensualistisch-empirischen Grundthese Lockes („Nichts ist im Verstand, was nicht vorher in den Sinnen gewesen wäre“), die biblische Behauptung, dass Jesus Wunder getan habe, rechtfertigen kann. Er war mit dieser Idee auf den erbitterten Widerstand der Kirche gestoßen, die keine Ruhe gab, bis man de Prades sämtliche universitären Titel aberkannt und ihn 1752 außer Landes vertrieben hatte (Friedrich der Große nahm ihn als seinen Vorleser in Berlin auf und rettete ihn vor dem sicheren Untergang).
Die Kirche lehnte den Empirismus-Sensualismus als Irrlehre ab, insbesondere, weil er den christlichen Glauben an eine vernunftbegabte, von Gott eingepflanzte Seele ablehne, die alleine den Menschen von einem Tier und von einer Maschine unterscheide. Eine Position, die sie, Descartes missbrauchend, an den französischen Universitäten als allein gültige Lehre durchgesetzt hatte.
In seinem Enzyklopädie-Artikel Certitude versucht de Prades nun eine Art Kombinationslehre von Zeugenaussagen zu liefern und behauptet, dass eine Tatsachenbehauptung um so glaubwürdiger sei, je mehr Menschen (also tout Paris) davon berichteten. Auch Erzählungen über Wundertaten erscheinen ihm als belegt, wenn nur die Berichtenden glaubwürdig waren. So kommt er – auch darin John Locke folgend – schließlich zur Einschätzung, dass die Evangelien hohe Glaubwürdigkeit beanspruchen könnten, weil viele ernsthafte Menschen zu biblischen Zeiten über das Leben Jesus berichtet hätten und widerspricht damit dem Herausgeber Diderot. Diderot hält (in seinen Pensées philosophiques) weder die Evangelien, noch Berichte über Wunder, noch Tatsachenberichte bloß deshalb für glaubwürdig, weil sie von Vielen geteilt werden. Eine höhere Anzahl von Zeugen erhöht die Glaubwürdigkeit einer Aussage nicht (siehe unten, Anmerkung 6).

John Locke An Essay Concerning Human Understanding (1689 dt.: Versuch über den menschlichen Verstand)
Zur Gewissheit der Offenbarung:
„Nehmen wir zum Beispiel an, vor einigen Generationen wäre geoffenbart worden, dass die Summe der drei Winkel eines Dreiecks gleich zwei rechten sei. Nun könnte ich der Wahrheit dieses Satzes auf Grund der Glaubwürdigkeit der Überlieferung, dass er geoffenbart worden sei, zustimmen. Diese würde mir jedoch nie eine ebenso große Gewissheit geben, wie die Erkenntnis der Wahrheit auf Grund einer Vergleichung und Messung meiner eigenen Ideen von zwei rechten Winkeln und der drei Winkel eines Dreiecks“ (Essay, Kap.4, §22).
und :
„Daher kann kein Satz als göttliche Offenbarung anerkannt werden, ..wenn er unserer klaren intuitiven Erkenntnis widerspricht“ (z.B. dass derselbe Körper nicht gleichzeitig an zwei Orten sein kann). (Essay, Kap.18, §5)
Locke setzte sich damit in diametrale Opposition zur katholischen Lehre, die bereits im 5. Laterankonzil (1512–1517) festgelegt: hatte, dass kein Satz in der Philosophie wahr sein kann, wenn er im Gegensatz zur christlichen Glaubenslehre steht. Die Kirche fügte das Werk ab 1737 ihrer Liste der verbotenen Bücher hinzu.

David Hume (1711-1764): An Enquiry Concerning Human Understanding. (1748), dt. Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand).
Zur Gewissheit von Erfahrungstatsachen:
Wenn eine Billardkugel mittig auf eine zweite trifft, wird diese sich wegbewegen, während jene zum Stehen kommt. Zwar wird man sagen, dass die Fortbewegung der zweiten mit diesem Stoß in Zusammenhang stand, aber kann man auch sagen, dass das Auftreffen der ersten die Fortbewegung der zweiten bewirkte und falls ja, wäre man berechtigt, diese Wirkung als notwendige oder das ganze gar als einen gesetzmäßigen Ursache-Wirkungszusammenhang zu bezeichnen? (Enquiry, E61)
Und außerdem: „Bei einigen Ereignissen hat es sich gezeigt, dass sie beständig in Verbindung stehen; andere zeigten sich als veränderlicher und manchmal unsere Erwartungen enttäuschend, so dass es in unserem Urteil über Tatsachen alle erdenklichen Grade der Sicherheit gibt, von der höchsten Gewissheit bis zur niedersten Art moralischer Evidenz (Enquiry, Über Wunder, E90).
Hume hatte die zweifelhafte Ehre, dass ab 1761 alle seine Werke auf die Liste der verbotenen Bücher der Catholica kamen.
Voltaire besaß die Werke Humes im Original, teilweise auch in französischer Übersetzung und stand seinen Auffassungen sehr nahe.

Die folgenden Kommentare zu einzelnen Textstellen beziehen sich mit ihren Seitenangaben auf die von uns bei Reclam herausgegebene Ausgabe des Philosophischen Taschenwörterbuchs (2020):

Anmerkung 1 (S.81, Ein falscher Taufschein: „Sie haben immer noch Gewissheit von etwas, das nicht so ist“): Schriftliche Dokumente können keine absolute Gewissheit beanspruchen, sie kommen über eine bestimmte Wahrscheinlichkeit nicht hinaus.
Voltaire bezieht sich auf Pierre Bayle, dessen historische Quellenkritik Vorbild für die Geschichtsschreibung Voltaires und für die Aufklärung insgesamt war (vgl. dazu: Sandra Richter, Öffentliche Urteilskräfte und ihr Literaturarchiv (pdf), Zeitschrift für Ideengeschichte, 2019).
Auch Voltaires eigener Taufschein enthielt im Übrigen eine falsche Geburtsangabe. War er nach eigener Aussage am 20.2.1694 geboren, so trägt sein Taufschein, dem die meisten seiner Biographen folgen, das Datum 21.11.1694.

Anmerkung 2 (S.81, dritter Absatz: „Ist die Sonne aufgegangen, ist sie untergegangen?“): Für Ptolemäus (Almagest, 140 n.u.Z.) schien es evident, dass sich die Sonne um die Erde dreht, weil sie offensichtlich im Laufe eines Tages über den Himmel wandert (geozentrisches Weltbild).
Erst Kopernikus bewies, dass das Gegenteil richtig ist. Und Newton lieferte durch die Entdeckung der Gravitationsgesetze (auf das Weltall angewendet) die mathematischen Grundlagen zur Berechnung der Planetenbewegungen. Voltaire hatte Newtons Werk zusammen mit seiner Lebensgefährtin Emilie du Châtelet in Frankreich bekannt gemacht (Elemente der Philosophie Newtons (1748), siehe hier insb. Abschnitt 3.4. „Dass die Gravitation und die Anziehung den Lauf aller Planeten lenken“).
Den Übergang vom geozentrischen zum heliozentrischen Weltbild erläutert allgemeinverständlich: https://astrokramkiste.de/heliozentrisches-weltbild.

Anmerkung 3 (S.81, vierter Absatz: „Die Zauberei, das Wahrsagen…sind die sicherste Sache der Welt gewesen“): Voltaire bezieht sich auf David Humes Enquiry (Kapitel X, „Über Wunder“).

Anmerkung 4 (S.82, zweiter Absatz: „…doch die mathematische Gewissheit ist unwandelbar und ewig“):
John Locke: „Alle mathematischen Ausführungen über die Umwandlung eines Kreises oder Kegelschnittes in ein Viereck oder über andere Theile der Mathematik beziehen sich nicht auf das Dasein dieser Gestalten, vielmehr bleiben ihre Beweise, die nur von ihren Vorstellungen bedingt sind, unverändert gültig, mag ein Kreis oder Viereck in der Welt bestehen oder nicht“ (Essay, Kap.4 Von der Wirklichkeit des Wissens, §8).
Und auch Hume unterscheidet die Aussagen in der Geometrie (Satz des Euklid), Algebra und Arithmetik, die durch bloße Denktätigkeit geprüft werden können, deren Gewissheit unabhängig davon bestehen bleibt, „ob im Weltall etwas existiert“ von Tatsachen- oder Existenzbehauptungen. Eine Tatsache kann sein oder nicht sein, auch das Gegenteil kann stimmen, ohne dass es zu einem Widerspruch käme. So ist diese Art von Aussagen stets mehr oder weniger wahrscheinlich. Aussagen in der Geometrie können dagegen absolute Gewissheit beanspruchen (Enquiry, E41).

Anmerkung 5 (S.82, dritter Absatz: „Ich existiere, ich denke, ich empfinde Schmerz“):
John Locke: „Die Gewissheit der inneren Wahrnehmung ist der geometrischen ebenbürtig.
Denn nichts kann offenbarer für uns sein als das eigene Dasein. Ich denke, ich überlege, ich fühle Lust oder Schmerz; kann all dies offenbarer für mich sein als das eigene Dasein? Selbst wenn ich alles Andere bezweifle, so lässt mich dieses Zweifeln mein eigenes Dasein wahrnehmen und daran nicht zweifeln. Denn wenn ich Schmerz empfinde, so habe ich offenbar eine ebenso sichere Wahrnehmung von meinem eigenen Dasein, wie von dem gefühlten Schmerz; und wenn ich weiß, dass ich zweifle, so habe ich eine ebenso sichere Wahrnehmung von dem zweifelnden Dinge, als von dem Gedanken, den ich Zweifel nenne. So lehrt uns die Erfahrung, dass wir ein anschauliches Wissen von unserm eigenen Dasein haben, und eine innere untrügliche Wahrnehmung, dass wir sind. Bei jedem einzelnen Fühlen, Denken oder Überlegen sind wir uns des eigenen Seins bewusst, und hier fehlt uns nichts an der höchsten Gewissheit“. (Essay, Kap.4 Von der Wirklichkeit des Wissens, §3).

Anmerkung 6 (S.82, vierter Absatz:„Mit der Gewissheit, die durch Augenschein übermittelt wird… ist es nicht dasselbe“):
Voltaire folgt hier John Locke und David Hume die sich mit der Gewissheit von Aussagen über die Außenwelt beschäftigten. Sie können mehr oder minder wahrscheinlich sein. Nach Hume sind Berichte über Wunder abzuweisen, wenn sie den mit höchster Wahrscheinlichkeit versehenen menschlichen Grunderfahrungen widersprechen -und das tun sie in aller Regel.
Voltaire widerspricht damit explizit auch de Prades, der in seinem Enzyklopädie-Essay den Anhängern des Skeptizismus zurief: „Ihr erkennt die Existenz der Stadt Rom an, an der Ihr nicht zweifeln könnt“ und damit bewiesen zu haben glaubte, dass auch Aussagen über die Außenwelt absolute Gewissheit beanspruchen könnten.
Diderot hatte zur Bedeutung der großen Zahl von Zeugen geschrieben (Pensées philosophiques (XLVI )): „Ein ganzes Volk, werden Sie sagen, ist Zeuge dieser Tatsache und Sie wagen es, sie zu leugnen? Ja, ich traue es mich, solange sie mir nicht durch die Autorität von jemandem bestätigt wird, der nicht zu Ihrer Partei gehört, und ich nicht weiß, dass dieser jemand unfähig zu Fanatismus und Verführung war. Mehr noch: Wenn mir ein Autor von ausgewiesener Unparteilichkeit erzählt, dass sich in der Mitte einer Stadt ein Abgrund auftat; dass die Götter, die zu diesem Ereignis befragt wurden, antworteten, dass er sich wieder schließen werde, wenn man das Wertvollste, was man besitzt, hineinwirft; dass ein tapferer Ritter sich selbst hineinstürzte und dass sich dadurch das Orakel erfüllte: Ich werde ihm viel weniger glauben, als wenn er einfach gesagt hätte, dass sich ein Abgrund auftat und man viel Zeit und Arbeit verwendete, um ihn wieder zu füllen. Je weniger wahrscheinlich eine Tatsache ist, desto mehr verliert das Zeugnis der Geschichte an Gewicht. Ich würde ohne weiteres einem einzigen ehrlichen Mann glauben, der mir mitteilt, dass Seine Majestät soeben einen vollständigen Sieg über die Alliierten errungen hat; aber wenn mir ganz Paris versichern würde, dass in Passy ein Toter wieder zum Leben erwacht ist, würde ich das nicht glauben. Ob ein Historiker uns etwas aufdrängt oder ein ganzes Volk sich irrt, macht es nicht zum Wunder“ (dt., übers. Correspondance Voltaire).

Anmerkung 7 (S.83, erster Absatz: „Man hat in der Enzyklopädie eine sehr amüsante Geschichte abgedruckt“):  Voltaire verweist am Ende seines Artikels explizit auf den Adressaten seiner Ausführungen zum Thema Gewissheit. Dass er de Prades sehr schonend kritisiert, mag man der Tatsache zuschreiben, dass dieser als Opfer der katholischen Kirche 1752 nach Preußen geflüchtet war und nicht mehr in sein Heimatland zurückkehren durfte.

Anmerkung 8 (S.83, letzter Absatz:„Der andere Autor… schreibt gegen sich selbst und wollte auch lachen“): Dieser andere Autor ist Diderot, der als Herausgeber der Enzyklopädie den Artikel Gewissheit von de Prades in seiner Vor- und Nachbemerkung zustimmend, überschwänglich positiv kommentiert, obwohl de Prades Argumentation der seinigen diametral entgegengesetzt ist. Voltaire interpretiert dies als ironische Scharade Diderots.

Philosophisches Taschenwörterbuch: Bien. Souverain Bien – Das Gute. Das Höchste Gut (Kommentare)

Hintergrund:
Thomas Hobbes (1588 -1679) stellt sich der Idee vom „Guten an sich“ entgegen. Nach ihm liegt das Gute im Begehren und er stellt fest, dass wir nach immer weiterem „Guten“ begehren. Das Ende des Begehrens wäre gleichbedeutend mit dem Tod (Vom Menschen XI.15). Für John Locke (1632 – 1704) ist das Gute ganz einfach das, was Lust erregt (Versuch über den menschlichen Verstand II,21 §42 ff). Ähnlich ist auch der kleine Essay von Voltaires langjähriger Lebensgefährtin Emilie du Châtelet „Rede über das Glück“ zu verstehen, der bis heute nichts von seiner lebendigen Überzeugungskraft verloren hat: Glück wird darin nicht ethisch moralisch überhöht, sondern als Moment erstrebenswerten Wohlgefühls verstanden, von dem wir möglichst viele erleben sollten, um unser Leben angenehm zu machen. Emilie du Châtelet war auch die Erstübersetzerin der Bienenfabel von Manedeville, in der er behauptet, dass persönliche Tugend (Genügsamkeit, Friedfertigkeit) für den Fortschritt und die Prosperität der Gesellschaft weniger förderlich seien als zum Beispiel Luxus und Verschwendung.

Ganz anders die Philosophen der Antike, die sich mit dem, was als das höchste Gut anzusehen sei, auseinandersetzten. Was Menschen erstreben, was sie erreichen wollen, kann man als „das Gute“ bezeichnen. Es gibt Güter, die man nicht um ihrer selbst willen erstrebt, sondern um ein weiteres, höheres zu erreichen. Reichtum zum Beispiel wäre solch ein Gut, mit dem man sich anderes sichern will, etwa Wohlstand oder persönliche Unabhängigkeit. Welches ist aber dann das höchste aller Güter, das „summum bonum“? Und: ist es für alle das gleiche, oder ist es für jeden etwas anders?
Platon meint, Gerechtigkeit und Schönheit wären höchste Güter, denn sie erstrebe man um ihrer selbst willen und behauptet, dass wir die Idee eines absolut Guten in uns tragen, nach dem wir unser Handeln ausrichten. Die Vorstellung vom Höchsten Gut sei wie die Sonne, die alles erleuchtet, sie sei die Antriebskraft allen menschlichen Handelns (Politeia Kapitel VI).

An diese Vorstellung Platons vom höchsten Gut brauchte das Christentum nur seinen Gott anzuheften, als ein „summum bonum“, dem man zustrebt, das alles Handeln bestimmt und dem man schlussendlich im Jenseits begegnet. Ähnlich formulierte es Augustinus (De civitate Dei, [dt. Vom Gottesstaat], XIX).

In seinen kurzen Artikeln De la chimère du souverain bien und auch in Le songe de Platon aus dem Jahr 1756 kritisiert Voltaire die Ideenlehre Platons, weil in ihr Vorstellungen für Realität ausgegeben werden, die nur in Platons Theorie exisitieren.

Abschließend sei auf den Artikel „Bien“ des Abbé Claude Yvon in Diderot’s Enzyklopädie hingewiesen, der in der Tugend das höchste Gut erblickt und behauptet, dass einem das tugendhafte Leben post mortem im Paradies vergütet würde.

Die folgenden Kommentare zu einzelnen Textstellen beziehen sich mit ihren Seitenangaben auf die von uns bei Reclam herausgegebene Ausgabe des Philosophischen Taschenwörterbuchs (2020):

Anmerkung 1 (S.68, zweiter Abschnitt: „[Das höchste Gut] .. uns ergötzt und unfähig macht noch etwas anderes zu empfinden“) Wie Voltaire an anderer Stelle schrieb : „Die Philosophie verspricht das Glück, aber die Sinne verschaffen es“ (carnets), so hält er sich auch hier an das sinnliche Empfinden: Das Gute ist mit der Lust verwandt, das Böse mit dem Schmerz.

Anmerkung 2 (S.68, dritter Abschnitt: Fabel von Kantor] .Die Fabel positioniert das Gute in die Nähe dessen, was Lust erregt und stammt ursprünglich von Sextus Empiricus (Kap. 3, ), wird aber auch in dem Enzyklopädieartikel (s.o.) wiedergegeben.

Anmerkung 3 (S.69, Voltaire lehnt die Auffassung von der Tugend als dem höchsten Gut ab. Tugendhaft zu sein, besteht für ihn allein darin, dem Nächsten Gutes zu tun (-> Artikel Vertu – Tugend).

Philosophisches Taschenwörterbuch: Bêtes – Tiere (Kommentare)

Hintergrund:
Um sich nicht gegen die Kirche richten zu müssen, für die Tiere seelenlos und dem Menschen untertan sind, kritisiert Voltaire den auch unter Aufklärern hochgeschätzten Descartes.
Descartes spricht im 5. Abschnitt seines Discours sur la méthode 1637 (s. Werke VIII, n. Julius Kirchmann S. 65: Abhandlung über die Methode) den Tieren ab, über Vernunft zu verfügen und betrachtet sie als nach einem fixen Bauplan verfertigte, maschinengleiche Lebewesen. Gott schuf sie in einer Perfektion, wie sie von Menschen nicht hergestellt werden könnten. Indem er aber die Vernunft (eine denkende Seele) für die Menschen reservierte, hob er sie aus dem Tierreich heraus und ermöglichte ihnen, sich ihre Lebensweise aus eigenem Antrieb (Willen) frei zu gestalten. Tiere dagegen folgen ihrem angelegten Bau- und Funktionsplan, aus dem sie nicht ausbrechen können.
Auch antworten Menschen auf äußere Ereignisse in ganz differenzierter Weise, während Tiere darauf immer in der genau festgelegter Weise reagieren:

«Car, au lieu que la raison est un instrument universel, qui peut servir en toutes sortes de rencontres, ces organes ont besoin de quelque particulière disposition pour chaque action particulière ; d’où vient qu’il est moralement impossible qu’il y en ait assez de divers en une machine, pour la faire agir en toutes les occurrences de la vie, de même façon que notre raison nous fait agir».

Descartes, Discours

Auch die den Tieren fehlende Sprache sieht Descartes in diesem Zusammenhang: selbst die einfältigsten, oder gar geistig behinderten Menschen können Wörter kombinieren, um ihre Gedanken mitzuteilen. Selbst Taubstumme erfinden zu diesem Zweck Zeichen. Tiere vermögen solches – wozu man nur wenig Vernunft benötigte – nicht; was zeigt, dass sie gar nicht über Vernunft verfügen.

Das Besondere des Menschen ist also, dass er über Denkvermögen verfügt. Es muss geschaffen worden sein, da es niemals aus der Materie hervorgegangen sein kann. Descartes geht davon aus, dass dieses Geschaffene eine denkende Seele ist, die Gott der Materie eingepflanzt hat. Es folgt der bemerkenswerte Hinweis, dass Gottesleugner, indem sie meinen, Tiere hätten eine Seele, die von der gleichen Natur wie die der Menschen sei, auch annehmen müssten, dass Menschen wie Tiere nach dem Tode nichts zu fürchten oder zu hoffen haben. Dies sei ein Irrtum, der schwache Geister mehr als alles andere vom Pfad der Tugend ableite.

Zunehmend wurde im 18. Jhdt. die strikte Trennung zwischen Mensch und Tier abgelehnt, mehr noch, der Mensch geriet nun auch als ein Mängelwesen in den Blick, das, verglichen mit den Tieren, oft sehr viel schlechter an die Umweltbedingungen angepasst ist (Herder: „Als nacktes, instinkloses Tier betrachtet, ist der Mensch das elendeste der Wesen“, Abhandlung über den Ursprung der Sprache). Das ist aber gerade der Grund für die Höherentwicklung: Wer von Natur aus Mangel leidet, entwickelt Verstandeskräfte, um ihn zu beheben.

Zur Debatte über das Wesen der Tiere im 18 Jhdt. (eine gute Übersicht gibt Ulrich Richtmeyer in La Mettrie, Die Tiere sind mehr als Maschinen, 2021):

o kurzer Artikel „Bêstes“ aus dem Jahr 1747 im Journal de Trévoux der Jesuiten („Tiere sind ohne Vernunft“, berichtet über die Antike, die den Tieren die Fähigkeit zu Denken attestiert und referiert zeitgenössische Veröffentlichungen zum Thema).
o Paradies, Ignace-Gaston, Discours de la connaissance de bêtes (1672), nimmt an, dass Tiere über Intelligenz und Gefühle verfügen, aber wir über sie nicht genug wissen und lehnt die Maschinenthese ab
o Racine, Louis, Première épître sur l’âme des bêtes, lehnt die Maschinenthese Descartes ab
o La Mettrie, L’Homme machine 1747 (dt. Der Mensch eine Maschine, 1875) indem er Mensch und Tier betrachtet, als seien sie Maschinen, fokussiert er auf die körperlichen Vorgänge, die sich qualitativ fast gar nicht unterscheiden. Damit brachte er die religiöse Umgebung gegen sich auf und musste aus Frankreich und Holland fliehen)
o La Mettrie, Julien Offray de, Die Tiere sind mehr als Menschen, hrsg. Ulrich Richtmeyer Berlin: Kadmos, 2021
o Bayle, Pierre, Artikel Rorarius im Dictionnaire historique et critique. v. 1697 (dt. Rorarius‚ im Historisch kritischen Wörterbuch, 1744),
Der Artikel bezieht sich auf das Werk Quod animalia bruta (1654) von Hieronymus’ Rosarius, kath. Nuntius in Ungarn, der Tieren Vernunft zusprach und meinte, sie würden sich ihrer sogar besser bedienen als die Menschen.
o Reimarus, Hermann Samuel, Allgemeine Betrachtungen über die Triebe der Tiere, 1762. In seinem der Aufklärung verbundenen Ansatz wandelt er auf den Spuren von La Mettrie, indem er Tiere und Menschen, der christlichen Lehre ganz entgegengesetzt, als wesensgleich betrachtet.

Philosophisches Taschenwörterbuch: Beau, Beauté – Schön, Schönheit (Kommentare)

Hintergrund:
Voltaires Artikel Schönheit scheint aus dem religionskritischen Rahmen des Philosophischen Taschenwörterbuchs herauszufallen. Zum Beispiel hätte das Schöne als Antithese zu einem Christentum entwickelt werden können, das die Menschheit jahrhundertelang mit eintönigen Ikonen und monotoner Musik langweilte. Davon ist in dem Artikel nicht die Rede. Auch nicht von Leibniz, der seiner Vorstellung von Gottes Schöpfung als der „besten aller möglichen Welten“ die von der „vollkommensten Schönheit, die möglich ist“, zur Seite stellte (GP VII,74, 76).

Stattdessen geht es ausschließlich darum, die Idee vom Absolut Schönen, wie sie seit Platon (Phaidros, Hippias maior, Symposium) herumspukt, ad absurdum zu führen. In der Renaissance perfektionierte die sogenannte Neuplatonische Schule Platons Idee vom Absolut Schönen zu einem Stufenmodell, auf dem man vom irdisch Schönen zum Absolut Schönen gelangt, und weiter auf allerhöchster Stufe zum Christengott selbst (Es war nicht von ihnen beabsichtigt, aber vielleicht entstand so eine Art ideologischer Schutz, unter dem – christlich verbrämt – Meisterwerke wie die Michelangelos, etwa der nackte David mit seinem schönen Po, entstehen konnten, ohne dass Papst und Sittenwächter etwas dagegen unternehmen konnten. Dass Michelangelo seine Kunstwerke mit religiösem Antrieb schuf, zeigt D. Krunic in Michelangelo Buonarotti – Seine Dichtungen).
Diese religiöse Überhöhung des Schönen und ihre philosophische Rechtfertigung ist es, gegen die Voltaire seinen kurzen Artikel schreibt.
Was wir als schön bezeichnen, ist bereits auf der „untersten Stufe“ relativ, wie kann es da sein, dass auf höherer Ebene, wenn es um Kunstwerke geht, ein alle Kulturkreise übersteigender Begriff des Schönen existierte? Weil relativ ist, was wir als schön empfinden; kann es eine allen Menschen gemeinsame Idee des Schönen nicht geben und schon gar nicht das religiös aufgeladene Absolut Schöne.

Die Debatte, was das ist, das wir als das Schöne bezeichnen, worauf also unser ästhetisches Urteil gründet, gewann im 18. Jahrhundert deutlich an Fahrt. Voltaire beschäftigte sich, anders als Diderot, nicht systematisch mit dem Thema, wenn er auch zur Schönheit in der Dichtkunst einiges verfasst hatte (etwa: Essai sur la poésie épique, 1732). Er hatte aber den Eindruck, dass sich die Argumente der Philosophen im Kreise drehen (wie bei Hutcheson: Schön ist, was gefällt, es gefällt weil es Lust erregt. Lust erregt es, weil wir einen inneren Sinn für das Schöne haben…).

Im 18. Jhdt zum Thema erschienen:
– Crousaz, Jean-Pierre de, Traité du beau, Amsterdam: François l‘Honoré 1715, 302 S.
– André, Yves Marie, Essai sur le beau 1741
– Hutcheson, Francis, Original of our Ideas of Beauty and Virtue (dt. Über den Ursprung unserer Ideen von Schönheit und Tugend) London, 1726.
– Diderot, Denis, Beau, in: Encyclopédie, Bd 2, 1752, S. 169–181, siehe: The Encyclopedia of Diderot & D’Alembert, Collaboration Translation Project engl./frz.
– Dubos, Jean Baptiste, Réflexions critiques sur la poésie et la peinture, Paris 1719 dt.: Kritische Betrachtungen über die Poesie und Mahlerey, Kopenhagen : Mumm, (1760 -1761), 3 Bd. 461 S., 526 S., 287 S.
– Hume, David, Of the standard of Taste, dt.: Von der Grundregel des Geschmacks, in: Vier Abhandlungen, Quedlinburg und Leipzig, bey Andreas Franz Biesterfeld, priviligirten Buchhändler, 1759.
– Batteux, Charles, Les beaux-arts réduits à un même principe, Paris 1746, dt.; Einleitung in die Schönen Wissenschaften, Dritte und verbesserte Auflage, Leipzig: Weidmanns Erben und Reich, 1760, 4 Bd.

Die folgenden Kommentare zu einzelnen Textstellen beziehen sich mit ihren Seitenangaben auf die von uns bei Reclam herausgegebene Ausgabe des Philosophischen Taschenwörterbuchs (2020):

Anmerkung 1  (S.63, erster Satz: „Fragen Sie eine Kröte, was Schönheit ist…“): Hinter dieser scheinbar so launigen Einleitung steckt die wichtige Erkenntnis, dass, was wir (visuell) als schön empfinden, wesentlich durch die Proportionen und Beschaffenheiten unseres Körpers bestimmt wird. Montesquieu (lettres persanes) formuliert es, allgemeiner, so: „Wir beurteilen die Dinge immer nur durch einen insgeheimen Rückbezug auf uns selbst“.

Anmerkung 2 (S.63, zweiter Absatz: „Wenden Sie sich schließlich an die Philosophen, sie werden Ihnen mit verworrenem Geschwätz antworten..“): Voltaire hält es nicht für notwendig, sich hier mit den Gedanken und Theorien der Philosophen auseinanderzusetzen. Das tat Diderot ausführlich in seinem Artikel Beau der Enzyklopädie, wo er sich insbesondere mit Francis Hutcheson (1694 – 1758) beschäftigt, der von einem angeborenen Sinn für das Schöne ausgeht.

Anmerkung 3 (S.63, dritter Absatz: „welch ein schönes Medikament…“): Voltaire zeigt, dass die Zweckmäßigkeit oder Nützlichkeit nicht, wie Shaftesbury glaubt, der Grund für unser Empfinden des Schönen sein kann. Diderot, der Shaftesburys Text (Inquiry concerning Virtue and Merit, in: Characteristicks of Men, Manners, Opinions, Times, London, 1711 ) ins Französisch übersetzt hatte (Principes de la philosophie morale; ou Essai de M. S*** sur le mérite et la vertu, Amsterdam: Zachaerie Chatelain, 1745, 297 S.) gibt dessen Auffassung so wieder: „Dass es nur ein Schönes gibt, dessen Grundlage die Nützlichkeit ist: So ist alles, was so organisiert ist, dass es am vollkommensten die Wirkung hervorbringt, die man beabsichtigt hat, das Allerschönste“ (Artikel Beau). Voltaire bezieht sich offenbar darauf und zeigt in seiner komischen Zuspitzung mit dem „schönen Medikament“, dass diese Erklärung absurd ist. Schade, dass er Immanuel Kants Kritik der Urteilskraft (1790) nicht mehr lesen konnte, es wäre interessant gewesen zu erfahren, was er zu einer Theorie gesagt hätte, die das Schöne einerseits in seinem Sinne extrem subjektiviert, andererseits aber mit seiner Diskurstheorie wieder voll und ganz in die Gemeinschaft der Menschen integriert.

Anmerkung 4 (S.63, dritter Absatz: „Er gab zu, dass die Tragödie in ihm diese beiden Gefühle wachgerufen hatte…“): Voltaire folgt hier dem empirisch-experimentellen Ansatz von J.B. Dubos, nachdem man bei der Untersuchung des Schönen mit dem beginnen soll, was wir unmittelbar subjektiv als schön empfinden, um erst dann, darauf aufbauend, zu eventuellen Verallgemeinerungen fortzuschreiten.