Die Gegner des Christentums, vorgestellt von Voltaire, in: „Lettres sur Rabelais“ (1767), Abschnitte III-X. Erstmals übersetzt und kommentiert von Rainer Neuhaus (2024).

Lettres à S. A. MGR Le Prince de ***** sur Rabelais et sur d’autres Auteurs accusés d’avoir mal parlé de la Religion chrétienne

Die Lettres sur Rabelais erschienen 1767. Der Prinz, an den sie gerichtet sind, war Karl Wilhelm Ferdinand von Braunschweig-Lüneburg (1735-1806).
Unsere Übersetzung ist eine vorläufige Arbeitsdatei, zunächst ohne die Briefe I., II., VIII., IX., X., für die bereits eine Übersetzung (Voltaire, Kritische und Satirische Schriften, München: Winkler 1970) vorliegt.
(Stand 23.3.2024)

III. Brief: Über Vanini

Mein Herr,
um Ihre Bitte zu erfüllen, Ihnen etwas über Vanini zu berichten, kann ich nichts Besseres tun, als Sie auf den dritten Abschnitt des Artikels Atheismus im Philosophischen Wörterbuch zu verweisen; ich will zu den angemessenen Gedanken, die Sie dort finden werden, hinzufügen, dass eine Biographie Vaninis im Jahre 1717 in London gedruckt wurde. Sie ist Milord North und Crey gewidmet1. Ein französischer Flüchtling, sein Kaplan, hat sie geschrieben2. Um den Charakter dieser Person zu verstehen, genügt es zu wissen, dass er sich in seiner Geschichte auf das Zeugnis des Jesuiten Garasse3 stützt, des absurdesten und unverschämtesten Verleumders und zugleich des lächerlichsten Schriftstellers, den es je unter den Jesuiten gegeben hat. Hier sind die Worte Garasses, wie sie der Kaplan zitiert hat und wie sie wirklich in der merkwürdigen Doctrine4 dieses Jesuiten (S. 144), zu finden sind:

„Was Lucile Vanini betrifft, so war er ein Neapolitaner, ein Mann aus dem Nichts, der ganz Italien und als Pedell auch einen guten Teil Frankreichs auf der Suche nach freigiebigen Ernährern durchstreift hatte. Dieser böse Schuft, der im Jahre 1617 in die Gascogne gekommen war, begann sein Unkraut dort auszusäen. In der Annahme, Köpfe gefunden zu haben, die für seine Vorschläge empfänglich waren, beabsichtigte er, eine reiche Ernte der Gottlosigkeit einzufahren. Er schlich sich unverschämt in die Adelshäuser ein, um es sich dort so bequem zu machen, als wäre er ein Hausangestellter und als wäre er seit langem mit den Eigenheiten des  Landes bekannt; aber er traf auf Gemüter, die stärker und entschlossener in der Verteidigung der Wahrheit waren, als er es sich vorgestellt hatte“.

Was kann man von einer Biographie halten, mein Herr, die auf solchen Erzählungen aufgebaut ist? Was Sie noch mehr überraschen wird, ist, dass man bei der Verurteilung dieses unglücklichen Vanini keines seiner Bücher vorlegte, in denen der angebliche Atheismus, aufgrund dessen er verurteilt wurde, enthalten gewesen wäre. Alle Bücher dieses armen Neapolitaners waren Bücher über Theologie und Philosophie, mit behördlicher Erlaubnis gedruckt und von Doktoren der Pariser Fakultät abgesegnet. Selbst seine Dialoge, die man ihm heute zum Vorwurf macht, denen man im Übrigen bloß vorhalten kann, langweilig zu sein, wurden in französischer, lateinischer und selbst griechischer Übersetzung mit dem höchsten Lob geehrt. Unter diesen Lobreden finden wir vor allem diese Verse eines berühmten Pariser Arztes:

Vaninus, vir mente potens, sophiaeque magister, Maximus, Italiae decuss, et nova gloria gentis.
(Vaninus, ein Mann mit starkem Geist und Meister der Philosophie, der Schmuck Italiens und der neue Ruhm der Nation)

Diese beiden Verse wurden auch auf Französisch wiedergegeben:
Ehre Italiens, Nachahmer Griechenlands, Vanini macht Weisheit bekannt und geschätzt.

Aber all dieses Lob ist vergessen, und man erinnert sich nur daran, dass er bei lebendigem Leibe verbrannt wurde. Man muss zugeben, dass man die Menschen manchmal ein wenig zu leicht verbrennt, wie Jean Hus, Hieronymus von Prag, die Ratsherrin Anne Dubourg, Servetus, Antoine, Urbain Grandier, der Maréchale d’Ancre, Morin und Jean Calas; Zeugen jener zahllosen Schar von Unglücklichen, die fast alle christlichen Sekten reihenweise in den Flammen umkommen ließen: ein Schrecken, den die Perser, die Türken, die Tataren, die Inder, die Chinesen, die römische Republik und alle Völker des Altertums nicht kannten; ein Schrecken, der unter uns noch kaum beseitigt ist und unsere Kinder erröten lassen wird, weil sie von solch abscheulichen Vorfahren abstammen.

IV. Brief: Über englische Autoren

Mein Herr,
Eure Hoheit fragt, wer diejenigen sind, die die Kühnheit besaßen, sich nicht nur gegen die römische Kirche, sondern auch gegen die christliche Kirchen überhaupt auszusprechen; die Zahl ist erstaunlich, besonders in England. Einer der ersten ist Lord Herbert von Cherbury, der 1648 starb und durch seine Abhandlungen über die Religion des Laizismus und die der Heiden bekannt wurde5.

Hobbes erkannte keine andere Religion an als diejenige, der die Regierung ihre Zustimmung gab. Er wollte keine zwei Herren: Der wahre Papst sind die Gerichtshöfe. Diese Lehre erregte den ganzen Klerus. Man verschrie sie als Skandal, nach etwas Nie-Dagewesenem. Für den Skandal, das heißt, für das, was zu Fall bringt, gab es Anhaltspunkte; aber nicht für etwas Nie-Dagewesenes, denn in England war der König lange Zeit das Haupt der Kirche gewesen. Die Kaiserin von Russland war ihr Oberhaupt in einem Land, das größer war als das Römische Reich. In der römischen Republik war der Senat das Oberhaupt der Religion, und jeder römische Kaiser ein souveräner Papst.

Lord Shaftesbury6 übertraf Herbert und Hobbes an Kühnheit und Stil bei weitem. Seine Verachtung für die christliche Religion sticht allzu offensichtlich hervor.

Wollastons Natural Religion ist mit größerer Sorgfalt geschrieben; da er aber nicht die Stellung eines Lord Shaftesbury hatte, so ist dieses Buch kaum gelesen worden, außer von Philosophen7.

Von Toland

Toland8 teilte heftigere Schläge aus. Er war eine stolze, unabhängige Seele; in Armut geboren, wäre er vielleicht zu Reichtum aufgestiegen, wenn er gemäßigter gewesen wäre. Die Verfolgung irritierte ihn; er schrieb gegen die christliche Religion aus Hass und Rache.

Sein erstes Buch das den Titel Christentum ohne Geheimnis trägt, hatte er selbst etwas geheimnisvoll geschrieben, seine Kühnheit war unter einem Schleier verborgen. Er wurde verurteilt; er wurde bis nach Irland verfolgt, und alsbald war der Schleier zerrissen. Seine Werke Origines Judaicae9, Nazarenus10, sein Pantheisticon11 waren Ausdruck der Kämpfe, die er offen gegen das Christentum führte. Das Merkwürdige ist, dass, nachdem er in Irland wegen des vorsichtigsten seiner Werke unterdrückt worden war, er in England nie, auch nicht wegen der kühnsten seiner Bücher belästigt wurde.

Man warf ihm vor, sein Pantheisticon mit einem gotteslästerlichen Gebet beendet zu haben, das in der Tat in einigen Ausgaben zu finden ist: „Omnipotens et sempiterne Bacche, qui hominum corda donis tuis recreas, concede propitius ut qui hesternis poculis aegroti facti sunt, hodiernis curentur, per pocula poculorum. Amen!“12

Da es sich bei dieser Profanation aber um eine Parodie auf ein Gebet der katholischen Kirche handelte, waren die Engländer davon nicht schockiert. Außerdem wurde darauf hingewiesen, dass dieses profane Gebet gar nicht von Toland stammt; es wurde zweihundert Jahre zuvor in Frankreich von einer Gesellschaft von Trinkern erstellt und findet sich in der 1563 gedruckten Carême allégorisé. Dieser Narr von einem Jesuiten Garasse spricht davon in seiner Doctrine curieuse, Buch II, Seite 201.

Toland starb 1721 mit großem Mut. Seine letzten Worte waren: „Ich gehe schlafen.“ Es gibt noch ein paar Verse zu Ehren seines Andenkens; sie wurden nicht von Priestern der anglikanischen Kirche verfassst.

Von Locke

Der große Philosoph Locke ist zu Unrecht zu den Feinden der christlichen Religion gezählt worden. Es ist wahr, dass sein Buch Die Vernünftigkeit des Christentums13 ziemlich weit vom gewöhnlichen Glauben abweicht; aber die Religion der Primitiven, die man Zitterer nennt, die in Pennsylvanien eine so große Figur macht, ist dem gewöhnlichen Christentum noch weiter entfernt; und doch stehen sie im Ruf, Christen zu sein.

Man hat ihn beschuldigt, nicht an die Unsterblichkeit der Seele zu glauben, weil er überzeugt war, dass Gott, der absolute Herr aller Dinge, der Materie Gefühle und Gedanken geben konnte (wenn gewollt hätte). Herr von Voltaire hat ihn gegen diesen Vorwurf verteidigt. Er (Locke) bewies, dass Gott das Atom, die Monade, die er mit der Gabe des Denkens zu begünstigen geruhte, ewig bewahren kann14. Das war die Auffassung des berühmten und heiligen Priesters Gassendi15 frommer Verteidiger des Guten, das in der Lehre des Epikur stecken mag. Lesen Sie seinen berühmten Brief an Descartes16:

„Von woher kommt dieser Begriff zu Ihnen? Kommt er vom Körper her, können sie selbst nicht ohne Ausdehnung sein. Lehren Sie uns, wie es möglich ist, dass das Wesen oder die Idee eines Körpers, der ausgedehnt ist, von Ihnen aufgenommen werden kann, d.h. von einer Substanz, die nicht ausgedehnt ist.  Es ist wahr, Sie sind sich dessen bewusst, dass Sie denken, aber Sie wissen nicht, was für eine Art Substanz Sie als denkendes Wesen sind, obwohl Ihnen die Funktionsweise des Denkens bekannt ist. Der Hauptteil Ihres Wesens ist vor Ihnen verborgen, und Sie wissen nicht, was die Natur dieser Substanz ist, zu deren Operationen das Denken gehört, usw..“

Locke starb in Frieden und sagte zu Mrs. Masham17 und ihren Freunden um ihn herum: „Das Leben ist reine Eitelkeit.“

Von Bischof Taylor und von Tindal

Taylor, Bischof von Connor, ist vielleicht wegen seines Buches The Guide of the Doubters zu Unrecht zu den Ungläubigen gezählt worden.18

Aber für Dr. Tindal, den Verfasser von Das Christentum, so alt wie die Welt19, war er immer der unerschrockenste Anhänger der Naturreligion sowie des Königshauses von Hannover. Er war einer der gelehrtesten Männer in der Geschichte Englands. Er wurde für den Rest seines Lebens mit einer Pension von zweihundert Pfund Sterling geehrt. Da er die Bücher von Pope nicht schätzte, die er absolut ohne Genie und Phantasie fand und er ihm nur das Talent zugestand, Verse zu schmieden und  Gedanken anderer ins Werk zu setzen, war Pope sein unerbittlicher Feind. Tindal war überdies ein glühender Whig und Pope ein Jakobit20. Es ist kein Wunder, dass ihn Pope in seiner Dunciade21 zerriss, einem Werk, das Dryden nachahmt und voller Niedertracht und ekelhafter Bilder ist.

Von Collins

Einer der furchtbarsten Feinde der christlichen Religion war Anthony Collins22, Großschatzmeister der Grafschaft Essex, ein guter Metaphysiker und von großer Gelehrsamkeit. Es ist traurig, dass er seine tiefgründige Dialektik nur gegen das Christentum einsetzte. Dr. Clarke, ein berühmter Socinianer, Autor eines sehr guten Buches23, in dem er die Existenz Gottes beweist, gelang es nie, auf Collins‘ Bücher zufriedenstellend zu antworten und verfing sich stattdessen in Beleidigungen.

Seine philosophischen Forschungen über die Freiheit des Menschen, über die Grundlagen der christlichen Religion, über die Prophezeiungen der Bibel, über die Freiheit des Denkens sind bedauerlicherweise siegreiche Werke geblieben.

Von Woolston

Der allzu berühmte Thomas Woolston24, Magister Artium in Cambridge, zeichnete sich um das Jahr 1726 durch seine Reden gegen die Wunder Jesu Christi25 aus und erhob sein Banner so hoch, dass er seine Werke in London in seinem eigenen Hause verkaufen ließ. Drei Auflagen wurden in rascher Folge von je zehntausend Exemplaren hergestellt.

Niemand hatte sich bisher in Sachen Kühnheit und Skandal so weit vorgewagt. Er behandelt die Wunder und die Auferstehung unseres Erlösers als kindische und extravagante Geschichten. Er sagt, dass Jesus Christus, als er für seine Jünger Wasser in Wein verwandelte, dies anscheinend geschah, um ihn; da sie bereits betrunken waren, zu Punsch zu verdünnen. Die Geschichte von Gott, den der Teufel auf die Zinne des Tempels und auf einen Berg entführt hatte von dem aus alle Reiche der Erde zu sehen waren, erschien ihm als eine ungeheuerliche Gotteslästerung. Der Teufel, der in eine Herde von zweitausend Schweinen geschickt wurde, vom Feigenbaum, der vertrocknete, weil er keine Feigen getragen hatte, obwohl es nicht Feigenzeit war, die Transfiguration Jesu, und seine Kleider, die ganz weiß wurden, sein Gespräch mit Moses und Elias, kurz, seine ganze heilige Geschichte wird in einen lächerlichen Roman verwandelt. Woolston sparte nicht mit beleidigendsten und verächtlichsten Ausdrücken. Unseren Herrn Jesus Christus nennt er oft:  ein Bursche, dieser Kerl; ein Wanderer, ein Vagabund, ein Bettelmönch, ein Quacksalber.

Er rettet sich jedoch mit dem Hinweis auf den mythischen Sinn, indem er sagt, dass diese Wunder fromme Allegorien sind. Alle guten Christen haben jedoch einen Schrecken vor seinem Buch gehabt.

Eines Tages ereignete es sich, dass ihn eine Betschwester, als sie ihn auf der Straße vorbeigehen sah, ins Gesicht spuckte. Er wischte sich in aller Ruhe ab und sprach zu ihr: „Genau so haben die Juden deinen Gott behandelt“. Er starb in Frieden und sprach: “ This a pass every man must come to; dies ist ein Endpunkt, der jeden Mensch erwartet“.
Sie werden im Dictionaire portatif des Abbé Ladvocat26und in einem Nouveau Dictionnaire portatif, in dem man denselben Fehler kopiert hat, finden, dass Woolston im Jahre 1733 im Gefängnis gestorben sei. Nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein; mehrere meiner Freunde haben ihn in seinem Haus angetroffen: er starb in Freiheit und bei sich zuhause.

Von Warburton

Warburton, den Bischof von Glocester27, hat man als einen der kühnsten Ungläubigen, die je geschrieben haben angesehen, weil er Legation of Moses behauptete, nachdem er Shakespeare kommentiert hatte, dessen Komödien und manchmal sogar Tragödien von zügellosem Spott wimmeln, Gott habe sein geliebtes Volk nicht die Unsterblichkeit der Seele gelehrt. Es mag sein, dass dieser Bischof zu hart beurteilt wurde, und dass der Stolz und der satirische Geist, den man ihm vorwarf, die ganze Nation gegen ihn aufbrachte. Es ist viel gegen ihn geschrieben worden. Die ersten beiden Bände seines Werkes erscheinen nur als ein eitles Wirrwarr von falscher Gelehrsamkeit, in denen er sein Thema nicht einmal behandelt, und die überdies seinem Gegenstande widersprechen, da sie nur darauf abzielen, zu beweisen, dass alle Gesetzgeber die Unsterblichkeit der Seele zu einem Grundsatz ihrer Religionen gemacht haben, worin selbst Warburton irrt.  Denn weder Sanchoniathon der Phönizier, noch das chinesische Buch der Fünf Könige, noch Konfuzius nehmen diesen Grundsatz an.

Aber an keiner Stelle seiner vielen Ausflüchte antwortet Warburton auf die bedeutenden Beweisführungen, mit denen man ihn konfrontiert hatte. Er behauptete, alle Weisen hätten die Unsterblichkeit der Seele, die Strafen und Belohnungen nach dem Tode als Grundlage der Religion festgelegt; doch Moses spricht weder in seinem Dekalog noch in irgendeinem seiner Gesetze davon; daher war Moses nach ihrer Ansicht kein weiser Mann. Entweder wurde ihm dieses große Dogma erläutert, oder er kannte es nicht: wenn er darin unterwiesen wurde, so ist er schuldig, es nicht gelehrt zu haben; Wenn er es nicht kannte, war er unwürdig, Gesetzgeber zu sein.

Entweder Mose war von Gott inspiriert, oder er war nur ein Scharlatan: wenn Gott Mose inspirierte, konnte er ihm die Unsterblichkeit der Seele nicht verheimlichen, und wenn er ihn nicht lehrte, was alle Ägypter wussten, so hat Gott ihn und sein ganzes Volk getäuscht; wenn Sie, Herr Warburton, annehmen, dass Moses nur ein Scharlatan war, zerstören Sie das ganze mosaische Gesetz und untergraben damit die christliche Religion, die auf der mosaischen aufgebaut ist, von Grund auf. Und schließlich, wenn Sie annehmen, Gott habe Mose getäuscht, machen Sie das unendlich vollkommene Wesen zu einem Betrüger und Schurken. Wohin Sie sich auch drehen und wenden, Sie lästern.

Wenn Sie glauben, Sie könnten sich aus der Affäre ziehen, indem Sie sagen, Gott habe sein Volk direkt entgolten, indem er es sogleich für seine Abweichungen bestrafte und mit irdischen Gütern belohnte, wenn es treu war. Diese Ausflucht ist erbärmlich, denn wie viele Übertreter haben ihre Tage so  wie Salomon in Wonne verbracht! Muss man nicht den gesunden Menschenverstand oder die Scham verloren haben, um zu sagen, dass bei den Juden kein Schurke der irdischen Strafe entging? Ist nicht in der Heiligen Schrift hundertmal von der Glückseligkeit der Gottlosen die Rede?

Wir wussten schon vor Ihnen, Herr Warburton, dass weder der Dekalog noch der Levitikus die Unsterblichkeit der Seele oder ihre Spiritualität erwähnen; noch Strafen und Belohnungen in einem anderen Leben; aber von Ihnen hörte man das nicht. Was für einen Laien verzeihlich ist, ist für einen Priester nicht verzeihlich; und vor allem hätten Sie es nicht in vier langweiligen Bänden sagen sollen.

Das ist, was gegen Warburton vorgebracht wurde. Er antwortete mit abscheulichen Beleidigungen und endlich glaubte er, Recht zu haben, weil ihm sein Bistum zweitausendfünfhundert Guineen Rente einbrachte. Ganz England erklärte sich trotz seiner Guineen gegen ihn. Er hat sich durch die Bösartigkeit seines unverschämten Charakters viel mehr verhasst gemacht als durch die Absurdität seines Systems.

Von Bolingbroke

Mylord Bolingbroke28 war kühner als Warburton und von besserem Glauben. In seinen Philosophischen Werken sagt er stets, dass Atheisten viel weniger gefährlich sind als Theologen. Er argumentierte als Staatsminister, der wusste, wie viel Blut theologische Auseinandersetzungen England gekostet hatten; aber er sollte sich darauf beschränken, die Theologie zu verbieten, und nicht die christliche Religion, aus der jeder Staatsmann sehr große Vorteile für das Menschengeschlecht ziehen kann, indem er sie in ihren Schranken weist, wenn sie diese überschritten hat. Nach dem Tode des Lord Bolingbroke wurden einige seiner Werke veröffentlicht, die noch heftiger sind als seine Philosophische Sammlung; er entfaltet darin eine verhängnisvolle Beredsamkeit. Niemand hat je etwas Stärkeres geschrieben: wir sehen, dass er einen Abscheu vor der christlichen Religion hatte. Es ist traurig, dass ein so erhabenes Genie einen Baum an der Wurzel fällen wollte, den er durch Beschneiden der Zweige und Säubern seines Mooses sehr nützlich hätte machen können.

Man kann die Religion reinigen. Dieses große Werk wurde vor fast zweihundertfünfzig Jahren begonnen29; aber die Menschen werden nur nach und nach aufgeklärter. Wer hätte damals vorausgesehen, dass wir die Strahlen der Sonne analysieren, mit Donner elektrisieren und das Gesetz der universellen Gravitation entdecken würden, das dem Universum zugrunde liegt? Es ist an der Zeit, so Bolingbroke30, dass die Theologie verbannt wird, so wie die Astrologie bei Gericht, die Hexerei, die Besessenheit vom Teufel, die Wünschelrute, das universelle Allheilmittel und die Jesuiten verbannt werden. Die Theologie hat immer nur dazu gedient, Gesetze ins Gegenteil umzustoßen und die Herzen zu verderben: sie allein macht Atheisten, denn die große Zahl der Theologen, die Vernunft genug haben, um die Lächerlichkeit dieser Hirngespinste zu erkennen, wissen nicht genug, um sie durch eine gesunde Philosophie zu ersetzen. Die Theologie, sagen sie, ist nach der Bedeutung des Wortes die Wissenschaft von Gott. Nur haben die Schurken, die diese Wissenschaft entweiht haben, absurde Vorstellungen von Gott verbreitet, und daraus schließen sie, dass Gott selbt ein Hirngespinst ist, weil die Theologie eine Hirngespinst ist. Das ist genau das gleiche, wie wenn man sagt, dass man nicht Chinarinde gegen Fieber einnehmen sollte, bei Übergewicht keine Diät halten, noch bei Schlaganfall zu Ader lassen sollte, weil es schlechte Ärzte gegeben hat; es bedeutet, das man das Wissen über den Lauf der Sterne leugnen soll, weil es Astrologen gegeben hat; es sollen die offensichtlichen Wirkungen der Chemie geleugnet werden, weil Quacksalber vorgetäuscht haben, Gold herzustellen. Die Leute von Welt, die noch unwissender sind als diese kleinlichen Theologen, sagen: „Hier sind Bakkalaureaten und Lizentiaten, die nicht an Gott glauben; Warum sollten wir an ihn glauben? Das ist die verhängnisvolle Folge des theologischen Geistes. Falsche Wissenschaft macht Atheisten; wahre Wissenschaft wirft den Menschen vor Gott nieder und macht denjenigen gerecht und weise, der durch den Missbrauch der Theologie ungerecht und töricht geworden ist.

Von Thomas Chubb

Thomas Chubb31ist ein von der Natur geformter Philosoph. Die Feinheit seines Genies, die er missbrauchte, führte ihn dazu, nicht nur der Partei der Socinianer anzuhängen, die Jesus Christus nur als einen Menschen betrachten, sondern auch jener der starrsinnigen Deisten, die einen Gott anerkennen und kein Mysterium zulassen. Seine Fehler sind methodischer Natur: Er möchte alle Menschen in einer Religion vereinen, von der er glaubt, dass sie geläutert sei, weil sie einfach ist. Das Wort Christentum steht in seinen verschiedenen Werken auf jeder Seite, aber es selbst ist nicht darin enthalten. Er wagt zu glauben, dass Jesus Christus der Religion von Thomas Chubb angehöre, aber er selbst gehört nicht der Religion von Jesus Christus an. Ein fortwährender Missbrauch der Worte ist die Grundlage seiner Überzeugungskraft. Jesus Christus sagte: „Liebe Gott und deinen Nächsten“, das ist das ganze Gesetz, das ist der ganze Mensch. Chubb hält sich an diese Worte und lässt alles andere beiseite. Er hält unseren Erlöser für einen Philosophen wie Sokrates, der wie dieser getötet wurde, weil er den Aberglauben und die Priester seines Landes bekämpfte. Im Übrigen schrieb er zurückhaltend und verhüllte sich stets mit einem Schleier. Die Undeutlichkeiten, in die er sich hüllte, brachten ihm mehr Ansehen als Leser ein.

V. Brief: Über Swift

Es ist wahr, Monsieur, dass ich nicht von Swift gesprochen habe32; er verdient einen eigenen Artikel. Er ist der einzige englische Schriftsteller dieser Kategorie, der humorvoll war. Es ist eine sehr merkwürdige Sache, dass die beiden Männer, denen man am meisten vorwerfen kann, dass sie es gewagt haben, die christliche Religion lächerlich zu machen, zwei für die Seelen zuständige Priester gewesen sind. Rabelais war Pfarrer von Meudon, und Swift Dekan der Kathedrale von Dublin: beide schleuderten mehr Sarkasmen gegen das Christentum als Molière sie der Medizin verpasste, und beide lebten und starben friedlich, während andere Männer wegen einiger zweideutiger Worte verfolgt, vor Gericht gestellt und umgebracht wurden.

Manchmal zerbricht einer, wo der andere sich rettet,
Und woran der eine zugrunde geht, schützt den andren.

(Cinna, Akt II, Szene I.)33

Die Erzählung vom Fass des Dekan Swift34ist eine Imitation der Drei Ringe35 Die Fabel von diesen drei Ringen ist sehr alt: Sie stammt aus der Zeit der Kreuzzüge. Es war ein alter Mann, der, als er starb, jedem seiner drei Kinder einen Ring hinterließ; sie stritten sich, wer den Schönsten hätte; schließlich, nach langer Debatte, einigte man sich darauf, dass die drei Ringe genau gleich seien. Der gute alte Mann ist der Deismus, die drei Kinder sind die jüdische, die christliche und die muslimische Religion.

Der Autor vergaß die Religionen der Magier, der Brahmanen und viele andere; da er ein Araber war, kannte er nur diese drei Sekten. Diese Fabel führt zu jener Indifferenz, die man dem Kaiser Friedrich II. sehr vorwarf und auch seinem Kanzler de Vineis36, den man beschuldige, das Buch De Tribus Impostoribus verfasst zu haben, das, wie Sie wissen, nie existiert hat.37

Die Geschichte von den drei Ringen findet sich in einigen alten Sammlungen, der Doktor Swift hat sie durch drei Gewänder ersetzt. Die Einleitung zu diesem gottlosen Spott ist des ganzen Werkes würdig; sie zeigt einen Holzschnitt, der drei Varianten öffentlichen Sprechens darstellt: erstens das Theater von Harlekin und Gilles, dem Narren; zweitens einen Prediger, dem eine halbes Fass als Kanzel dient; drittens eine Leiter, von deren Ende aus ein Mann, der gehängt werden soll, zum Volk spricht. Ein Prediger zwischen Gilles, dem Narren, und einem Gehenkten macht keine gute Figur.

Der Hauptteil des Buches ist eine allegorische Geschichte der drei Hauptsekten, die Südeuropa trennen, die römische, die lutherische und die calvinistische; denn er spricht nicht von der griechischen Kirche, die sechsmal so viel Boden besitzt wie jede der drei anderen, und er übergeht den Mohammedanismus, der viel verbreiteter ist, als die griechische Kirche.

Die drei Brüder, denen der alte Vater drei gleichfarbige Gewänder vermachte, sind Peter, Martin und Johannes, das heißt der Papst, Luther und Calvin. Der Autor lässt seine drei Helden mehr extravagante Streiche vollbringen, als Cervantes seinen Don Quijote und Ariost seinen Roland; Dabei ist Peter der von den drei Brüdern am meisten misshandelte38. Das Buch ist sehr schlecht ins Französische übersetzt; es gelang nicht, seinen Witz, mit dem es gewürzt ist,  wiederzugeben. Dieser Witz bezieht sich oft auf Zwistigkeiten zwischen der anglikanischen Kirche und den Presbyterianern, auf Bräuche, auf Vorfälle, die in Frankreich unbekannt sind, und auf Wortspiele, die der englischen Sprache eigen sind. Zum Beispiel bedeutet das Wort, das auf Französisch eine päpstliche Bulle bedeutet, auf Englisch auch einen Bullen. Es ist eine Quelle der Zweideutigkeit und der Witze, die einem französischen Leser zwangsläufig entgehen.

Swift war weit weniger gelehrt als Rabelais; aber sein Geist ist feiner und geschmeidiger, er ist der Rabelais der guten Gesellschaft. Die Lords Oxford und Bolingbroke gaben demjenigen, der die christliche Religion verspottet hatte, die nach dem Erzbistum Dublin beste Pfründe von Irland, während Abbadie, der ein Buch zu Gunsten dieser Religion geschrieben hatte und sie mit Lob überhäufte, nur eine unglückliche kleine Dorfpfründe bekam; aber es ist zu beachten, dass beide geisteskrank gestorben sind39.

VI. Brief: Über die Deutschen

Mein Herr,
Auch in Ihrem Deutschland sind viele große Herren und Philosophen der Irreligiosität bezichtigt worden. Euer berühmter Cornelius Agrippa wurde im sechzehnten Jahrhundert nicht nur als Hexenmeister, sondern auch als Ungläubiger angesehen40. Das ist widersprüchlich: denn ein Hexenmeister glaubt an Gott, weil er es wagt, den Namen Gottes in alle seine Beschwörungen einzubauen; ein Hexenmeister glaubt an den Teufel, da er sich dem Teufel hingibt. Mit diesen beiden Verleumdungen belastet wie Apuleius41[41], hatte Agrippa das große Glück, nur ins Gefängnis zu kommen und an keinem anderen Ort als im Krankenhaus zu sterben. Er war es, der als erster sagte, dass die verbotene Frucht, von der Adam und Eva gegessen hatten, der Genuss der Liebe war, der sie sich, noch bevor sie den Hochzeitssegen von Gott empfangen hatten, hingegeben hatten42. Er war es auch, der, nachdem er die Wissenschaften gepflegt hatte, der erste war, der gegen sie schrieb. Er schimpfte über die Milch, die ihn ernährt hatte, weil er sie sehr schlecht verdaut hatte. Er starb 1535 im Krankenhaus von Grenoble.

Euren berühmten Doktor Faustus43kenne ich nur als Held in der Komödie, die man in allen Provinzen bei euch im Reich aufführt. Euer Dr. Faustus ist darin laufend in Kontakt mit dem Teufel. Er schreibt ihm Briefe, die er mittels eines Fadens durch die Luft versendet: er erhält von ihm Antworten. In jedem Akt sind Wunder zu sehen, und am Ende des Stücks wird Faustus vom Teufel geholt. Man sagt, er sei in Schwaben geboren und habe unter Maximilian I.44 gelebt. Ich glaube nicht, dass er mit Maximilian mehr Glück gehabt hat als mit seinem anderen Herrn, dem Teufel.

Auch der berühmte Erasmus wurde von den Katholiken und von den Protestanten der Irreligiosität verdächtigt, weil er sich angesichts der Übertreibungen, in die alle beide verfielen, über sie lustig machte. Wenn zwei Parteien unrecht haben, wird, wer neutral bleibt und daher Recht hat, von beiden beleidigt. Die Statue, die ihm auf dem Platz seiner Heimatstadt Rotterdam errichtet wurde, hat ihn an Luther und an der Inquisition gerächt.45

Melanchthon, Schwarze Erde46, war ungefähr wie Erasmus. Es heißt, er habe seine Ansichten über die Erbsünde und die Prädestination vierzehnmal geändert. Wie man sagt, wurde er der Proteus Deutschlands genannt. Er wäre gerne Neptun gewesen, der die verheerenden Stürme zurückhält47.

Jam coelum terramque meo sine numine, venti,
Miscere, et tantas audetis tollere moles!
(Virg., Aeneis., I, 137.48

Er war gemäßigt und tolerant. Er galt als gleichgültig. Obwohl er Protestant geworden war, riet er seiner Mutter, katholisch zu bleiben. Daher urteilte man, dass er weder das eine noch das andere gewesen sei.

Ich lasse, wenn Sie mir erlauben, die Menge der Sektierer aus, denen man vorwirft, sie schlössen sich Gruppierungen nicht deshalb an, weil sie Meinungen anhängen, sondern weil sie an Ehrgeiz oder Habgier statt an Luther und den Papst glauben. Ich will nicht von den Philosophen sprechen, denen man vorwirft, als einziges Evangelium die Natur gehabt zu haben49.

Ich komme zu Ihrem berühmten Leibniz. Fontenelle, der ihn in Paris vor der versammelten Akademie lobte50, äußert sich über seine Religion folgendermaßen: „Man wirft ihm vor, nur ein großer und starrer Anhänger des Naturrechts gewesen zu sein: seine Pastoren haben ihm dafür öffentliche und überflüssige Verweise erteilt.“

Sie werden bald sehen, Monsieur, dass Fontenelle, der so sprach, nicht minder schweren Anschuldigungen ausgesetzt war.51

Wolff, Schüler von Leibniz, war einer größeren Gefahr ausgesetzt52: Er lehrte Mathematik an der Universität Halle mit erstaunlichem Erfolg. Der Theologieprofessor Lange, der in der Einsamkeit seines Hörsaals vor  Kälte erstarrte, während Wolff fünfhundert Hörer hatte, rächte sich, indem er Wolff als Atheisten denunzierte. Der verstorbene König von Preußen, Friedrich Wilhelm, der seine Truppen besser verstand als die Streitigkeiten der Gelehrten, glaubte Lange zu leicht: er stellte Wolff vor die Wahl, entweder sein Herrschaftsgebiet in vierundzwanzig Stunden zu verlassen oder gehängt zu werden. Der Philosoph löste das Problem auf der Stelle, indem er sich nach Marburg zurückzog, wohin ihm seine Schüler folgten und wo sein Ruhm und sein Vermögen wuchsen. Die Stadt Halle verlor damals jährlich mehr als vierhunderttausend Goldtaler, die Wolff durch den Zustrom seiner Schüler eingebracht hatte. Die Einkünfte des Königs litten, und das Unrecht, das dem Philosophen angetan wurde, fiel so auf den Monarchen selbst zurück. Ihr wisst, Monsieur, mit welcher Billigkeit und Großmut der Nachfolger dieses Fürsten den Irrtum wieder gutmachte, in den man seinen Vater hineingezogen hatte53.

In dem Artikel Wolff heißt es in einem Wörterbuch, dass Karl Friedrich, der gekrönte Philosoph und Freund Wolffs, ihn zum Vizekanzler der Universität des Kurfürsten von Bayern und zum Reichsfreiherrn erhoben habe. Der König, von dem der Artikel spricht, ist in der Tat ein Philosoph, ein Gelehrter, ein sehr großes Genie und ein sehr großer Heerführer auf dem Thron; aber er heißt weder Karl, noch gibt es in seinem Herrschaftsgebiet eine Universität, die dem Kurfürsten von Bayern gehört und die Reichsfreiherrn ernennt nur der Kaiser allein. Diese kleinen Fehler, die in allen Wörterbüchern allzu häufig vorkommen, lassen sich leicht korrigieren54.

Seit dieser Zeit hat die Gedankenfreiheit in ganz Norddeutschland erstaunliche Fortschritte gemacht. Diese Freiheit ist so weit vorangetrieben worden, dass im Jahre 1766 ein Abriss der Kirchengeschichte von Fleury mit einem beredten Vorwort gedruckt werden konnte, das mit folgenden Worten beginnt:

„Die Errichtung der christlichen Religion hatte, wie alle Reiche, schwache Anfänge. Ein Jude aus der Hefe des Volkes von zweifelhafter Geburt, der die Absurditäten alter Prophezeiungen mit moralischen Anweisungen vermischt, dem Wunder zugeschrieben werden, ist der Held dieser Sekte. Zwölf Fanatiker verbreiten sie vom Osten bis nach Italien“ usw.55

Es ist betrüblich, dass der Verfasser dieses übrigens tiefgründigen und erhabenen Stückes sich von einer Kühnheit hat mitreißen lassen, die für unsere heilige Religion so verhängnisvoll ist. Nichts könnte verderblicher sein. Diese erstaunliche Druckerlaubnis hat jedoch kaum Lärm verursacht. Es bleibt zu hoffen, dass das Buch keine große Verbreitung findet. Man hat davon, nehme ich an, nur eine kleine Anzahl von Exemplaren gedruckt.

Die Rede des Kaisers Julian gegen das Christentum, die der Marquis d’Argens, Kammerherr des Königs von Preußen, in Berlin übersetzt und dem Prinzen Ferdinand von Braunschweig gewidmet hat56, wäre ein nicht minder verhängnisvoller Schlag für unsere Religion gewesen, wenn der Verfasser sich nicht bemüht hätte, die aufgestörten Geister durch gelehrte Anmerkungen zu beschwichtigen. Dem Werke ist eine weise und lehrreiche Vorrede vorangestellt, in der er (das muss man zugestehen) den großen Eigenschaften und Tugenden Julians ebenso Gerechtigkeit widerfahren lässt, wie er die verhängnisvollen Irrtümer jenes Kaisers benennt. Ich glaube, Monsieur, dass Ihnen dieses Buch nicht unbekannt ist, und dass Ihr Christentum dadurch nicht erschüttert worden ist.

VII. Brief: Über die Franzosen

Sie haben, glaube ich, sehr wohl erraten, Mylord, dass es in Frankreich mehr Menschen gibt, die der Gottlosigkeit beschuldigt werden, als wahrhaft Gottlose; so wie es viel mehr Verdachtsfälle von Vergiftungen als Giftmischer gegeben hat. Die Unruhe, die Lebhaftigkeit, die Schwatzlust, das Ungestüm der Franzosen ließen sie immer mehr Verbrechen vermuten, als begangen wurden. Das ist der Grund, warum bei Mézerai selten ein Adliger stirbt, ohne vergiftet worden zu sein57.

Der Jesuit Garasse und der Jesuit Hardouin58 vermuten überall Atheisten. Viele Mönche oder Menschen, die schlimmer als Mönche sind, sind aus Furcht vor der  Schmälerung ihrer Glaubwürdigkeit Wächter gewesen, die immerzu riefen: „Wer da? Der Feind steht vor den Toren“. Dank sei Gott, dass wir viel weniger Menschen haben, die Gott leugnen, als gesagt wird.

Von Bonaventure Des-Periers

Eines der frühesten Beispiele für eine Verfolgung durch Verbreitung von Angst und Schrecken in Frankreich war der merkwürdige Aufruhr, der fortwährend um das Cymbalum mundi gemacht wurde, ein kleines Büchlein von höchstens fünfzig Seiten59. Der Verfasser, Bonaventure Des-Periers60, lebte zu Beginn des 16. Jahrhunderts. Dieser Des-Periers war Diener von Marguerite de Valois, der Schwester von Franz I. Damals erlebte die Literatur eine Renaissance. Des-Periers wollte einige lateinische Dialoge im Stil Lukians schreiben: er verfasste vier sehr fade Dialoge61 über Prophezeiungen, über den Stein der Weisen, über ein sprechendes Pferd und über die Hunde des Aktäon. Gewiss kommt in diesem ganzen Durcheinander eines Schuljungen nicht ein einziges Wort vor, das zu den Dingen, die wir verehren sollten, auch nur die geringste oder entfernteste Beziehung hat.

Einige Ärzte ließen sich davon überzeugen, dass mit den Hunden und Pferden sie gemeint seien. Was die Pferde anbelangt, so waren sie an diese Ehre nicht gewöhnt. Die Ärzte bellten; das Werk wurde sofort nachgefragt, in die Vulgärsprache übersetzt und gedruckt; und jeder Müßiggänger fand Anspielungen darin; und die Ärzte schrien „Ketzer, Gottloser, Atheist“. Das Büchlein wurde dem Richter vorgelegt, der Buchhändler Morin ins Gefängnis geworfen, und den Verfasser versetzte man in große Angst.

Die ungerechtfertigte Verfolgung erschütterte Bonaventuras geistige Verfassung so stark, dass er sich in Margaretes Palast mit dem Schwert tötete. Alle Zungen der Prediger, alle Federn der Theologen haben sich an diesem verhängnisvollen Tod abgearbeitet. Er hat sich selbst umgebracht: darum war er schuldig; darum glaubte er nicht an Gott; folglich war sein kleines Buch, das zu lesen niemand die Geduld hatte, der Katechismus der Atheisten. Jedermann hat es gesagt, jeder hat es geglaubt: Credidi propter quod locutus sum, „Ich glaubte, weil ich sprach“62, ist das Motto der Menschen. Man wiederholt etwas Törichtes, und kraft der Wiederholung ist man davon überzeugt.

Das Buch wurde zu einer extremen Seltenheit: ein neuer Grund, es für infernalisch zu halten. Alle Verfasser literarischer Anekdoten und Wörterbücher haben es nicht versäumt, zu behaupten, dass das Cymbalum mundi ein Vorläufer Spinozas sei.

Wir haben auch ein Werk eines Ratsherrn von Bourges, namens Catherinot, das des Wappens von Bourges sehr würdig ist63. Dieser große Richter sagte: „Wir haben zwei gottlose Bücher, die ich noch nie gesehen habe: das eine, De tribus Impostoribus; das andere ist das Cymbalum mundi. Aha! Mein Freund, wenn du sie nicht gesehen hast, warum sprichst du dann über sie?

Der Minime Mersenne, jener Briefträger von Descartes, derselbe, der Vanini zwölf Apostel andichtet, sagt über Bonaventura Des-Periers: „Er ist ein Ungeheuer und ein Schuft von vollendeter Gottlosigkeit.64“ Sie werden feststellen, dass auch er das Buch nicht gelesen hat. Nur zwei Exemplare waren in Europa vorhanden, als Prosper Marchand es 1711 in Amsterdam nachdruckte. Da wurde der Schleier gelüftet: Man verschrie es nicht mehr der Gotteslästerung, des Atheismus; man verschrie es als langweilig und sprach nicht mehr darüber.

Von Theophile

So war es auch mit Theophile, der zu seiner Zeit sehr berühmt war65: er war ein junger Mann aus  guter Gesellschaft, dem es leicht fiel, mittelmäßige Verse zu schreiben, die aber einen guten Ruf hatten; sehr gebildet in Belletristik, rein lateinisch schreibend; ein Mann der Tafel wie des Kabinetts, willkommen bei den jungen Herren, die sich mit Geist schmückten, und vor allem bei dem berühmten und unglücklichen Herzog von Montmorency, der, nachdem er Schlachten gewonnen hatte, auf dem Schafott starb66.

Als er sich eines Tages mit zwei Jesuiten traf und das Gespräch auf einige Punkte der unglücklichen Philosophie seiner Zeit kam, wurde der Streit erbittert. An die Stelle von Begründungen setzten die Jesuiten Beleidigungen. Theophile war ein Dichter und ein Gascogner, genus irritabile vatum et Vasconum67.  Er verfasste ein kleines Gedicht, in dem er die Jesuiten nicht allzu gut behandelt. Hier sind drei Verse, die in ganz Frankreich umliefen:

Diese Maschine, groß und schwarz,
Mit ihrem geschmeidigen, riesigen Körper
Streckt ihre Tentakeln aus bis nach China.

Theophile selbst erinnert an sie in einem Brief in Versen, den er aus seinem Gefängnis an König Ludwig XIII. richtete. Alle Jesuiten wüteten gegen ihn. Die beiden wütendsten, Garasse und Guérin68, entehrten die Kanzel und verstießen gegen das Gesetz, indem sie ihn in ihren Predigten namentlich nannten, ihn als Atheisten und abscheulichen Menschen bezeichneten und alle ihre Frömmler gegen ihn aufhetzten.

Ein gefährlicherer Jesuit, namens Voisin, der weder schrieb noch predigte, aber bei dem Kardinal de la Rochefoucauld großes Ansehen genoss, erhob eine Strafanklage gegen Théophile und hetzte einen jungen, ausschweifenden Mann namens Sajeot gegen ihn auf, der sein Schüler gewesen war und angeblich seinen schändlichen Vergnügungen gedient hatte, was er dem Angeklagten bei der Gegenüberstellung vorwarf. Endlich erwirkte der Jesuit Voisin durch die Gunst des Jesuiten Caussin, des Beichtvaters des Königs, einen Verhaftungsbefehl gegen Theophile wegen Gottlosigkeit und Atheismus. Der Unglückliche floh, man machte ihm in Abwesenheit den Prozess und verbrannte ihn 1621 in effigie. Weit gefehlt zu  glauben, der Zorn der Jesuiten wäre damit erloschen gewesen. Voisin bezahlte einen Konnetablen-Leutnant namens Le Blanc, um ihn an seinem Rückzugsort in der Picardie zu verhaften. Unter dem Jubel des Pöbels, dem Le Blanc zurief: „Das ist ein Atheist, den wir verbrennen werden“, wurde er in Eisen gelegt und in einen Käfig gesperrt. Von dort wurde er nach Paris in die Conciergerie gebracht, wo er in den gleichen Kerker wie Ravaillac69 gesteckt wurde. Er blieb dort ein ganzes Jahr, während die Jesuiten seinen Prozess verzögerten, um Beweise gegen ihn zusammenzutragen.

Während er in Eisen lag, veröffentlichte Garasse seine Doctrine curieuse70, in der er sagt, dass Pasquier, Kardinal Wolsey, Scaliger, Luther, Calvin, Beza, der König von England, der Landgraf von Hessen und Theophile gotteslästerliche Atheisten und Karpokratiker sind71. Garasse schrieb das zu seiner Zeit, wie es der elende Ex-Jesuit Nonotte zu seiner Zeit geschrieben hat: Der Unterschied besteht darin, dass die Unverschämtheit von Garasse auf dem Ansehen beruhte, das die Jesuiten damals hatten, wohingegen die Wut des lächerlichen Nonotte die Frucht des Entsetzens und der Verachtung ist, in welche die Jesuiten in Europa verfallen sind; es ist die Schlange, die noch immer beißen will, auch wenn man sie in Stücke geschnitten hat72. Theophile wurde besonders über den Parnass satyrique befragt, eine Sammlung von Unsittlichkeiten im Stile von Petronius, Martial, Catull, Ausonius, dem Erzbischof von Benevent, La Casa, dem Bischof von Angoulême, Octavian de Saint-Gelais und Melin de Saint-Gelais, seinem Sohn, dem Aretin, Chorier, Marot, Verville, den Epigrammen Rousseaus und hundert anderen zügellosen Torheiten73. Dieses Werk stammt nicht von Theophile. Der Buchhändler hatte alles, was er konnte, von Maynard, Colletet, Frénicle, einem Magistrat, später von der Akademie der Wissenschaften und von einigen Herren des Hofes gesammelt. Es wurde nachgewiesen, dass Theophile an dieser Ausgabe, gegen die er selbst eine Beschwerde eingereicht hatte, keinen Anteil hatte. Kurz, die Jesuiten, so mächtig sie damals auch waren, konnten sich nicht damit trösten, ihn verbrennen zu lassen, und sie hatten sogar große Mühe, seine Verbannung aus Paris zu erreichen. Trotz ihrer Gegnerschaft kehrte er unter dem Schutz des Herzogs von Montmorency zurück, der ihn in seinem Palast unterbrachte. Dort starb er 1626 an dem Kummer, dem er schließlich durch eine so grausame Verfolgung erlag.

Von Des Barreaux

Der Parlamentsrat Des Barreaux74, der in seiner Jugend mit Theophile befreundet war und ihn nicht im Stich ließ, als er in Ungnade fiel, galt beständig als Atheist. Und zwar aus welchem Grund? Wegen einer Geschichte, das Abenteuer mit dem Speck-Omelett, die man über ihn erzählt. Ein junger Mann mit freizügigen Neigungen kann sehr wohl an einem Samstag in einer Kneipe etwas Fettiges essen und während es gewittert und donnert, eine Schüssel aus dem Fenster werfen und sagen: „Oha, so ein Getöse – und alles nur wegen einem Speck-Omelett!“, ohne deswegen den abscheulichen Vorwurf des Atheismus zu verdienen. Es handelt sich zweifellos um eine sehr große Respektlosigkeit, um eine Beleidigung der Kirche, in die er hineingeboren wurde; es ist ein Spott über die Institution der mageren Tage; aber es bedeutet nicht, die Existenz Gottes zu leugnen.

Was ihm diesen Ruf eintrug, war hauptsächlich die indiskrete Kühnheit Boileaus75, der in seiner Satire des femmes, die nicht seine beste ist, sagt, er habe mehr als einen Capaneus76 gesehen:

Du tonnerre dans l’air bravant les vains carreaux,
Et nous parlant de Dieu du ton de Des Barreaux.
[etwa: Vom Donner in der Luft, dem eitle Fensterscheiben trotzen,
Und spricht zu uns von Gott im Ton Des Barreaux].

Dieser Richter77 schrieb nie etwas gegen Gott. Es ist nicht statthaft, einen verdienstvollen Mann, gegen den es keine Beweise gibt, mit dem Namen eines Atheisten zu belegen: das ist unwürdig. Man hat Des Barreaux jenes berühmte Sonett untergeschoben, das wie folgt endet:


Tonne, frappe, il est temps; rends-moi guerre pour guerre.
J’adore en périssant la raison qui t’aigrit;
Mais dessus quel endroit tombera ton tonnerre,
Qui ne soit tout couvert du sang de Jésus-Christ?
[etwa : Donner, schlag, es ist Zeit; gib mir Krieg für Krieg.
Ich bete die Vernunft an, während ich zugrunde gehe, sie, die dich verbittert,
Aber auf welche Stelle wird dein Donner fallen,
Die nicht ganz von Jesu Christi Blut bedeckt wäre?]78

Es war derselbe Abt von Lavau, der dieses abscheuliche Epigramm auf das Mausoleum schrieb, das in Saint-Eustache zu Ehren Lullis errichtet worden war: Das Sonett ist nichts wert. Jesus Christus in Versen ist nicht tolerierbar; „rends-moi guerre“ ist nicht französisch; „guerre pour guerre“ ist sehr flach, und „dessus quel endroit“ ist verabscheuungswürdig. Diese Verse stammen von Abbé de Lavau79, und Des Barreaux war immer sehr ärgerlich, dass sie ihm zugeschrieben wurden.

Von La Mothe Le Vayer

Der weise La Mothe Le Vayer80, Staatsrat, Erzieher von Monsieur, des Bruders von Ludwigs XIV., und fast ein Jahr lang Hauslehrer von Ludwigs XIV. selbst, hat nicht weniger Verdächtigungen auf sich gezogen, als der wollüstige Des Barreaux. In Frankreich gab es noch wenig Philosophie. Die Abhandlung Über die Tugend der Heiden (De la vertu des païens81) und die Dialogues d’Oracius Tubero82 machten ihm Feinde. Besonders die Jansenisten, die wie der heilige Augustinus die Tugenden der großen Männer des Altertums nur für grandiose Sünden hielten, wüteten gegen ihn.
Der Gipfel der fanatischen Unverschämtheit besteht darin, zu sagen: „Niemand ist tugenhaft außer uns und unseren Freunden; Sokrates, Konfuzius, Marc Aurel, Epiktet waren Schurken, weil sie nicht unserer Religion angehörten“.
Von dieser Extravaganz sind wir heute abgekommen, aber damals war sie noch vorherrschend. In einem kuriosen Buch wird erzählt, dass eines Tages einer dieser Verrückten, als er La Mothe Le Vayer durch die Galerie des Louvre gehen sah, laut sagte: „Das dort ist ein Mann ohne Religion.“ Anstatt ihn bestrafen zu lassen, drehte sich Le Vayer zu dem Mann um und sagte: „Mein Freund, ich habe so viel Religion, dass ich nicht der deinen angehöre“.

Von Saint-Évremond

Einige Werke gegen das Christentum sind unter dem Namen Saint-Évremond83 erschienen, aber keines stammt von ihm. Nach seinem Tode glaubte man, diese gefährlichen Bücher schützen zu können, indem man sie mit seinem guten Namen verband, auch weil sich in der Tat in seinen wirklichen Werken mehrere Züge finden, die von einem von den Vorurteilen der Kindheit befreiten Geist zeugen. Andererseits dienen sein epikureisches Leben und sein philosophischer Tod all jenen als Vorwand, die seinen Namen gebrauchen, um ihren eigenen Ansichten Gewicht zu verleihen.

Wir besitzen vor allem eine Analyse der christlichen Religion84, die ihm zugeschrieben wird. Es ist ein Werk, das es darauf anlegt, die gesamte Chronologie und fast alle Fakten der Heiligen Schrift umzuwerfen. Niemand ist tiefer als der Autor der Ansicht mancher Theologen auf den Grund gegangen, dass der Astronom Phlegon von einer Finsternis gesprochen habe85, die beim Tode unseres Herrn Jesus Christus die ganze Erde bedeckt habe. Ich gebe zu, der Verfasser ist völlig im Recht gegen diejenigen, die sich auf das Zeugnis dieses Astronomen stützen wollen; aber er hat großes Unrecht, wenn er das ganze christliche System bekämpfen will, nur weil man es schlecht vertreten hat.

Im Übrigen war Saint-Évremond zu derart gelehrten Untersuchungen gar nicht in der Lage. Er war ein angenehmer und rechtschaffener Geist; aber er besaß wenig Wissen, kein Genie, und keinen sicheren Geschmack: seine Abhandlungen über die Römer86 verschafften ihm einen Ruf, den er missbrauchte, um die flachsten Komödien und die schlechtesten Verse zu schreiben, mit denen man jemals Leser ermüdet hat; heute ermüden sie nicht mehr, weil sie sie nicht mehr gelesen werden. Man kann ihn in die Reihe der liebenswürdigen und geistreichen Menschen stellen, die in der glänzenden Zeit Ludwigs XIV. erblüht sind, aber nicht in die Reihe der herausragenden. Im Übrigen sind diejenigen, die ihn als Atheisten bezeichneten, schändliche Verleumder.

Von Fontenelle

Bernard de Fontenelle87, der spätere Sekretär der Akademie der Wissenschaften, hatte eine kräftigere Erschütterung auszuhalten. Im Jahre 1686 ließ er in Bayles République des lettres einen sehr einfallsreichen Reisebericht von der Insel Borneo erscheinen: Es war eine Allegorie auf Rom und Genf mit zwei Schwestern, die Mero und Enègue hießen. Mero war eine tyrannische Zauberin; die verlangte, dass ihre Untertanen zu ihr kommen, ihre geheimsten Gedanken mitteilen und anschließend ihr ganzes Geld bei ihr abliefern sollten. Man musste Totengebeine anbeten, bevor man ihre Füße küssen durfte, und oft, wenn man zu Mittag essen wollte, ließ sie das Brot verschwinden. Endlich brachten ihre Zauberkünste und Wutausbrüche eine Menge Leute gegen sie auf, und ihre Schwester Enègue entriss ihr die Hälfte des Reiches.

Bayle hörte zunächst nichts von dem Streich, aber als der Abbé Terrasson ihn kommentierte, erregte das viel Aufsehen. Es war die Zeit, in der das Edikts von Nantes widerrufen wurde. Fontenelle lief Gefahr, in die Bastille geworfen zu werden. Er hatte die Schwäche, zu Gunsten dieses Widerrufs und für die Jesuiten eine Reihe ziemlich schlechter Verse zu schreiben. Sie wurden in eine üble Sammlung mit dem Titel Le Triomphe de la religion sous Louis le Grand aufgenommen, die 1687 bei Langlois in Paris gedruckt wurde.

Seitdem er aber mit großem Erfolg Van Dales Gelehrte Geschichte der Orakel88 auf Französisch herausgegeben hatte, verfolgten ihn die Jesuiten. Le Tellier, der Beichtvater Ludwigs XIV., brachte die Allegorie Mero und Enègue in Erinnerung und hätte ihn gern so behandelt, wie der Jesuit Voisin es mit Théophile gemacht hatte. Er verlangte einen Haftbefehl gegen ihn. Der berühmte garde des sceaux d’Argenson89, damals Polizeileutnant, rettete Fontenelle vor dem Zorn Le Telliers. Hätte man zu wählen gehabt, ob Fontenelle oder Le Tellier ein Atheist sei, so hätte der Verdacht auf den Verleumder Le Tellier fallen müssen.

Diese Anekdote wiegt schwerer als all die literarischen Bagatellen, die Abbé Trublet in einem dicken Band über Fontenelle zusammengestellt hat 90. Sie verdeutlicht, wie gefährlich die Philosophie ist, wenn ein Fanatiker oder ein Schurke oder ein Mönch, der beides zugleich ist, unglücklicherweise das Ohr eines Prinzen hat. Das ist eine Gefahr, mein Herr, der man bei Ihnen nie ausgesetzt sein wird.

Über den Abbé De Saint-Pierre

Die Mohammed-Allegorie des Abbé de Saint-Pierre91 war viel spektakulärer als die von Mero. Alle Werke dieses Abbés, von denen viele als Träumereien gelten, sind das Werk eines ehrbaren Mannes und eines engagierten Bürgers; aber alles darin ist reinster Deismus. Er wurde jedoch nicht verfolgt, denn er schrieb so, dass niemand neidisch werden konnte. Sein Stil ist nicht ansprechend; er wurde wenig gelesen. Er machte niemandem etwas vor; die ihn lasen, lachten ihn aus und schimpften ihn einen Biedermann. er wäre verloren gewesen, wenn er wie Fontenelle geschrieben hätte, besonders, als die Jesuiten noch herrschten.

Über Bayle

Doch damals stand für mehrere Jahre der unsterbliche Bayle92 auf, der erste der Dialektiker und der skeptischen Philosophen. Er hatte bereits seine Gedanken über den Kometen93, seine Antworten auf die Fragen eines Provinzialen und schließlich sein Dictionnaire de raisonnement vorgelegt94. Seine größten Feinde müssen zugeben, dass es in seinen Werken keine einzige Zeile gibt, die eine offensichtliche Blasphemie gegen die christliche Religion darstellt; aber sogar seine größten Fürsprecher geben zu, dass es in den streitbaren Artikeln zu Glaubensfragen keine einzige Seite gibt, die den Leser nicht zum Zweifel und oft zum Unglauben hinführt. Man konnte ihn nicht der Gottlosigkeit überführen, aber er machte Gottlose, indem er die Einwände gegen unsere Dogmen in ein so helles Licht stellte, dass es einem mittelmäßigen Glauben nicht möglich war, davon nicht erschüttert zu werden; und leider hat der größte Teil der Leser nur einen sehr mittelmäßigen Glauben.
In einem jener historischen Wörterbücher, in denen die Wahrheit so oft mit der Lüge vermischt ist, wird erzählt, dass der Kardinal de Polignac Bayle auf der Durchreise in Rotterdam fragte, ob er Anglikaner, Lutheraner oder Calvinist sei, und dieser darauf geantwortet habe: „Ich bin Protestant, weil  ich gegen alle Religionen protestiere.“
Erstens kam der Kardinal de Polignac nie durch Rotterdam, außer als er 1713 nach Bayles Tod den Frieden von Utrecht95 schloss. Zweitens war diesem gelehrten Prälaten nicht unbekannt, dass Bayle, in Foix als Calvinist geboren, nie in England oder Deutschland gewesen und weder Anglikaner noch Lutheraner war. Drittens war er zu höflich, um einen Mann zu fragen, welcher Religion er angehöre. Es ist wahr, dass Bayle zuweilen das gesagt hat, was man ihm als Ausspruch zuschreibt; er fügte hinzu, er sei wie Jupiter, der bei Homer die Wolken zusammenschiebt96. Er war außerdem ein Mann von geregelter und einfacher Lebensweise, ein wahrer Philosoph im vollsten Sinne des Wortes. Er starb plötzlich, nachdem er die Worte geschrieben hatte: „Das also ist sie, die Wahrheit“.
Er hatte sie sein ganzes Leben lang gesucht und überall nur Irrtümer gefunden.
Nach ihm ist man noch viel weiter gegangen. Maillet, Boulainvillier, Boulanger, Meslier, der gelehrte Fréret, der Dialektiker Dumarsais, der ungestüme La Méttrie und viele andere griffen die christliche Religion ebenso heftig an wie Porphyrios, Celsus oder Julian97.
Ich habe oft danach gefragt, was so viele moderne Schriftsteller veranlassen konnte, derartigen Hass auf das Christentum zu entfalten. Einige erwiderten, die Schriften der neuen Apologeten unserer Religion hätten sie empört; dass man nicht daran gedacht hätte, sich gegen diese Apologeten zu erheben, wenn sie mit der Mäßigung geschrieben hätten, die ihnen ihre Sache hätte einflößen müssen,; dass aber ihre Galle Galle erzeugte; dass ihr Zorn zu Zorn führte; dass die Verachtung, die sie für die Philosophen hegten, Verachtung hervorrief; so dass endlich zwischen den Verteidigern und den Feinden des Christentums das eingetreten ist, was man in allen Glaubensgemeinschaften gesehen hat: Man schrieb auf beiden Seiten mit Hitzigkeit; man vermischte Beleidigungen mit Argumenten.

Von Mademoiselle Huber

Mademoiselle Huber98 war eine Frau von großem Geist und Schwester des Abbé Huber99, der Ihrem Vater, Monsieur100, wohlbekannt war. Sie tat sich mit einem großen Metaphysiker zusammen, um 1740 das Buch Religion essentielle à l’homme zu schreiben. Man muss zugeben, dass diese Wesentliche Religion leider der reine Deismus ist, wie ihn die Noachiden101 praktizierten, bevor Gott sich herabgelassen hatte, sich in den Wüsten Sinai und Horeb ein geliebtes Volk zu schaffen und ihm besondere Gesetze zu geben. Nach Mademoiselle Huber und ihrem Freund muss die dem Menschen wesentliche Religion zeitlos sein, für alle Orte und Köpfe gelten. Alles, was ein Mysterium ist, übersteigt den Menschen und ist nicht für ihn bestimmt; das tugendhafte Handeln darf nicht mit religiösen Lehrsätzen verknüpft werden. Die für den Menschen wesentliche Religion liegt in dem, was man tun soll, und nicht in dem, was man nicht verstehen kann. Intoleranz ist für die wesentliche Religion das, was die Barbarei für die Menschheit ist, die Grausamkeit für die Sanftmut. Das ist die Kernaussage des gesamten Buches. Die Autorin ist sehr abstrakt: Sie liefert eine Abfolge von Maximen und Theoremen, die manchmal mehr Dunkelheit als Licht verbreiten. Es fällt schwer, diesem Ablauf zu folgen. Dass eine Frau wie ein Landvermesser über ein so interessantes Thema scheibt, ist erstaunlich; vielleicht wollte sie Leser abstoßen, die sie verfolgt hätten, wenn sie sie verstanden und mit Vergnügen gelesen hätten.
Weil sie Protestantin war, wurde das Buch nur von Protestanten gelesen. Ein Prediger namens Desroches102 widersprach ihm, und zwar für einen Prediger sogar recht höflich. Die protestantischen Prediger, Monsieur, müßten gegen die Deisten gemäßigter sein als die katholischen Bischöfe und Kardinäle; denn nehmen wir einen Augenblick an, Gott bewahre, dass der Deismus die Oberhand behielte, dass es nur einen einfachen Gottesdienst unter der Autorität der Gesetze und Obrigkeit gäbe, dass alles auf die Anbetung des höchsten Wesens reduziert sei, die belohnt und rächt;  so würden die protestantischen Pastoren nichts verlieren; sie würden weiterhin beauftragt sein, den öffentlichen Gebeten zum höchsten Wesen vorzustehen, und sie würden immer noch Lehrer der Moral sein; ihre Pensionen würden ihnen erhalten bleiben, oder, wenn sie sie verlieren, wird dieser Verlust sehr gering sein. Ihre Widersacher dagegen haben reiche Prälaturen; sie sind Grafen, Herzöge, Fürsten; sie haben Souveränität; und obwohl so viel Größe und Reichtum vielleicht nicht gut zu Nachfolgern der Apostel passen, werden sie es niemals dulden, dass man sie ihrer beraubt: Selbst die weltlichen Rechte, die sie erworben haben, sind heute so eng mit der Verfassung der katholischen Staaten verbunden, dass man sie ihnen nur durch heftige Erschütterungen nehmen kann..

Nun ist der Deismus eine Religion ohne Leidenschaft, die von sich aus niemals eine Revolution auslösen wird. Er ist falsch, aber er ist friedlich. Alles, was zu befürchten wäre, ist, dass der Deismus, der so allgemein verbreitet ist, unmerklich alle Gemüter dazu bringt, das Joch der Päpste zu verachten, und dass die Obrigkeit ihn bei der ersten Gelegenheit auf die Funktion reduzieren wird, für das Volk zu Gott zu beten. Aber solange er gemäßigt ist, wird er respektiert: Es ist stets nur der Missbrauch der Macht, der die Macht erschüttert. Bedenken wir, Monsieur, dass zwei- oder dreihundert Bände des Deismus niemals die Einkünfte der römisch-katholischen Päpste um einen Ecu geschmälert haben, dass aber zwei oder drei Schriften Luthers und Calvins sie um etwa fünfzig Millionen Einkünfte gebracht haben. Vor zweihundert Jahren hätte ein theologischer Streit Europa erschüttern können; der Deismus hat nie auch nur vier Menschen zusammengebracht. Man kann sogar sagen, dass diese Religion, indem sie die Geister verwirrt, die Gemüter beruhigt und die Streitigkeiten besänftigt, die eine falsch verstandene Wahrheit hervorgerufen hat. Wie dem auch sei, ich beschränke mich darauf, Eurer Hoheit einen getreuen Bericht zu geben. Es liegt an Ihnen, darüber zu urteilen.

Von Barbeyrac

Barbeyrac103 ist der einzige Kommentator, der mehr Ansehen genießt als sein Autor selbst. Er übersetzte und kommentierte Pufendorfs Sammelsurium, aber er bereicherte es mit einem Vorwort104, das allein das Buch in Schwung brachte. In dieser Vorrede geht er auf die Quellen der Moral zurück; und er hat die kühne Offenheit, zu zeigen, dass die Kirchenväter diese reine Moral nicht immer gekannt haben und sie durch seltsame Allegorien verunstalteten. So zum Beispiel, wenn sie sagen, dass der Fetzen roten Tuches, den die Schankwirtin Rahab am Fenster ausbreitet105 offensichtlich das Blut Jesu Christi sei; dass Mose, wenn er im Kampf gegen die Amalekiter seine Arme ausbreitet, das Kreuz meint106, an dem Jesus stirbt; dass die Küsse der Sulamith die Hochzeit Jesu Christi mit seiner Kirche bedeuten107; dass die große Tür der Arche Noah den menschlichen Körper bezeichnet, die kleine Tür den Anus usw. usw.

Barbeyrac konnte es aus moralischen Gründen nicht dulden, dass Augustinus zum Verfolger wurde, nachdem er Toleranz gepredigt hatte108. Er verurteilt aufs schärfste die groben Beleidigungen, die Hieronymus gegen seine Widersacher, insbesondere gegen Rufinus und Vigilantius ausstieß109. Er weist auf die Widersprüche hin, die er in der Moral der Kirchenväter bemerkt; er ist empört darüber, dass sie manchmal Hass auf das Vaterland geschürt haben, wie Tertullian, der den Christen ausdrücklich verbietet, Waffen zur Rettung des Reiches zu tragen110.

Barbeyrac hatte heftige Gegner, die ihm vorwarfen, er wolle die christliche Religion vernichten, indem er diejenigen, die sie durch unermüdliche Arbeit unterstützt hatten, lächerlich machte. Er verteidigte sich; aber er zeigt in seiner Verteidigung eine so tiefe Verachtung für die Kirchenväter; er zeigt so viel Verachtung für ihre falsche Beredsamkeit und Dialektik; er bevorzugt Konfuzius, Sokrates, Zaleukos, Cicero, den Kaiser Antoninus und Epiktet so sehr, dass es offenbar ist, dass Barbeyrac mehr der eifrige Verfechter der ewigen Gerechtigkeit und des Naturgesetzes, das Gott den Menschen gegeben hat, als der Anbeter der heiligen Mysterien des Christentums ist. Wenn er sich geirrt hat, als er glaubte, Gott sei der Vater aller Menschen, wenn er das Unglück hatte, nicht zu sehen, dass Gott nur Christen lieben kann die in Herz und Verstand unterwürfig sind, so ist sein Irrtum wenigstens ein Irrtum einer schönen Seele; und da er die Menschen liebte, ist es nicht Sache der Menschen, ihn zu beleidigen, sondern es ist an Gott, ihn zu richten. Gewiss ist er nicht zu den Atheisten zu zählen.

Von Fréret

Der berühmte und tiefgründige Fréret111 war ständiger Sekretär der Académie des Belles-Lettres in Paris. Er hatte in den orientalischen Sprachen und in der Finsternis des Altertums so viele Fortschritte gemacht, wie es nur möglich war. Indem ich seiner ungeheuren Gelehrsamkeit und Redlichkeit gerecht werde, maße ich es mir nicht an, seine Heterodoxie zu entschuldigen112. Er war nicht nur mit dem heiligen Irenäus überzeugt, dass Jesus mehr als fünfzig Jahre alt war, als er die letzte Marter erlitt, sondern er glaubte auch mit dem Targum, dass Jesus nicht zur Zeit des Herodes geboren wurde und dass seine Geburt auf die Zeit des kleinen Königs Jannaeus, des Sohnes des Hircan, datiert werden muss113. Die Juden sind die einzigen, die diese eigentümliche Meinung vertreten haben; Herr Fréret versuchte, sie zu stützen, indem er behauptete, unsere Evangelien seien erst mehr als vierzig Jahre nach dem Jahr geschrieben worden, in das wir den Tod Jesu legen; dass sie nur in fremden Sprachen und in weit von Jerusalem entfernten Städten verfasst wurden, wie Alexandria, Korinth, Ephesus, Antiochia, Ankara, Thessaloniki: alles Städte von großem Handel, voll von Therapeuten, Jüngern des Johannes, Juden, Galiläern, die in mehrere Sekten aufgeteilt waren. Daher komme es, sagt er, dass es eine sehr große Anzahl von Evangelien gebe, die sehr verschieden voneinander seien, denn jede besondere und verborgene Gruppierung wollte ihre eigenen haben. Fréret behauptet, dass die vier, die kanonisch geblieben sind, zuletzt geschrieben wurden. Er glaubt unwiderlegbare Beweise dafür zu haben, nämlich, dass die ersten Kirchenväter sehr oft Worte zitieren, die nur im Evangelium der Ägypter oder im Evangelium der Nazarener oder im Jakobusevangelium zu finden sind, und dass Justin der erste ist, der die empfangenen Evangelien ausdrücklich zitiert114.

Wenn dieses gefährliche System anerkannt würde, würde daraus offenbar folgen, dass die Bücher mit den Titeln Matthäus, Johannes, Markus und Lukas erst zur Zeit von Justins Kindheit115 geschrieben wurden, etwa hundert Jahre nach der uns gemeinen Zeitrechnung. Das allein würde unsere Religion von oben bis unten umstürzen116. Die Mohammedaner, die sahen, wie ihr falscher Prophet die Blätter seines Korans ausschnitt, und die sahen, wie sie nach seinem Tode vom Kalifen Abubeker feierlich aufgesetzt wurden, würden über uns triumphieren; sie sagten zu uns: „Wir haben nur einen Alcoran, und ihr habt fünfzig Evangelien; wir haben das Original sorgfältig aufbewahrt, und nach einigen Jahrhunderten habt ihr vier Evangelien ausgewählt, deren Daten ihr nie erfahren habt. Du hast deine Religion Stück für Stück geschaffen; Unsere wurde in einem Rutsch hergestellt, wie eine Schöpfung. Ihr habt hundertmal gewechselt, und wir haben uns nie verändert.“117

Gott sei Dank werden wir nicht auf diese fatalen Begriffe reduziert. Wo wären wir, wenn das, was Fréret behauptet, wahr wäre? Wir haben hinreichende Beweise für das Alter der vier Evangelien: der heilige Irenäus sagt ausdrücklich, dass nur vier notwendig sind.

Ich gestehe, dass Fréret Abbadies118 klägliche Argumentation pulverisiert. Dieser Abbadie behauptet, dass die ersten Christen in der Annahme, für die Wahrheit zu sterben, für die Evangelien gestorben seien. Aber dieser Abbadie erkennt an, dass die ersten Christen falsche Evangelien erfunden haben: Deshalb, so Abbadie selbst, starben die ersten Christen für die Lüge. Abbadie hätte zwei wesentliche Dinge berücksichtigen müssen: erstens, dass nirgends geschrieben steht, dass die ersten Märtyrer von Staatsbeamten über die Evangelien befragt wurden; zweitens, dass es in allen Gemeinschaften Märtyrer gibt. Wenn aber Fréret Abbadie niederschmettert, so wird er selbst durch die Wunder zu Fall gebracht, die unsere vier heiligen wahren Evangelien vollbracht haben. Er leugnet die Wunder, also stellt ihm einen Schwarm von Zeugen entgegen; er leugnet die Zeugen, da bleibt uns schließlich nur, ihn zu bemitleiden.

Ich stimme mit ihm darin überein, dass fromme Betrügereien oft angewandt worden sind; ich stimme zu, dass es im Anhang zum Ersten Konzil von Nicäa heißt, dass alle kanonischen Bücher auf einen großen Tisch gelegt wurden, um sie von den Fälschungen zu unterscheiden, und dass der Heilige Geist gebeten wurde, alle Apokryphen herunterzubringen; sofort fielen sie, und nur die wirklichen blieben übrig. Schließlich gestehe ich, dass die Kirche mit falschen Legenden überschwemmt worden ist. Aber folgt daraus die Tatsache, dass es Lügen und Bösgläubigkeit gegeben hat, dass es weder Wahrheit noch Offenheit gegeben hat? Gewiss ist Fréret zu weit gegangen: Er hat das ganze Gebäude umgestürzt, anstatt es zu reparieren; er führt, wie so viele andere, den Leser zur Anbetung des einen Gottes, ohne die Vermittlung Christi. Aber immerhin atmet sein Buch eine Mäßigung, die einen fast dazu bringen würde, seine Fehler zu verzeihen; er predigt nur Nachsicht und Toleranz; er beleidigt Christen nicht grausam wie Lord Bolingbroke; er lacht sie nicht aus wie Pfarrer Rabelais und Pfarrer Swift. Er ist ein Philosoph, der umso gefährlicher ist, als er hochgebildet, sehr konsequent und sehr bescheiden ist. Es ist zu hoffen, dass es Gelehrte geben wird, die ihn besser widerlegen werden, als es bisher der Fall war.

Sein schrecklichstes Argument ist, dass, wenn Gott sich herabgelassen hätte, Mensch und Jude zu werden und in Palästina durch eine schändliche Folter zu sterben, um die Verbrechen des Menschengeschlechts zu sühnen und die Sünde von der Erde zu verbannen, es keine Sünde und kein Verbrechen mehr gegeben haben dürfte; und doch, sagt er, sind die Christen hundertmal abscheulicher gewesen als alle Anhänger anderer Religionen zusammen119. Er führt als klaren Beweis dafür die Massaker, die Räder, die Galgen und die Scheiterhaufen der Cevennen und fast hunderttausend Männer an, die in dieser Provinz vor unseren Augen abgeschlachtet wurden; die Massaker in den Tälern des Piemonts; die Massaker des Veltlin zur Zeit Karls Borromäus; die Massaker an den in Deutschland massakrierenden und massakrierten Wiedertäufern120; die Massaker an Lutheranern und Papisten vom Rhein bis in die Tiefen des Nordens; die Massaker in Irland, England und Schottland zur Zeit Karls I., der selbst massakriert wurde121; die von Maria und Heinrich VIII., ihrem Vater, angeordneten Massaker122; die Massaker am Bartholomäustag in Frankreich und vierzig Jahre anderer Massaker von Franz II. bis zum Einzug Heinrichs IV. in Paris; die Massaker der Inquisition, die vielleicht noch abscheulicher sind, weil sie legal durchgeführt wurden; schließlich die Massaker an zwölf Millionen Bewohnern der Neuen Welt, die mit Kruzifixen in der Hand hingerichtet wurden, ganz zu schweigen von all den Massakern, die seit der Zeit Konstantins im Namen Jesu Christi begangen wurden, und ganz zu schweigen von mehr als zwanzig Schismen und zwanzig Kriegen von Päpsten gegen Päpste und von Bischöfen gegen Bischöfe, von den Vergiftungen, den Morden, den Vergewaltigungen der Päpste Johannes XI.  Johannes XII., Johannes XVIII., Gregor VII., Bonifaz VIII., Alexander VI. und einiger anderen Päpste, die Nero und Caligula, was ihre Schurkereien betrifft, weit hinter sich gelassen haben. Endlich bemerkt er, dass es diese furchtbare, fast ununterbrochene Kette von Religionskriegen seit vierzehnhundert Jahren nur bei den Christen gab; dass außer ihnen kein Volk auch nur einen Tropfen Blut für theologische Argumente vergossen hat. Wir müssen Herrn Fréret zustimmen, dies ist alles wahr. Aber wenn er die geschehenen Verbrechen aufzählt, vergisst er die Tugenden, die verborgen geblieben sind; vor allem vergisst er, dass die höllischen Schrecken, die er so ungeheuer zur Schau stellt, der Missbrauch der christlichen Religion sind und nicht ihr Geist. Was beweist es, dass Jesus Christus die Sünde auf Erden nicht vernichtet hat? Daraus könnte man allenfalls mit den Jansenisten schließen, dass Jesus Christus nicht für alle, sondern für viele gekommen ist: pro vobis und pro multis123. Aber wenn wir die hohen Geheimnisse nicht verstehen, sollten wir uns damit begnügen, sie anzubeten, und vor allem wollen wir diesen berühmten Mann nicht beschuldigen, ein Atheist gewesen zu sein.

Von Boulanger

Schwieriger wäre es für uns, Herrn Boulanger124, den Direktor für Straßen und Brücken, zu rechtfertigen. Sein Christianisme dévoilé [dt.: Das entschleierte Christentum]125 ist nicht mit der Methode und Tiefe der Gelehrsamkeit und Kritik geschrieben, die den gelehrten Fréret auszeichnen. Boulanger ist ein kühner Philosoph, der zu den Quellen zurückkehrt, ohne sich dazu herabzulassen, den Wasserläufen nachzugehen. Dieser Philosoph ist ebenso betroffen wie unerschrocken. Die Schrecken, mit denen sich so viele christliche Kirchen seit ihrer Geburt befleckt haben; die feigen Barbareien der Staatsbeamten, die so viele ehrliche Bürger den Priestern geopfert haben; Fürsten, die, um ihnen zu gefallen, schändliche Verfolger gewesen sind; so viele Torheiten in kirchlichen Streitigkeiten, so viele Gräuel in diesen Streitigkeiten; die Menschen, die abgeschlachtet oder ruiniert wurden; die Throne so vieler Priester, die aus der Beute zusammengesetzt und mit dem Blut der Menschen gekittet sind; jene furchtbaren Religionskriege, mit denen allein das Christentum die Erde überschwemmt hat; dieses ungeheure Chaos von Absurditäten und Verbrechen rüttelt die Vorstellungskraft des Herrn Boulanger mit solcher Macht auf, dass er an einigen Stellen seines Buches so weit geht, an der göttlichen Vorsehung zu zweifeln. Ein verhängnisvoller Irrtum, den die Einsätze der Inquisition und unsere Religionskriege vielleicht entschuldigen würden, wenn er entschuldbar wäre; aber kein Vorwand kann den Atheismus rechtfertigen. Wenn alle Christen sich gegenseitig die Kehle durchgeschnitten; wenn sie die Eingeweide ihrer wegen bloßer Argumente ermordeten Brüder  verschlungen haben werden; wenn nur noch ein Christ auf Erden übrig ist, dann müsste er, wenn er in die Sonne schaut, das ewige Wesen erkennen und anbeten. Er könnte in seinem Schmerz sagen: „Meine Väter und meine Brüder waren Ungeheuer, aber Gott ist Gott“.

Von Montesquieu

Der moderateste und klügste aller Philosophen war der Präsident de Montesquieu126. In seinen Persischen Briefen127 war er nur amüsant; in seinem Geist der Gesetze128 war er vielseitig und tiefgründig. Dieses Werk, voll von Vortrefflichem und Fehlern129, scheint auf das Gesetz der Natur und auf die Gleichrangigkeit der Religionen gegründet zu sein: gerade das hat ihm so viele Anhänger und Feinde eingebracht; aber diesmal wurden die Feinde von den Philosophen besiegt. Ein lange unterdrückter Schrei erhob sich von allen Seiten. Endlich wurde der Deismus, der schon lange tief verwurzelt war, als fortschrittlich entdeckt130. Die Sorbonne wollte den Geist der Gesetze zensieren; aber sie fühlte, dass sie von der Öffentlichkeit getadelt werden würde und schwieg. Es gab nur wenige elende, unbedeutender Schriftsteller, wie einen Abbé Guyon und einen Jesuiten, die den Präsidenten Montesquieus beleidigten; und sie wurden noch unbedeutender, trotz des Ruhmes des Mannes, den sie angriffen131. Sie hätten unserer Religion mehr gedient, wenn sie mit Vernunft gekämpft hätten; doch sie waren schlechte Verfechter einer guten Sache.

Von La Mettrie

Seit dieser Zeit gab es eine Flut von Schriften gegen das Christentum. Der Arzt La Mettrie132, der beste Kommentator Boerhaaves133, gab die Medizin des Körpers auf, um sich, wie er sagte, der Medizin der Seele134 zu widmen; aber sein Homme machine135 zeigte den Theologen, dass er nichts als Gift verabreichte. Er war Vorleser des Königs von Preußen und Mitglied seiner Berliner Akademie. Der Monarch, der mit seinen Manieren und seinen Diensten zufrieden war, verschwendete keinen Gedanken darüber, ob La Mettrie in der Theologie irrige Ansichten vertreten hatte: er dachte nur an den Arzt, an das Mitglied der Akademie, und in dieser Eigenschaft wurde La Mettrie die Ehre zuteil, dass dieser philosophische Heros seinen Nachruf zu verfassen geruhte136. Der Nachruf wurde in der Akademie auf seine Anweisung hin von einem Sekretär verlesen. Ein König, den ein Jesuit regiert, hätte La Mettrie und das Andenken an ihn verfemen lassen können; ein König, den nur die Vernunft regiert, unterschied den Philosophen vom Gottlosen und überließ es Gott, die Gottlosigkeit zu bestrafen, während er das Verdienstvolle lobte und bewahrte.


  1. William, Baron von  North and Grey (1678 – 1734), englischer Adliger, Offizier und Anhänger der Stuarts. ↩︎
  2. David Durand, La Vie et les sentimens de Lucilio Vanini, Rotterdam : Fritsch, 1717, 260 S. Durant (1680 -1763) war ein hugenottischer Flüchtling aus dem Umfeld von Pierre Bayle. Er lebte später in England und war dort Pastor der Kirche von England. ↩︎
  3. François Garasse (1585-1631) war ein fanatischer Vertreter der katholischen Gegenreformation. Seine Gegner titulierte er mit allen möglichen Tiernamen, bevorzugt als Ungeziefer. Im Fall des Ketzerprozesses gegen Vanini war er einer der Haupteinpeitscher. Sein Name rangiert in der Galerie der größten Finsterlinge der Geschichte sicher auf einem der oberen Plätze. Seine Kampfschrift La Doctrine curieuse des beaux-espr its (1624) wurde im Jahr 2009 tatsächlich neu aufgelegt – siehe dazu die Rezension in Le Monde vom 20. März 2009 ↩︎
  4. Der exakte Titel ist: Garasse, François, La doctrine curieuse des beaux esprits de ce temps, ou pretendus tels. Contenant plusieurs maximes pernicieuses à la religion, à l’estat, & aux bonnes mœurs, Paris: Chez Sebastien Chappelet, 1624 ↩︎
  5. Voltaire bezieht sich auf das Werk De religione gentilium errorumque apud eos causis (1663), in dem Edward Lord Herbert von Cherbury (1583 – 1648) fünf Grundsätze aufstellt, die in jeder Religion gleich seien: 1. Der Glaube an ein höheres Wesen/2. Die Pflicht, dieses Wesen zu verehren/3. Die Gleichsetzung der Verehrung mit moralischem Handeln/4. Die Forderung, Sünden zu bereuen und zu büßen/5. Der Glaube an göttliche Belohnung und Bestrafung. Voltaire lehnt sich sehr eng an diese Auffassung an. Offenbarungen, auf die sich das Judentum , Christentum und der Islam gründen, kommen dabei allerdings nicht vor. ↩︎
  6. Der Earl of Shaftesbury (1671-1713) war die bedeutendste Stimme der Frühaufklärung. Er lehnte die Offenbarungsbehauptung ebenso ab, wie die angebliche priesterliche Vermittlung zu Gott. Wie Cherbury nahm auch er ein natürliches moralisches Empfinden an, das allen Menschen gleichermaßen zu eigen sei. F.A. Lange, (in seiner Geschichte des Materialismus 1866) sagt über ihn: „Wo Voltaire seine Nahrung fand, ist leicht zu sehen wenn man bedenkt, dass Shaftesbury nicht nur Scheiterhaufen und Hölle, Wunder und Bannfluch, sondern auch Kanzel und Katechismus angriff.“ (S. 326) ↩︎
  7. William Wollastone 1659 – 1724), Anglikanischer Priester, Frühaufklärer. Sein Hauptwerk ist: The Religion of Nature Delineated (1722) [etwa: Die natürliche Religion im Überblick]. Er war ein Deist und vertrat die Auffassung, dass die natürliche Religion im „Streben nach Glück durch die Ausübung von Vernunft und Wahrheit“ bestehe und zwar in vollkommener Übereinstimmung mit der Natur. ↩︎
  8. John Toland (1670-1722), bedeutender irischer Aufklärer, vertrat eine pantheistische Lehre. Sein Hauptwerk ist Christianity not Mysterious (1696) [dt. Christentum ohne Geheimnis, Gießen: Töpelmann1908, 148 S.]. Es wurde 1697 in Dublin verbrannt. Er starb, völlig verarmt, 1722 in Putney. ↩︎
  9. John Toland, Origines Judaicae sive Strabonis de Moyse et religione Judaica historia, Den Haag 1709 ↩︎
  10. John Toland, Nazarenus: or Jewish, Gentile, and Mahometan Christianity, London: 1718 ↩︎
  11. John Toland: Pantheisticon : Sive formula celebrandæ Sodalitatis Socraticæ 1720; engl.: Pantheisticon: or the Form of Celebrating the Socratic-Society, London,1751 [dt.: Das Pantheistikon, Leipzig: Findel, 1897, 170 S.] ↩︎
  12. Allmächtiger und ewiger Bacchus, der Du die Herzen der Menschen mit deinen Gaben belebst, gewähre gnädig, dass diejenigen, die durch die Kelche von gestern erkrankt sind, heute durch Becher um Becher geheilt werden. Amen! ↩︎
  13. John Locke, The Reasonableness of Christianity as Deliver’d in the Scriptures, London, 1695 [dt.: Vernünftigkeit des biblischen Christentums, übers. von C. Winckler, hrsg. von Leopold Zscharnack, Gießen, Töpelmann, 1914, 140 S. ↩︎
  14. Diese ewig existierende und denkende Monade ist die Seele. Siehe: Voltaire, Sur Locke, lettres philosophiques (1733), chap. XIII  ↩︎
  15. Pierre Gassendi (1592-1655), Physiker und Philosoph, verehrte den der Kirche verhassten Epikur (s. sein Werk De vita et moribus Epicuri) an. Er betont, dass anders als es Descartes lehrt, der Mensch sich seiner Existenz nicht nur im Denken bewußt wird, sondern ebenso durch körperliche Handlungen. ↩︎
  16. Der Brief an Descartes: Voltaire bezieht sich auf Gassendis Objectiones. Das Zitat findet sich in dem 4. Einwand. Siehe in englischer Übersetzung mit den Antworten Descartes (pdf) ↩︎
  17. Damaris Cudworth Masham (1658-1708) war eine britische Philosophin und eng mit John Locke befreundet, zuletzt lebten die beiden zusammen. ↩︎
  18. Jeremy Taylor (1613-1667), Anglikanischer Bischof von Connors (Nordirland). Sein Werk Ductor Dubitantum (1660) [D.D. oder allgemeiner Gewissenslehrer, Bremen, 1705] ist eine viele tausend Seiten lange Abhandlung zur Frage, was glaubenskonformes Verhalten im Sinne des Christentums bedeute (z.B. nicht zu lügen, auch wenn es das eigene Leben kostete …). ↩︎
  19. Matthew Tindal (1657 -1733), engl. Jurist, Verfechter der freien Meinungsäußerung. Sein Werk Christianity as Old as the Creation (1739) ist so etwas wie die Bibel des Deismus, in dem er zeigt, dass alles, was am Christentum glaubhaft/bewahrenswert ist, schon lange vor diesem in diversen anderen Glaubensrichtungen existierte. Dem entsprechend lehnte er alle Offenbarungsbehauptungen ab. ↩︎
  20. Whig: Anhänger der Hannoveranischen, protestantischen Thronfolge, die nach dem Tod v. Königin Anne 1714 Georg I. auf den engl. Thron brachte; Jakobit: Anhänger der Thronfolge der katholischen Stuarts, mit Jakob II, der nach der Glorius Revolution im Exil lebte) ↩︎
  21. Alexander Pope, Dunciad (1728) ist ein satirisches Gedicht, in dem Pope mit seinen Gegnern abrechnet. ↩︎
  22. Anthony Collins (1676-1729), Jurist, sein Hauptwerk ist A Discourse Concerning Free-Thinking, 1713 in dem er sich gegen den Materie/Geist bzw. Leib-Seele Dualismus à la Descartes ausspricht. ↩︎
  23. Samuel Clarke (1675-1729), Bischof von Nordwich und Vertrauter Isaac Newtons. Auch er vertrat die Position, dass es eine natürliche Religion gebe. Clarkes Auseinandersetzung mit Collins um die Frage, ob Bewusstsein zu einem materiellen System gehören kann, dokumentiert W. Uzgalis 2020 (engl.).
    Es ist interessant, dass sich Voltaire hier auf die Seite von Collins stellt, der eine materialistische Begründung des Bewußtsein vertritt. ↩︎
  24. Thomas Woolston (1670-1733), mit seiner These, dass die Bibel nur allegorisch und nicht wörtlich zu verstehen sei, kam er in Konflikt mit der angl. Kirche und wurde 1729 wegen Gotteslästerung zu einer Geld- und Gefängnisstrafe verurteilt. Zu Woolston und Voltaire: siehe: Norman L. Torrey, Voltaire and the English Deists (New Haven, CT: Yale University Press, 1930) ↩︎
  25. Auf frz. erschien 1730 von Th. Woolston: Discours sur les Miracles de Jesu Christ –  Engl.: A Discourse On the Miracles of Our Saviour In View of the Present Controversy Between Infidels and Apostates, 1729 ↩︎
  26. Jean-Baptiste Ladvocat (1709-1765), Theologe. Sein Wörterbuch heißt: Dictionnaire historique-portatif (Paris : Didot,1752) und das erwähnte  Nouveau Dictionnaire historique (1766) stammt von Louis Mayeul Chaudon. ↩︎
  27. William Warburton (1698-1779), gab die Werke Shakespeare heraus und schrieb Divine Legation of Moses demonstrated on the Principles of a Religious Deist (5 vol. 1738–41) ↩︎
  28. Henry Saint John Bolingbroke (1678-1753), war eine der zentralen Figuren der englischen Politik, 1710 Außenminister des Landes, bedeutender Kopf der Torys, nach der Thronbesteigung von George I. 1715 des Landes verwiesen. Voltaire besuchte ihn 1722 in La Source bei Orléans. Bolingbrokes Unterstützung und Empfehlung verdankte Voltaire die offene Aufnahme während seines Exils in England (1726 -1728). Die Sammlung seiner philosophischen Werke erschien 1754: The philosophical works of the late Right Honorable Henry St. John, Oxford: Bodleian Library in five volumes. ↩︎
  29. Voltaire erinnert hier an den Humanismus, Agrippa, Melanchton, Erasmus werden im 6. Abschnitt „Über die Deutschen“ erwähnt. ↩︎
  30. Voltaire spricht hier über sein eigenes Werk L’Examen important de Milord Bolingbroke ou le tombeau du fanatisme, écrit sur la fin de 1736 (1766), das er aus Sicherheitsgründen unter dem Namen des verstorbenen Lord Bolingbroke veröffentlichte. Darin kommt er zu dem Schluss: „Ich fasse zusammen, dass jeder empfindsame Mensch, jeglicher Gutgesinnte die Sekte des Christentums mit Abscheu betrachten muss“. ↩︎
  31. Thomas Chubb (1679-1747), britischer Gelehrter und Deist, wandte sich gegen Ansicht, dass Wunder die Göttlichkeit Jesus beweisen. Sein Hauptwerk ist The true Gospel of Jesus Christ (1738).. ↩︎
  32. Während seines Exils in England hatte Voltaire persönlichen Kontakt zu Swift. Zwei kurze Briefe sind überliefert. Voltaire nennt Swift „den Rabelais Englands“. Gullivers Reisen erschien 1726 während Voltaires Aufenthalt in London, er wollte die Travels ins Französische übersetzen lassen. Deutlich wird dessen Einfluss in der Erzählung Micromegas (1752). Dazu: Christopher Tacker, Swift and Voltaire, in Hermathena No. 104, 1967, pp 51-66 (Jstor) ↩︎
  33. Die Strophe ist aus dem Drama Cinna (1643) von Corneille ↩︎
  34. Tale of a tub (1704), eingegangen in Voltaires Pot-Pourri. Der Prediger ist nicht wirklich zwischen den beiden anderen Sprechern, er scheint auf seiner Tonne gegen die beiden zu sprechen – trotzdem auf lächerliche Art. ↩︎
  35. Voltaire bezieht sich auf die dritte Novelle im Decamerone (1325) v. Bocaccio ↩︎
  36. Eine Intrige des Papstes gegen Friedrich II., die Voltaire auch in dem Artikel Atheismus des Philosophischen Taschenwörterbuchs beschreibt. ↩︎
  37. Das Buch De tribus Impostoribus, erstmals verfasst 1562, wurde 1768 von d’Holbach herausgegeben. Voltaire grenzte sich stets scharf gegen dieses Werk ab, das seiner eigenen Positionen sehr nahe kommt. ↩︎
  38. Ihm wird vor allem von Seiten seiner beiden anderen Brüdern übel mitgespielt. ↩︎
  39. Swift starb an Hydrocephalus; Jacques Abbadie (1658 -1727) war ein protestantischer Theologe, durch das Edikt von Nantes nach England vertrieben. Sein Traité de la vérité de la religion chrétienne (1684) und sein Art de se connoître soi-même (1692) wurden in mehrere Sprachen übersetzt. La défense de la Nation Britannique (1693) , gegen Pierre Bayle verfasst, verteidigt die Volkssouveränität gegen den Untertanenstaat. Da Abbadie zur Zeit von Voltaires Aufenthalt in London starb, wird Voltaire von den Todesumständen erfahren haben, über die wir sonst keine Quellen gefunden haben. ↩︎
  40. Agrippa von Nettesheim (1486-1535), bedeutender Humanist aus Köln, der  sich mutig gegen die Hexenprozesse stellte und Reuchlin gegen die inquisitorischen Talmudverbrenner verteidigte. 1530 wurde er in Brüssel inhaftiert und seine Schrift De incertitude…(1527) [dt: Die Eitelkeit und Unsicherheit der Wissenschaften, 1721] verbrannt. Zu Nettesheim und seine Stellung unter den Humanisten: Peter Priskil, Zwölf  Humanisten, Freiburg: Ahriman, 2023 Bd 2, S. 311-379 ↩︎
  41. Apuleius, gr. Philosoph des 2. Jhd., war angeklagt, sich die Gunst der reichen Witwe Prudentia durch Zauberei verschafft zu haben, war aber durch seine Verteidigungsrede freigesprochen worden (-> Apologie des Apuleius ) ↩︎
  42. In: Agrippa, Von Adel und Vorrang des weiblichen Geschlechts ↩︎
  43. Auf welches Theaterstück sich Voltaire bezieht, ist unklar, im Anschluss an Marlowes The Tragical History of Doctor Faustus von 1604 gab es auf vielen Volkstheaterbühnen Faust-Stücke. ↩︎
  44. Dass Faust aus Schwaben stammte (Knittlingen bei Heilbronn) erzählte Johann Manlius 1562 (Locorvm communium collectanea) mit Bezug auf seinen Lehrer Melanchton.
    Maximilian I (1459-1519), Kaiser des Heiligen Römischen Reiches. Im Essay sur les moeurs (CXXII), erwähnt Voltaire dessen Bestreben, selbst Papst zu werden und dass er nicht über genügend Geld verfügte, um sich das Pontifikat zu kaufen. ↩︎
  45. Die Geschichte der Statue wird hier erzählt, jedoch ohne jeden intellektuellen Aufwand. Dass die Statue 1622 aufgestellt wurde, führt man auf den Stolz der Rotterdamer und auf das Bestreben von Hugo Grotius zurück. ↩︎
  46. Philipp Melanchthon (1497-1560), hieß eigentlich Philipp Schwartzerdt. ↩︎
  47. Eigentlich nannte man Melanchthon den Praeceptor (den Lehrer) Deutschlands. Zu den aufständischen Bauern veröffentlichte 1525 er sein Gutachten „Gegen die Artikel der Bauernschaft“. ↩︎
  48. „Ohne mein göttlich Geheiß schon wagt ihr, Winde, Himmel und Erde umzustürzen und solchen Tumult zu erheben?“ Spricht Neptun und glättet die Wogen…. ↩︎
  49. Eigentlich hält man Christian Wolff für einen Vertreter der Theologia naturalis. ↩︎
  50. Fontenelle (1657-1757), französischer Philosoph und Anhänger Descartes. Seine Lobrede auf Leibniz, übersetzt v. Gottsched, erschien als Vorrede zu Leibniz´ Theodizee (1763) ↩︎
  51. Siehe dazu unten „Von Fontenelle↩︎
  52. Christian Wolff (1679-1754), Mathematikprofessor und Prorektor der Universität Halle, zu seiner Biograhie: H. J. Kertscher, Er brachte Licht und Ordnung in die Welt. Christian Wolff – eine Biographie, Halle: mdv, 2018 (s. unsere Rezension) ↩︎
  53. Voltaire hatte bereits im Philosophischen Wörterbuch (Chinesischer Katechismus) auf das Schicksal Wolffs hingewiesen. Siehe dazu unseren Kommentar . ↩︎
  54. Diese Fehler befinden sich in dem Dictionnaire historique-portatif (1752) von Jean-Baptiste Ladvocat ↩︎
  55. Fleury, Claude (1640-1723), Beichtvater von Louis XV – sein Hauptwerk ist eine 20 bändige Kirchengeschichte. Eine Zusammenfassung (Abrégé de l’Histoire ecclésiastique, Bern [Berlin]) erschien 1766 mit einem Vorwort von Friedrich II. das mit dem genannten Zitat beginnt. ↩︎
  56. Marquis d’Argens, Défense du Paganisme par l‘empereur Julien, Berlin: Voss, 1764; ein Text, den Voltaire 1768 selbst unter dem Titel Discours de l’Empereur Julien contre les chrétiens herausgab, allerdings mit geänderten Anmerkungen, die ihm eine klar antichristliche Richtung verleihen. Jean-Baptiste de Boyer, Marquis d’Argens (1703 – 1771), Jurist, Schriftsteller der Aufklärung, war ein enger Vertrauter von Friedrich II. (Zu d’Argens siehe Uni Trier) ↩︎
  57. Mézeray, François-Eudes de (1610-1683), verfasste eine dreibändige Histoire de France ↩︎
  58. Hardouin, Jean (1646-1729), Herausgeber des einflussreichen Journal de Trévoux. In seinem posthum erschienen Pamphlet Athei detecti (1733) greift er insbesondere Descartes und dessen Anhänger an. Zu Garasse s. Anmerkung 3 und 4 ↩︎
  59. https://cymbalum-mundi.com/la-cymbale-du-monde/ ↩︎
  60. des Périers, Bonaventure (1510-1544), Humanist, Schriftsteller im Kreise von Marguerite de Navarre, der Schwester des franz. Königs Franz I. Er übersetzte die Bibel auf Französisch. Zu seinem Leben und seiner Bedeutung siehe Priskil, Peter, Zwölf Humanisten, 2022, S. 444-524. ↩︎
  61. Voltaire veröffentlichte 1770 diese „sehr faden Dialoge“ selbst, enthalten im 3. Band seinern seinen Choses utiles et agréables (Berlin [Genf]: Cramer, 1770 ) in einer von ihm besorgten Ausgabe heraus. ↩︎
  62. Psalm 115, eigentlich: Ich glaubte, also sprach ich ↩︎
  63. Nicolas Catherinot (1628-1688), veröffentlichte eine kleine Broschüre über die „Kunst des Buchdrucks“, in der er den Buchdruck geißelt, weil er zur Kritik an der Kirche, dem Staat und den guten Sitten missbraucht würde. Das Wappen von Bourges enthält 3 Schafe. Zum Werk De tribus Impostoribus s. Anmerkung 37 ↩︎
  64. Mersenne, Marin (1588-1648) , war ein Mönch vom Orden der Minimiten. Er war mit Descartes gemeinsam zur Schule gegangen. Von seinem fanatischen Atheistenhass erfährt man bei Wikipedia kein Wort. In dem Artikel Atheismus des Philosophischen Taschenbuchs heißt es: „Mersenne hat den Wahnsinn so weit getrieben, drucken zu lassen, dass Vanini Neapel mit zwölf seiner Jünger verlassen habe, um alle Völker zum Atheismus zu bekehren.“(S. 49) ↩︎
  65. Theophile de Viau (1590-1626), bedeutender Poet des 16. Jahrhunderts. Seine phantasievolle Lyrik (und seine Homosexualität) machte ihn zum Hassobjekt der klerikalen Verfolger. ↩︎
  66. Henri II. de Montmorency (1595-1632), von Richelieu zum Tode verurteilt. Voltaire erzählt seine Geschichte im 176. Kapitel seines Essai sur les moeurs. ↩︎
  67. Horaz, Episteln 2.Bd., 2.Brief Vers 102, dort geht es um die Ruhmsucht der Schriftsteller, die sie reizbar macht, Theophilius ist demnach „von der überempfindlichen Rasse der Poeten“. ↩︎
  68. Zur Zeit, als diese Verse erschienen (um 1600), war die Jesuitenmission in China sehr erfolgreich, es war ihnen gelungen, Zgang zum Kaiserhof zu erlangen. François Garasse ↩︎
  69. Ravaillac, François (1587-1610) war der katholisch fanatisierte Mörder von Henry IV. Er wurde schrecklich gefoltert und von vier Pferden in Stücke gerissen. ↩︎
  70. In diesem Machwerk hetzt Garasse vornehmlich gegen Théophile de Viau  ↩︎
  71. Karpokrates von Alexandria (2.Jhdt), vertrat eine gnostische Richtung des Christentums, die Garasse fanatisch bekämpfte. ↩︎
  72. Nonotte [eigentlich Nonnotte], Jean-Adrien (1711-1793), Jesuit, verfasste eine weitverbreitete Schrift gegen Voltaire. Der Jesuitenorden war 1763 in Frankreich verboten, jedoch nicht ausgelöscht worden. ↩︎
  73. In dieser Aufzählung versammelt Voltaire satirische Autoren, die meist von der Kirche verfolgt wurden. ↩︎
  74. Des Barreaux [Jacques Vallée, seigneur des Barreaux], 1599-1673, war ein antiklerikaler Poet und Epikuräer. Zu seiner Biographie s. Wikipedia (frz) und die Biographie von Lachèvre. ↩︎
  75. Boileau-Despréaux, Nicolas (1636-1711), Schriftsteller. Seine Satyre X enthält die beiden zitierten Verse, die schwer zu übersetzen sind. Im zweiten wird Boileau als Beispiel eines Atheisten angeführt. S. Boileau, Oeuvres Poetiques . ↩︎
  76. Kapaneus, einer der sieben Helden, die gegen Theben zogen. Er glaubte nicht an Zeus und wurde deshalb vom Blitz erschlagen. ↩︎
  77. Des Barreaux war Richter am Parlament von Paris, verzichtete aber auf diese Funktion, um ein glückliches Leben zu führen. ↩︎
  78. Das Gedicht ist als “Barreaux‘s celebrated Sonnet” in der Sammlung von Pearch, G. (A collection of poems in four volumes. By several hands. Vol. III. [The second edition]. London: printed for G. Pearch, 1770) enthalten. Im Eighteenth-Century Poetry Archive wird es sorgfältig vorgestellt und ins Englische übersetzt. ↩︎
  79. De Lavau, Louis Irland (-1694), Kleriker und Mitglied der Académie française. Er verehrte Corneille und Fontenelle. Von ihm ist nichts schriftliches überliefert. ↩︎
  80. De la Mothe le Vayer, François (1588-1672), Schriftsteller und Philosoph des Skeptizismus (Pyrrhonismus). Sein Skeptizismus bedeutete auch, an der historischen Belegbarkeit der biblischen Erzählungen zu zweifeln. ↩︎
  81. De la vertu des païens, Paris: Targa, 1642, 374 p. La Motte verteidigte darin die Tugenden der sog. Heidnischen Religion. Zur Einordnung des Werkes, speziell vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit dem Jansenismus, siehe (frz) Isabelle Moreau (2104) ↩︎
  82. Das Werk hat den Titel: Quatre dialogues faits à l’imitation des Anciens, par Orasius Tubero, Frankfurt: Jean Sarius, 1506 [1633] ↩︎
  83. Saint-Évremond, eigentlich Le Marquetel, Charles (1614-1703), war Philosoph und Epikuräer, aber auch Soldat. Ab 1661 lebte er im Exil in England, wo er in der Westminster-Abbye begraben liegt. Zeitlebens hat er kein eigenes Werk veröfffentlicht. Erst ab 1960 versuchte René Ternois, seine Schriften zu klassifizieren (s.dazu den Hinweis (frz.) in der Enzyklopädia universalis (Art. Saint-Évremond ) ↩︎
  84. Der Titel lautet: Analyse de la religion und stammt von Chesneau, César, genannt Du Marsais (1676-1756), Autor der Enzyklopädie. Voltaire hielt es  « das zersetzendste Buch, das jemals über diesen Gegenstand geschrieben wurde“ (Brief an Cramer am 30.12.1761, D10239). Es erschein in Frankreich zunächst unter dem Namen Saint Evremonts. ↩︎
  85. Angeblich soll bei der Kreuzigung Jesu eine große Finsternis eingetreten sein. Phlegon († um 137) soll in seinen Olympiades für das 4. Jahr der 202. Olympiade (nach heutiger Zeitrechnung 32/33) davon gesprochen haben. Astronomischen Berechnungen zufolge war am 24. 11. 29, also im 1. Jahr der 202. Olympiade eine Sonnenfinsternis zu sehen, nicht aber im 4. Jahr. Siehe dazu bei Wikipedia: Finsternis bei der Kreuzigung Jesu Finsternis bei der Kreuzigung Jesu – Wikipedia, Voltaire schrieb im Artikel Geschichte des Christentums des Philosophischen Taschenwörterbuchs über die vielfachen Fälschungen rund um das Thema der Göttlichkeit Jesu. ↩︎
  86. Réflexions Sur Les Divers Génies Du Peuple Romain, Paris: Renouard, 1795 . Möglicherweise existierten frühere Ausgaben oder Abschriften zu Lebzeiten Voltaires. ↩︎
  87. De Fontenelle, Bernard le Bovier (1657-1757), französischer Philosoph der Frühaufklärung und Anhänger Descartes. Sein bekanntestes Werk ist: Entretiens sur la pluralité des mondes, Paris: Blageart, 1686, 359 p. [dt.: Dialogen über die Mehrheit der Welten, Berlin: Himburg, 1780, 355 S.) in dem er die astronomischen Lehren von Kopernikus, Galilei, Kepler und Descartes vorstellt, die allesamt der christlichen Annahme von der Erde als Mittelpunkt der Welt widersprechen. Es kam sofort auf die Liste der verbotenen Bücher. Trotzdem wurde Fontenelle 1691 in die Académie française und 1749 in die Preußische Akademie der Wissenschaften aufgenommen. ↩︎
  88. 1683 erschienen von Antonius van Dale, einem holländischen Arzt, zwei Werke über die Orakel. Fontenelle überarbeitete den umständlichen Text, so dass daraus eine lesbare und klar verständliche Anklage gegen den christlichen Wunderglauben wurde (Histoire des oracles, 1687). Gottsched wiederum übersetzte das Werk ins Deutsche: Bernhards von Fontenelle Historie Der Heydnischen Orackel, Leipzig: Breitkopf, 1730, 308 S. ↩︎
  89. D’Argenson, René Louis (1694 – 1757), Politiker und Schriftsteller. D’Argenson war Voltaires Klassenkamerad am Jesuitenkolleg Louis Le Grand. Er wurde später Mitglied im Staatsrat (garde des sceaux) und war der Aufklärung eng verbunden. ↩︎
  90. Trublet, Nicolas-Charles-Joseph (1697–1770), Schriftsteller. Er verfasste die Mémoires pour servir à l’histoire de la vie et des ouvrages de M. de Fontenelle, Amsterdam 1759, 1761. ↩︎
  91. Castel de Saint-Pierre, Charles Irénée (1658- 1743), Philosoph der Aufklärung, insbesondere seine Gedanken über die notwendige Etablierung staatlicher Verfassungen, die ein friedliches Zusammenleben der Völker ermöglichen, waren wegweisend. Sein Hauptwerk ist: Projet pour rendre la paix perpétuelle en Europe (1712) [dt.: Der Traktat vom ewigen Frieden (1713)].  
    Mit der Mohammed-Allegorie meint Voltaire Saint-Pierres Werk Discours contre le Mahométisme (1733), das sich unschwer als gegen das Christentum gerichtet erkennen lässt.
    Saint-Pierre war der Begründer des „club de l’entresol“, über dessen Bedeutung zur Verteidigung der Aufklärung ein eigener Artikel geschrieben werden müsste (siehe dazu: Nick Childs, A Political Academy in Paris, 1724-1731. The Entresol and its members, Oxford, Voltaire Foundation, SVEC, 2000). ↩︎
  92. Bayle, Pierre (1647-1706), als Protestant im katholischen Frankreich geboren, war er der bedeutendste Repräsentant der Frühaufklärung. Er gilt als Vertreter des Skeptizismus, wobei man bedenken sollte, dass Skeptiker zu sein in einer Zeit dogmatischer Denkkontrolle ziemlich das Gegenteil von dem ist, was man heute unter Skeptizismus versteht, das Zweifeln an der Möglichkeit, wahre und gültige Aussagen zu treffen. Noch ganz um konfessionellen Ausgleich bemüht, wurde Pierre Bayle und seine Familie dennoch Opfer der katholischen Verfolger, er musste Frankreich verlassen und lebte ab 1681 im Rotterdamer Exil. Nachdem sein Bruder Jacob im Gefängnis gestorben war – man hatte ihn stellvertretend für Pierre Bayle dort eingesperrt – schrieb er gegen die religiöse Intoleranz und verteidigte auch Atheisten, die nicht automatisch Menschen ohne Moral zu sein bräuchten. Voltaire betrachtete ihn als großes Vorbild, Bayles bedeutendes Historisch kritisches Wörterbuch (1697) stand Pate für Voltaires Dictionnaire Philosophique Portatif (1764). ↩︎
  93. Pensées diverses: écrites à un docteur de Sorbonne, à l’occasion de la comète qui parut au mois de décembre 1680, Rotterdam : Leers 1683, von Gottsched ins Deutsche übertragen : Verschiedene Gedanken über einen Kometen (1741)
    In dieser ersten, anonym erschienenen Veröffentlichung setzt Bayle das wissenschaftliche  gegen das magisch-religiöse Denken, das Zusammenhänge konstruiert, wo keine sind. Die Untersuchung der natürlichen Ursachen der Kometenerscheinung führt ihn zur Forderung religiöser Toleranz, auch als Voraussetzung wissenschaftlicher Arbeit. ↩︎
  94. Reponse aux questions d’un provincial (1704) ist eine erkenntnistheoretische Reflexion über Kriterien für die Wahrheit einer Aussage.
    Mit dem Dictionnaire raisonné meint Voltaire sicherlich das Dictionaire historique et critique, Rotterdam : Leers, 1697. II ed. 1702. [4 vol.], [dt. hrsg. von Gottsched: Historisches und kritisches Wörterbuch, 1.Teil A-B, 2.Teil C-J , 3.Teil K-P , 4. Teil Q-Z Eine Vorstellung von der Bedeutung dieses Werks vermittelt das Abstract zu einer Auswahlausgabe des Dictionnaire im Meinerverlag (2003) ↩︎
  95. Der Frieden von Utrecht (1713) beendete den Spanischen Erbfolgekrieg, der den europäischen Kontinent seit 1701 erschüttert hatte. In diesem Vertragswerk manifestiert sich ein Kräftegleichgewicht auf dem Kontinent, das für die Interessen der kommenden Weltmacht England äußerst günstig war. ↩︎
  96. Zeus teilte sich mit seinen beiden Geschwistern Poseidon und Hades die Welt: Zeus erhielt den Himmel, Poseidon die Meere und Hades die Unterwelt. Daher ist Zeus (bei Voltaire: Jupiter) der Wolkenschieber. Etwa hier im V.Gesang der Odysee: „Ha! wie fürchterlich Zeus den ganzen Himmel in Wolken hüllt…“ ↩︎
  97. Boulanger, Meslier, Fréret und La Mettrie stellt Voltaire weiter unten in eigenen Abschnitten selbst vor.
    Benoît de Maillet (1656-1738), sein Hauptwerk ist Telliamed (1720) , in dem er eine alternative Erklärung zur christlichen Sintflut- und Schöpfungslehre vorlegt und erste tastende Gedanken einer Evolutionstheorie entwickelt.
    Henri de Boulainvillier (1658-1722), war für Voltaire wegen einiger dem Deismus verbundenen Werke zur Religion (so eine Biographie Mohammeds) wichtig. Von Voltaire erschien zeitgleich mit den Lettres sur Rabelais  Le Dîner du comte de Boulainvilliers (1767), ein fiktives Gespräch zwischen Boulainviller, Fréret und dem Jansenisten Bernard Couet, in dem er ihn als Anhänger Spionzas vorstellt.
    Porphyrios (233-301), Schüler von Plotin, verfasste eine erstaunliche Kritik an den Christen und an deren Bibelglauben (Contra Christianos, Gegen die Christen).
    Celsus (2.Jhdt.), sein Werk Ἀληθὴς λόγος (Wahre Lehre), ist das erste bekannte Werk, das sich explizit gegen das Christentum richtet. Celsius sieht in im Christentum eine ernste Bedrohung für das römische Reich. Eine Sicht, die in Rudolf Bergmeiers Schatten über Europa. Der Untergang der antiken Kultur (2011) als Erklärung für den Untergang Roms fruchtbar gemacht wird.
    Flavius Claudius Julianus (331-363), römischer Kaiser, der als letzter Kaiser die römische Religion gegen das Christentum wieder aufrichten wollte. Er schrieb Gegen die Galiläer, das nur noch aus Zitaten seiner Gegner rekonstruiert werden kann. Voltaire gab 1768 den Discours de l’Empereur Julien contre les chrétiens (siehe Anmerkung 56) heraus. ↩︎
  98. Huber, Marie (1695-1753), frz. Philosophin. Ihr wichtigstes Werk ist Lettres sur la religion essentielle à l’homme, distinguée de ce qui n’en est que l’accessoire, Londres, 1756 (4 Bd). ↩︎
  99. Abbé Huber, Jean Jacques (1699-1744), Schriftsteller, war Befürworter religiöser Toleranz. Von Quentin de la Tour ist von ihm ein berühmtes Porträtbild, Montaigne lesend, erhalten. Den heute vergessenen Lebenslauf von Jean Jacques Huber rekonstruierte 1957 Paul Brazier (Teil1 1957) (Teil2 1959). ↩︎
  100. Karl I. von Braunschweig-Wolfenbüttel (1713-1780), Herzog, war der Aufklärung verbunden. ↩︎
  101. Nach jüdischer Überlieferung offerierte Gott sein Vertragsangebot zur Zeit Noahs (10. Generation nach Adam)  allen Menschen, doch nur das jüdische Volk schlug ein und wurde dadurch zum erwählten. ↩︎
  102. François Des Roches, Defense du Christianisme, ou Preservatif contre un Ouvrage intitulé Lettres Sur La Religion Essentielle à l’Homme, Genève et Lausanne: Bousquet, 1740, 367 p. Pfarrer Des Roches (1701-1769) war es auch, der Voltaire 1755 denunzierte, weil er Theaterstücke aufführte, was im Genf Calvins verboten war (Desnoiresterres, Voltaire aux Délices, p. 122. ↩︎
  103. Barbeyrac, Jean (1674-1744), Rechtshistoriker, Vertreter des Naturrechts. ↩︎
  104. Pufendorf, Samuel von (1632-1694), einflussreicher Rechtshistoriker und Naturrechtler, der in seiner Pflichtenlehre das Recht durch die Vernunft begründen wollte. Barbeyrac kommentierte und übersetzte von ihm (ins Französische)   sein De iure naturae et gentium octo (1672), dt.: Acht Bücher vom Natur- und Völcker-Rechte (1711) zu dem er das von Voltaire erwähnte Vorwort schrieb, das ihn berühmt machte, sowie Pufendorfs  De officio homminis et civis (1673), dt. : Über die Pflicht des Menschen und des Bürgers nach dem Gesetz der Natur (1994). ↩︎
  105. Josia, 2,18, Rahab, eine Prostituierte in Jericho, versteckte zwei „Männer von Israel“ und wurd durch das rote Tuch/Seil, das sie als Erkennungszeichen in ihr Fenser hängte, vom Untergang ausgenommen.   ↩︎
  106. Mose, der die Arme ausbreitet: 2. Mose,17,9-13. ↩︎
  107. Die Küsse der Sulamith, aus dem Hohenlied Salomons: Küß mich mit Küssen von Deinem Mund, denn Deine Küsse sind süßer als Wein… ↩︎
  108. Ein Vorwurf, den bereits Pierre Bayle gegen Augustinus erhob (s. seinen Artikel Augustin, Anmerkung H). ↩︎
  109. Kirchenvater Hieronymus (350-420) geriet in heftigen Streit mit Rufius von Aquileia (345-411) und Vigilantius (um 400) um die richtige christliche Lehre;  z.B. ging es um die Reliquienverehrung, die Vigilantius als Götzendienst verdammte. ↩︎
  110. Tertullian (150-220) war einer der ersten Kirchenschriftsteller. Der ganze sich später voll entfaltende Fanatismus dieser Religion war bei ihm schon angelegt. ↩︎
  111. Fréret, Nicolas (1688-1749) war ein renommierter französischer Althistoriker. ↩︎
  112. In dem 1766 unter Frérets Namen erschienenen Examen critique des apologistes de la réligion chrétienne wird die christliche Lehre einer scharfen Kritik unterzogen. Jedoch stammt das Werk nicht von Fréret, sondern von Jean Levesque de Burigny (1692-1785), was Voltaire wahrscheinlich bekannt war. Er stand mit Burigny in Briefkontakt (9 Briefe haben sich erhalten). Vielleicht hat Voltaire das Examen critique, aus dessen Inhalt er in diesem Abschnitt referiert, als Vorsichtsmaßnahme dem bereits verstorbenen Fréret zugeschrieben. ↩︎
  113. Irenäus war ein christlicher Theologe (Kirchenvater) des 2. Jahrhunderts. Das Targum ist eine antike Übersetzung von hebräischen oder altgriechischen Bibel-Handschriften in das Aramäische. Yohannan Hirkanos war ein jüdischer maccabäischer Hohepriester (2. Jhdt v.u.Z), sein dritter Sohn war Alexander Jannäus (126-76), ab 103 bis zu seinem Tod judäischer König. ↩︎
  114. Voltaire trägt die Argumentation aus dem Examen critique (S.9-13) vor. ↩︎
  115. Der christliche Kirchenvater Justin lebte von 100-165, die Autoren vor seiner Zeit zitieren die uns bekannten Evangelien nie. ↩︎
  116. Wenn die Evangelisten erst so spät geschrieben haben, sind die Widersprüche zwischen ihnen verständlich, sie beruhen auf unterschiedlichen mündlichen Überlieferungen, ihre Erzählungen werden dadurch aber unglaubwürdiger. ↩︎
  117. Dieser mohammedanische Einwand findet sich im Examen critique nicht, er stammt von Voltaire und erinnert an einen wichtigen Vorteil des Islam gegenüber dem Christentum: Dass Mohammed gelebt hat, ist sicher. ↩︎
  118. Zu Abbadie s. Anm 40. Voltaire referiert hier die Seiten 21 – 14 des Examen critique ↩︎
  119. Referiert das Kapitel 10 des Examen critique: Sind die Menschen nach dem Erscheinen von Jesus Christus vollkommener?   ↩︎
  120. Voltaire widmet das Kapitel 131 seines Essay sur les moeurs den Wiedertäufern . Seine Haltung zu ihnen ist ambivalent, er kritisiert ihren Fanatismus, mit dem sie für die Gleichheit kämpften. ↩︎
  121. In Kapitel 180 des Essay sur les mœurs berichtet Voltaire, wie es 1649 durch Cromwells Betreiben zur Hinrichtung Charles I. kam. ↩︎
  122. Die Kapitel 135 und 136 des Essay sur les moeurs handeln von der Auseinandersetzung Heinrichs VIII von England mit Papst Clemens VII., ohne dabei Partei für den König („ein Tyrann“) zu ergreifen und zeigt, wie sich durch den Riss in der religiösen Ideologie der Deismus und auch der Atheismus („welcher das Gegenteil des Deismus ist“) Gehör verschaffen konnte. ↩︎
  123. Anspielung auf das Wandlungsritual der kath. Kirche („qui pro vobis et pro multis“), nach dem Jesus Blut für die Teilnehmer am Ritual und für alle anderen vergossen worden sei. Erst ab Mitte des 20. Jahrhundert wird das pro multis – ganz nach Voltaires Vorschlag – einschränkend mit „für viele“ übersetzt. ↩︎
  124. Boulanger, Nicolas Antoine (1722-1759), Historiker und Ingenieur. Er befasste sich mit dem für die wirtschaftliche und militärische Entwicklung wichtigen Straßenbau in Frankreich, war federführend beim Ausbau des Straßennetzes beteiligt. Andererseits verfasste er die  interessante Abhandlung zur Frage, wie es zur Entstehung von äußerst inhumanen Religionen kommt (Recherches sur l’origine du despotisme oriental, 1761), Der Grundgedanke ist, dass alle religiösen Vorstellungen ursprünglich auf Naturkatastrophen zurückzuführen sind, deren Schrecken und Tradition sich von Generation zu Generation weiterverbreitete. Boulangers Werke erschienen fast alle posthum. So war es für d’Holbach ein Leichtes, die Autorschaft an dem von ihm verfassten Le christianisme dévoilé (1761) Boulanger unterzuschieben. ↩︎
  125. Das Christianisme dévoilé erschien wahrscheinlich 1761 unter dem Titel Le christianisme dévoilé, ou examen des principes et des effets de la religion chrétienne : par feu M. Boulanger, Londres, MDCCLVI. Es hat erhebliches Aufsehen erregt. Voltaire rezipierte es ausführlich, in seiner Bibliothek befinden sich 4 Ausgaben des Werkes. In neuerer Zeit versucht man ihm durch Vergessen (die bisher einzige, nicht wieder aufgelegte deutsche Übersetzung stammt aus der DDR: Das entschleierte Christentum, oder Prüfung der Prinzipien und Wirkungen der christlichen Religion.., übers. Fritz-Georg Voigt, Berlin: Aufbau, 1970), oder durch das bestens erprobte Mittel der Langeweile (etwa W. Kellerwessel 2009) beizukommen . Das Werk wird ausführlich in einem eigenen deutschen Wikipediaartikel vorgestellt. ↩︎
  126.  Montesquieu, Charles Louis de Secondat ( 1689-1755), Staatstheoretiker und philosophischer Schriftsteller, Altersgenosse Voltaires. Montesquieu stammte aus dem im Absolutismus so wichtigen Amtsadel (noblesse de robe). Er gilt als Erfinder der staatlichen Gewaltenteilung, obwohl er diese „Erfindung“ von John Locke übernommen hatte. ↩︎
  127. Die Lettres Persanes (1721) [dt. : Montesquieu‘s Persische Briefe, Mit Einl. u. Komm. v. Eduard Bertz, Leipzig: Reclam 1884] waren eine sehr erfolgreiche Publikation und begründeten den Ruhm Montesquieus als Schriftsteller der Aufklärung. Aus der Perspektive zweier persischer Reisender werden die rückständigen Gesellschaftsverhältnisse in Frankreich kritisiert. Montesquieu verkehrte im „club de l’entresol“ (siehe oben, Anm. 91) und war ab 1728 Mitglied der Académie française. Siehe zu den Persischen Briefen auch den entspr. Wikipediaartikel ↩︎
  128. De l’esprit des lois (1748) ist Montesquieus Hauptwerk. Der Titel lautet ausführlich: De l’esprit des lois ou du rapport que les Loix doivent avoir avec la Constitution de chaque Gouvernement, les Moeurs, le Climat, la Religion, le Commerce &c., à quoi l’Auteur a ajouté des recherches nouvelles sur les Loix Romaines touchant les Successions, sur les Loix Françoises et sur les Loix Féodales, Genève :Barrilot, 1748 [dt.: „Vom Geist der Gesetze oder von der Beziehung, welche die Gesetze zur Verfassung einer jeden Regierung, zu den Sitten, zum Klima, der Religion, dem Handel usw. aufweisen müssen, wozu der Autor neue Untersuchungen über die römischen Erbfolgegesetze, die französischen Gesetze und die Lehensgesetze hinzugefügt hat] 1854 übers. von Adolf Elissen (mit den Kommentaren von d’Alembert, Hélvetius). S. auch die digital verfügbare dt. Erstausgabe von 1753.
    Voltaires letztes veröffentlichtes Werk war sein Commentaire sur l‘Ésprit des Lois (1777) [dt.: Kommentar über Montesquieus Werk von den Gesetzen, übers. v. C.L.Paalzow, Berlin: Pauli 1780], in dem er zu Montesquieu deutlich auf Distanz geht. Siehe z.B. seine Auseinandersetzung mit Montesquieus Haltung zum Thema Krieg (Kommentar zum Artikel Krieg des Phil.Wörterbuchs v. 1764). ↩︎
  129. Voltaire publizierte 1771 eine Liste mit den von ihm enteckten Fehlern (Artikel Ésprit des lois) in seinen Questions sur l’Encyclopédie, huitième partie. ↩︎
  130. In den Persischen Briefen findet man nicht unbedingt ein deistisches Konzept. Zur Religion von Montesquieu s. P.Kra: La Réligion dans les pensées de Montesquieu, revue Montesquieu No.7  (2005) ↩︎
  131. Montesquieus l‘Ésprit des lois wurde von katholisch-jansenistischer Seite massiv angegriffen, er gab daraufhin eine Verteidigungsschrift, die Défense de l’ésprit des lois heraus. 1751 wurde das Buch vom Vatikan auf den Index der verbotenen Bücher gesetzt. Voltaire verteidigte das Werk in seinen Remerciement sincère à un homme charitable (1750), obwohl er viele Fehler entdeckt hatte und nicht immer mit Montesquieu übereinstimmte. Später, in den Idées républicaines (1762), in dem Dialog A. B. C. (1768), schließlich in den Questions sur l’Encyclopédie (1771), dort in den Artikeln Esclaves et Lois, Esprit des lois ging er zu Montesquieu stärker auf Distanz, erklärte jedoch, dass wir ihm für seine Haltung gegen den Fanatismus und gegen die Befürworter der Sklaverei ewigen Dank schulden. (Bibliogr. Vorwort z. Voltaires Commentaire v. Beuchot) ↩︎
  132. La Mettrie, Julien Offray de, (1709-1752), Arzt und Philosoph,verfasste philosophisch-naturwissenschaftliche Werke auf materialistischer Basis („Alles, was existiert, hat einen materiellen – und eben keinen göttlichen – Ursprung“). Friedrich Albert Lange, der ihm in seiner Geschichte des Materialismus (1866) ein eigenes Kapitel widmet (S. 344-376), kommt zu dem Schluss, dass man „in fast allen Fällen, wo wir eine auffallende Ähnlichkeit der Gedanken bei La Mettrie und einem berühmten Zeitgenossen finden, der erstere die unbestrittene Priorität für sich hatte“(S.345). So etwa die Gedanken der prinzipiellen Einheit in der Mannigfaltigkeit der Organismen, der Einheit von Körper und Seele, der analogen physischen Konstruktion von Mensch und Tier und die Ablehnung einer absoluten Moral zugunsten einer Tugendlehre der Selbstliebe und der sinnlichen Lust.  ↩︎
  133. La Mettrie begab sich 1733 nach Leiden, um von dem berühmten Mediziner und Naturwissenschaftler Boerhaave zu lernen. Er übersetzte dessen wichtigsten Schriften erstmals ins Französische, was ihn mit den Pariser Ärzten und deren dogmatischen Kirchenfreunden (Geschlechtskrankheiten als Strafe Gottes…) in Konflikt brachte. Das bekannteste Werk Boerhaavens, seine Institutiones rei medicae [frz.: Institutions De Médecine De Mr. Herman Boerhaave] erschien in der Übersetzung La Mettries 1743 in Paris. ↩︎
  134. La Mettrie veröffentlichte 1745 seine Histoire naturelle de l’Âme [dt.: Naturgeschichte der Seele]. Er beschreibt die Natur als ein sich selbst regulierendes Uhrwerk, das – anders als es etwa Voltaire behauptet – keinen Uhrmachergott benötigt. Dementsprechend kann die Seele auch nicht ohne den Körper überleben und ist nicht unsterblich. La Mettrie musste, nachdem dieses Werk von der Zensur verboten und verbrannt worden war, Frankreich verlassen und floh ins holländische Exil. ↩︎
  135. L’Homme Machine (1748) [Der Mensch eine Maschine (1875)] ist La Mettries Abrechnung mit der Religion, die stets den Menschen als Ebenbild Gottes mystifiziert, während er doch nach denselben körperlichen Mechanismen wie die Tiere funktioniert. Er veröffentlichte die Abhandlung bereits 1747 in Holland. Bernd A. Laska, der sich große Verdienste um die deutsche Veröffentlichung von La Mettries Werk erworben hat, schildert, was danach kam:
    „Holland war zu jener Zeit schon traditionell ein Hort liberaler Praxis. Ein Jahrhundert zuvor hatte Descartes dort fast sein halbes Leben im Exil verbracht, ebenso wie Bayle fünfzig Jahre nach ihm. Jetzt wurden in Holland, da eine Vorzensur nicht stattfand und die Nachzensur relativ grosszügig gehandhabt wurde, verbotene Bücher für ganz Europa gedruckt. La Mettrie, der wieder in Leiden lebte, setzte zunächst seine Polemik gegen ärztliche Scharlatanerie fort: »La faculté vengée« (1747), eine Komödie in drei Akten, nimmt die damalige Pariser medizinische Fakultät aufs Korn. Als nächstes schrieb er in kurzer Zeit und ohne besondere Sorgfalt jenes schmale Buch, das ihn berühmt machen sollte: »L’homme machine«, auf das Jahr 1748 datiert, erschien bereits Ende 1747. Diese relativ kleine Schrift philosophisch-wissenschaftlichen Inhalts ging den sonst so toleranten Holländern jedoch zu weit. Auch in diesem Fall war die anonyme Veröffentlichung nur ein kurzfristiger Schutz, und Élie Luzac, La Mettries Verleger, der seinen Autor Anfang Februar 1748 über die grüne Grenze aus Holland schleuste, schrieb, nur noch auf diese Weise habe er ihn davor bewahren können, ‚wie ein gewöhnlicher Verbrecher auf dem Schaffott zu enden'“. (www.lsr-projekt.de) ↩︎
  136. Friedrich II., der La Mettrie in Preußen vor klerikaler Verfolgung schützte und ihn zum Mitglied seiner Akademie der Wissenschaften machte,  verfasste einen Nachruf in französischer Sprache auf den am 11.11.1751 in Potsdam verstorbenen La Mettrie. ↩︎

Aufstieg und Untergang der Vernunft: Hoevels, Fritz Erik, Wie unrecht hatte Marx wirklich? Bd. II, Lüge und Gewalt, Freiburg: Ahriman, 2023, 806 S., Rezension von Rainer Neuhaus

Wenn wir mit dieser Buchempfehlung eine Ausnahme von unserem Prinzip machen, nur Werke zu besprechen, die sich direkt auf Voltaire und die Aufklärung beziehen, so liegt dies an der besonderen Bedeutung dieses Buches für alle, die der Aufklärung nahe stehen.
Hoevels verlässt mit diesem zweiten seines auf drei Bände konzipierten Hauptwerkes die engere ökonomische Marxismustheorie und weitet den Horizont hin zu einer welthistorischen Analyse der Ideologieproduktion, in marxistischer Diktion also des gesellschaftlichen Überbaus.

Vergleicht man das Werk mit dem Essay sur les Moeurs et l‘Esprit des Nations von Voltaire, in dem er dem Einfluss von Religion und Kirche auf unsere Kultur nachgeht, verfolgt Hoevels ein ähnliches Ziel, insbesondere aber das eine, Übersicht zu gewinnen und zu vermitteln über die Funktionsgrundlagen der europäischen Kultur. Und wie schon Voltaire, bezieht er die außereuropäische Kulturgeschichte ein, setzt sie in Bezug zu unserer europäischen, um diese besser verstehen zu können. Denn es ist der Vergleich, der allem wissenschaftlichen Denken den Weg weist.

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Rezension: Voltaire, Der unwissende Philosoph, aus dem Französischen von Ulrich Bossier, Nachwort von Tobias Roth, Ditzingen: Philipp Reclam Jun. (RUB 14169), 2022, 108 S.

Die unterdessen fünfte Übersetzung des Philosophe Ignorant ist eine sprachliche Aktualisierung dieser philosophischen Standortbestimmung Voltaires aus dem Jahre 1766. Wie jede Neuübersetzung krankt sie teilweise am Zwang, eine Verbesserung liefern zu müssen, ohne wirklich eine solche zu sein und ist allerdings teilweise wirklich besser als die zuletzt erschienenen.
Die Anmerkungen gehen kaum über die bereits bekannten aus den französischen Gesamtausgaben von Moland und der Voltaire Foundation hinaus, insgesamt ist die Übersetzung und sind die Anmerkungen solide.

Anders das Nachwort von Tobias Roth.  Schon der erste Satz („Jemand wie Voltaire kann uns nicht weismachen, er wisse nichts“) zeigt, dass er nicht versteht, worum es Voltaire in diesem Werk ging und gehen musste. Er fokussiert auf die Skepsis, die Voltaire ganz offensichtlich als Grundhaltung in dieser Abhandlung ins Werk setzt, lässt aber die existentielle Bedrohung, die für Voltaire aus den Terrorurteilen Sirven/de La Barre in den Jahren 1765 1766 entstand, völlig außer Acht, obwohl sie im Hintergrund der Argumentation nur allzu offensichtlich die Regie bestimmt1.

Voltaires „Wir müssen wieder bei Null anfangen“ ist nichts anderes, als eine Selbstvergewisserung angesichts dieser großen Verunsicherung in den aufgeklärten Kreisen der Jahre 1765/1766.
Wir haben dies ausführlicher in unserer Inhaltsangabe zum Unwissenden Philosophen dargestellt und wollen den Punkt deshalb hier nicht weiter ausführen.

Seltsam auch, wie Roth Voltaire zu einem Ethiker macht, dem es im Unwissenden Philosophen um eine Art Theorie der Nützlichkeit und der Gerechtigkeit ginge. In der Tat beschäftigt sich Voltaire ab Kapitel XXX mit der Moral, jedoch tut er dies in vor allem praktischer Absicht, um nämlich aus einer moralisch unanfechtbaren Position seine Gegner um so besser angreifen zu können und um wiederum seinen Anhängern zu zeigen, dass es nicht anders geht: Man muss den Kampf der Aufklärung bis zum Ende weiterführen!

Schon einmal war uns Tobias Roth negativ aufgefallen, als er sich an der Vernebelung der Tragödie Mahomet oder der Fanatismus beteiligte. Indem er in seinem Nachwort die inquisitorischen Aktivitäten im Hintergrund des Unwissenden Philosophen verschweigt, hat Tobias Roth ein zweites Beispiel dafür geliefert, dass er unter dem Einfluss antiaufklärerischer Vernebeler steht.
Man sollte ihn kein weiteres Nachwort zu einem Werk Voltaires schreiben lassen, es sei denn, das Vernebeln würde bezweckt.

  1. Nähere Angaben zur irritierten Aufnahme des Unwissenen Philosophen im Umfeld Voltaires (z.B. v. Grimm): René Pomeau, Voltaire en son temps II, p. 199 – 203 ↩︎

Voltaire-Übersetzer: Christlob Mylius

Christlob Mylius, (* 11.11.1722 in Reichenbach an der Pulsniz – † 6.3.1754 in London). Sein Vater war der Pfarrer Caspar Mylius, seine Mutter dessen zweite Ehefrau Marie Elisabeth geb. Ehrenhaus. Er hatte vier ältere Brüder, die alle den Christus im Namen tragen: Christlieb, Christfried, Christhelf und Christhilf.

Von ihm stammt die bisher einzige Übersetzung von Voltaires Streitschrift, der Diatribe du Docteur Akakia, 1752/3.

Nach seinem Studium in Leipzig entwickelte er sich, vielseitig interessiert und begabt, zu einem der ersten Wissenschaftsjournalisten Deutschlands. Er gab mehrere Periodika heraus, unter anderem die Zeitschrift „Der Wahrsager“, die 1749 von der preußischen Zensur nach der 20. Ausgabe (im Mai) verboten wurde (so viel zu Friedrichs Haltung zur Pressefreiheit, die er Mai 1749 dann auch entschieden einschränkte). Dazu heißt es bei Ernst Cosentius, dem bis heute besten Bericht zu Mylius Leben:

Gewissermaßen als Feuilleton zur Zeitung gab M. seit dem 2. Januar 1749 unter dem Titel: „Der Wahrsager“ wiederum eine satirisch-moralische Wochenschrift heraus, die lediglich als eine Erwerbsquelle von M. zu nennen wäre, hätten sich die Schullehrer Berlins nicht über das 7. Stück des „Wahrsagers“, in dem sie sich gezeichnet glaubten, beschwert. Dies Stück darf man eine ironische Empfehlung der La Mettrie’schen Philosophie nennen. Es gab, wie das 9. Stück, das ein satirisches Lob der Hahnreihe brachte, den Ministern Friedrich’s des Großen Anlaß, beim Könige ein neues Censur-Edict zu beantragen und den Verfasser und Verleger des „Wahrsagers“ zu verwarnen. Daß die Leser satirischer Blätter stets nach lebenden Modellen suchten, war ein alter Uebelstand. Nach Mylius’ Ankündigung zum „Wahrsager“ hatten sie vielleicht auch ein Recht dazu. Jetzt, wo M. gewarnt war, lenkte er sein Blatt in die ruhige Bahn einer wohlgesitteten Wochenschrift und wurde nicht müde zu versichern, daß er Niemanden im Bösen meine; aber Friedrich der Große verbot trotzdem den „Wahrsager“ und erließ am 11. Mai 1749 das von den Ministern vorgeschlagene Censur-Edict. Das letzte (20.) Stück des „Wahrsager“ datirt vom 15. Mai 1749.

„Voltaire-Übersetzer: Christlob Mylius“ weiterlesen

„Die freundliche Ideologie“, Stefan Ripplinger, Junge Welt, 29.7.2023

In der Wochendausgabe der Jungen Welt vom 29.7.23, die unter dem grotesken, aber ernstgemeinten Titel „Kapitalismus killt Klima“ aufmachte, erschien auch der oben genannte Artikel eines gewissen Stefan Ripplinger, ein Vielschreiber, der auch die obskure Jungle World mit „auf den Weg“ brachte. In seinem neuesten Elaborat verspricht er, drei Publikationen vorzustellen, die den modernen „Wokismus“ kritisieren. Wir werden es hier unterlassen, seine äußerst fragwürdige Kritik einer Analyse zu unterziehen, das lohnte den Aufwand nicht und jeder Leser kann sich ja selbst ein Bild davon machen. Stattdessen konzentrieren wir uns auf die in dem Artikel enthaltene Abwertung der Aufklärung, die er, wie auch den Wokismus, als „freundliche Ideologie“ tituliert und insbesondere auf seine Schmähung Voltaires, ihres wichtigsten und bekanntesten Vertreters.

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Philosophisches Taschenwörterbuch:
Catéchisme Chinois – Chinesischer Katechismus (Kommentare)

Im Chinesischen Katechismus gibt Voltaire einen Einblick in aktuelle Positionsbestimmungen der Aufklärung zum Christentum.
Zu der aus dem Humanismus stammenden zentralen Aussage, dass die Menschen bei ihrer Verbindung zu Gott keine vermittelnde Institution benötigen, kommt im 18. Jahrhundert die klare Ablehnung der Gottesidee selbst hinzu, wie sie de Meslier, de La Mettrie, Diderot, d’Holbach und d’Alembert, formulierten, außerdem die Suche nach einer humanen, nichtchristlichen Ethik. Diese Positionsbestimmung wird auf verschiedenen Ebenen vorgenommen:

1. Auf der Ebene der christlichen Religion selbst: Welche Argumente gibt es für die Existenz ihres Gottes (Alleine, dass man an diese Frage verstandesmäßig herangeht, war für die Kirche ein erster Schritt zum Scheiterhaufen) und welche Argumente halten einer rationalen Überprüfung stand?
2. Auf der Ebene des Subjekts: Wie kann man sich den Kontakt des einzelnen Menschen zu Gott im Christentum vorstellen?
3. Welche Bedeutung kommt der christlichen Religion in Bezug auf die Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens zu?
4. Mit welchem Recht behauptet die christliche Kirche, Vertreterin der einzig wahren Religion und Gottesidee zu sein? Da es mehrere Religionen und mehrere Religionsgemeinschaften/Kirchen gibt: Wie kann ihr Zusammenleben, wenn doch jede ihren Gott für den einzigen hält, organisiert werden?
Zumindest für die Ebenen 3 und 4 war China bedeutend, weil dort selbst nach den Berichten der Jesuiten (siehe unseren Kommentar zum Artikel Über China) ein Staat existierte, der seit Jahrhunderten völlig ohne Religion und Kirche, insbesondere ohne das Christentum auskam und nach seinen eigenen konfuzianischen nicht-religiösen Grundsätzen funktionierte. Deshalb kleidet Voltaire diese für die Aufklärung entscheidende Diskussion in ein chinesisches Gewand. Die Entdeckung Chinas und der dortigen Lebensweise war ebenso überwältigend, wie wenn man heute einen fremden Planeten entdeckte, auf dem die Menschen völlig friedlich, bei gemeinschaftlicher Herstellung und Verteilung des Reichtums, genüsslich lebten – und das alles mit 20 Stunden Arbeit pro Woche….


Hintergrund:
A
.
Die alltägliche Verfolgung von Religionskritikern steht im Hintergrund des Chinesischen Katechismus, die Voltaires Vorsicht, sein Zurückweichen zum Schluss eines jeden der ersten drei Gespräche dieses Dialogs, verständlich machen. Zwei Beispiele für die existentielle Bedrohung von Philosophen der Aufklärung seien hier exemplarisch aufgeführt, auch das Leben de La Mettries gehört hierher, der sich vor den christlichen Häschern an den Hof Friedrich II. nach Berlin retten konnte, um dort als dessen Vorleser und Spassmacher zu fungieren:  

Die Verfolgung von Christian Wolff, Mathematikprofessor und Prorektor der Universität Halle
Wolff wurde nach seinem Vortrag mit dem Titel: Rede über die praktische Philosophie der Chinesen (12. Juni 1721) von der Universität und aus Preußen überhaupt verbannt. In seinem Artikel De La Chine berichtet Voltaire von dem empörenden Vorgang und zeigt Wolff als Märtyrer der Aufklärung, Opfer des verfolgerischen Christentums. Seinen Chinesischen Katechismus, insbesondere den zweiten Teil, kann man als Ergänzung zu Wolffs Rede lesen. Voltaire war mit Christian Wolff durch seine Lebensgefährtin Emilie du Châtelet, eine Wolffianerin, intensiv befasst und er besuchte ihn sogar in Halle. Er teilte nicht dessen Ansicht von unserer Welt als der besten aller möglichen und auch nicht Wolffs Hoffnung, Gott und die Religion verstandesmäßig, mit mathematischer Genauigkeit begründen zu können.
Dies sind die Thesen von Christian Wolff die er in seiner Rede vertritt, in der er seine starke Übereinstimmung mit Konfuzius  aufzeigt (Wolff bezieht sich dabei – wie später auch Du Halde in seinen Bericht über Konfuzius  – auf François Noël ):
– wie schon Konfuzius lehrt, ist es dem Einzelnen möglich, zu erkennen, was gut und was böse ist. Dieses Erkenntnisvermögen zu schulen ist eine wichtige, lebenslange Aufgabe
– den Menschen ist (Ethik der Autonomie) das Erkenntnisvermögen „ins Herz geschrieben, sie selbst sehen, was gut ist“, das wirklich tugendhafte Handeln, resultiert aus der Vernunft und nicht aus der Furcht vor einem Herren, nicht als Reaktion auf Belohnung oder Strafe: (Woher die Tugend kommt).
„Wer durch die Vernunft zum Guten angetrieben wird, der wird durch den freien Willen zu guten Handlungen bestimmt und braucht, um beim guten zu bleiben, keinen Herren“ (S.37 V 436 f).
– Zur Vollkommenheit  gelangt man durch nicht durch ständiges Bekämpfen des Bösen/der Laster, sondern durch beständiges Fortschreiten in der Erkenntnis, im Gebrauch der Vernunft. Die Erprobung dieser Grundsätze, könne man, meint Wolff, „nirgendwo sicherer auffinden als bei den alten Chinesen, bei denen es überhaupt keine Religion gab“(S.47, V. 615). Prof Heiner Roetz (Univ. Bonn) schrieb 2021 in einem Aufsatz zum 300 jährigen Jubiläum der Rede Wolffs: „Wolffs China-Rede war eine der seltenen Sternstunden einer zukunftsweisenden kosmopolitischen Philosophie. Seine Liaison mit dem Konfuzianismus hat nicht nur dazu beigetragen, die Ethik von ihrer Bevormundung durch die Theologie zu befreien, sondern auch dazu, sie auf den Pfad der Autonomie zu bringen“.
Lit.: Heiner Roetz, Menschen brauchen keine Religion und keine Gesetze – „Sie sehen selbst, was gut ist“ 08.07.2f021 (Heiner Roetz ist emeritierter Professor für Geschichte und Philosophie Chinas an der Universität Bochum).

Die Inhaftierung von Denis Diderot wegen seinem Brief über die Blinden zum Gebrauch für die Sehenden , 1749
Kurz nach der Veröffentlichung seines Textes wurde Diderot am 24.7.1749 verhaftet und in dem Gefängnis Vincennes inhaftiert, aus dem er erst am 3. November 1749 wieder entlassen wurde. In dem Brief über die Blinden geht es um die Frage, wie es mit der Allmacht Gottes zu vereinbaren sei, dass es Menschen gibt, die von Natur aus blind sind. Ausgehend von John Lockes Versuch über den menschlichen Verstand, nachdem in der Welt unseres Verstandes nichts existiert, was nicht auf einer sinnlichen Wahrnehmung beruht, bezweifelt er, dass man Gründe für die Annahme der Existenz eines allmächtigen Gottes finden könnte. Wenn man die Existenz Gottes, wie es der Deismus tut, aus der bewundernswerte Harmonie der Welt und ihrer unveränderlichen (Natur-) Gesetze ableitet, welche Stellung nehmen dann in dieser Welt die von Natur aus Blinden ein? Ausgehend von dieser Frage kommt er zu einem grundsätzlichen Zweifel an der christlichen Schöpferidee. Wenn es aber keinen allmächtigen Gott gibt, sind auch unsere Ideen über das Böse und das Gute nicht absolut gültig, sondern relativ. Auch sie sind abhängig von unserer körperlich-sinnlichen Wahrnehmung. Diese, in die Worte eines Blinden gekleidete Argumentation war ausreichend, um Diderot ins Gefängniss zu werfen. (siehe dazu:  Pierre Lepape, Denis Diderot, Frankfurt: Campus, 1994,S.8-16, S.88 ff, er folgt: Paul Bonnefon, Diderot prisonnier à Vincennes, in: Revue d’histoire littéraire de la France, Juli-Sept. 1899; einige der Briefe der Buchhändler und Verleger, die sich für die Freilassung Diderot einsetzten, findet man (frz.) in ARTFL, einem US-amerikanischen Projekt zur Digitalisierung bedeutender französischsprachiger Texte) .

B.
Außerdem sollte man sich den religiösen Hintergrund für die sechs Gespräche des Chinesischen Katechismus vor Augen führen:
1. Gespräch: Der Himmel als „Wohnung Gottes“ ist der Ort, wo die Guten landen während die Hölle für die Schlechten ist (Das christliche Glaubensbekenntnis: „ich glaube an Gott, …den Schöpfer des Himmels und der Erde…..“)
2. Gespräch: Gott als Schöpfer der Welt ist dem Christentum zufolge allmächtig („ich glaube an den allmächtigen Gott…“)
3. Gespräch: Die Seele ist der unsterbliche Teil des Menschen und wird nach dem Tod entweder aufsteigen oder muss, besonders wenn sie nicht getauft ist, in der Hölle schmoren. („ich glaube an die Auferstehung der Toten … und an das ewige Leben.“, Jesus wird „richten die Lebenden und die Toten.“)
4. Gespräch: Das Christentum ist der einzig wahre Glauben und seine religiösen Grundsätze stehen über den weltlichen Gesetzen. Keiner anderen Religion soll es erlaubt sein, über der christlichen zu stehen. („ich glaube an die heilige/christliche– katholische Kirche“)
5.  Und 6. Gespräch:  Glaube, Liebe und Hoffnung gelten dem Christentum als die höchsten Tugenden.

Die folgenden Anmerkungen zu einzelnen Textstellen beziehen sich mit ihren Seitenangaben auf die von uns bei Reclam herausgegebene Ausgabe des Philosophischen Taschenwörterbuchs (2020):

Erstes Gespräch

Anmerkung 1 Titelerklärung (S.108):
– Zisi, auch Tse Sse (481 – 402 vuZ) war der Großenkel von Konfuzius.
– Voltaires Dialog fußt auf der Description de la Chine von J.-B. Du Halde, in der er das vierte der klassischen Bücher (Meng Tsée, ou livre de Mencius) vorstellt, das ihm in der Übersetzung von François Noël vorlag. Mengzi (um 370–290 v. Chr.), einer der bedeutendsten Konfuzianer, unterweist dort diverse Adlige in der Kunst des guten Regierens. Diese Dialoge des Mencius waren ganz offensichtlich das Vorbild des Chinesischen Katechismus.
– Jean-François Fouquet, Jesuit, (1655-1741) hielt sich von 1710 bis 1717 in Peking auf. Er ist der Verfasser von Abhandlungen über das Tao, über Konfuzius. Einige seiner Manuskripte befinden sich in der Bibliothek des Vatikans.

Anmerkung 2 (S.108 „Himmel (Shangdi)“):
Der Begriff Shangdi https://en.wikipedia.org/wiki/Shangdi geht auf das zweite chinesische Kaiserreich zurück, die sogenannte Shang Dynastie (18. – 11. Jhdt v.u.Z.) deren Kaiser auf Orakelknochen genannt und offenbar göttlich verehrt wurden. Der Kaiser so glaubte man, empfing sein Herrschermandat vom Himmel und kehrte nach seinem Tod an die Seite des „Shangdi“ zurück. Weil diese Vorstellung der christlichen vom Gottkaisertum und von Gott als dem „Schöpfer des Himmels und der Erde“ fast vollständig entspricht, kann sie hier als „chinesische“ gefahrlos lächerlich gemacht werden.

Anmerkung 3 (S.111 oben „… die Strahlen, die von Ihren Augen bis zum Scheitelwinkel zwei gleiche Winkel bilden“): Gemeint sind die beiden Geraden, die vom Rand eines Gegenstands zum Auge führen, dort im Scheitelpunkt zusammenkommen und sich im gleichen Winkel in das Innere des Auges fortbewegen, wo sie auf die Netzhaut treffen. Die Natur des Lichts wurde im 18. Jahrhundert von Newton erforscht und beschrieben. Voltaire machte die Entdeckungen Newtons bereits 1732 in seinen Philosophischen Briefen bekannt. Später bauten er und seine Lebensgefährtin Emilie du Châtelet die Experimente Newtons in ihrem physikalischen Labor in Cirey nach und überprüften seine Aussagen. Ihre Ergebnisse veröffentlichte Voltaire die Eléments de la philosophie de Newton (1738). Emilie du Châtelet wiederum übersetzte bis kurz vor ihrem Tod im Jahr 1749 Newtons Principia Mathematica vom Lateinischen ins Französische: Principes Mathématiques de la Philosophie naturelle par feue Madame la Marquise du Chastellet, Paris: Desaint & Saillant, Lambert, 1756 Vol 1, 417 p. vol 2 297p.

Zweites Gespräch

Anmerkung 4 (S.114 Zisi: „Die (Regeln) des Konfuzius…“): Voltaire zitiert die beiden Regeln aus dem Lun-yu (Buch der Gespräche), dem zweiten kanonische Buch der konfuzianischen Lehren, wie es Du Halde präsentierte. In der Übersetzung von Buch XI: „Einer bat, dass er ihn lehren möge, wohl zu sterben, so sagt er: Ihr habt noch nicht angefangen wohl, lernet dieses, so wisset ihr auch wohl zu sterben“; Buch XII: „Gehet mit anderen so um, als ihr es euch selbst von anderen wünschet“

Anmerkung 5 (S. 115 Gu: „So wird ihnen Gott erlauben böse zu sein…?)
Wie das Böse in die Welt kam, wenn doch Gott allmächtig ist, war – nicht nur im 18. Jhdt. – eine vieldiskutierte Frage. Leibniz schrieb ein ganzes Buch (die Theodizee) darüber und kommt zu dem Schluss, dass Gott die beste aller möglichen Welten geschaffen haben musste, in der das Böse eben vorkommt. Siehe dazu den Artikel Tout est bien – Alles ist gut und unsere Kommentarseite dazu.

Anmerkung 6 (S. 115 Gu: „Aber wenn ich sicher bin, dass es überhaupt keines [anderes Leben nach dem Tod] gibt?“): Das zweite Gespräch mündet in einer atheistischen Position, was im 18. Jhdt. ziemlich gefährlich war. Vielleicht deshalb wird sie von Voltaire mit dem klassischen Winkelzug der Beweisumkehr, dass der Zweifelnde beweisen soll, dass es Gott, oder ein anders Leben nicht gibt, entschärft.

Drittes Gespräch

Dieses Gespräch ist ein gutes Beispiel dafür, wie Voltaire sich hinter seinen Protagonisten versteckt, mal ist er Gu, mal ist er Zisi. Vertritt Voltaire atheistische, gotteslästerliche Meinungen? Nein, nur Gu vertritt sie (S.120)…Zisi tritt ihnen entgegen, aber schon die Antwort Gus (S.121) ist wieder eine original Voltairesche Position usw. Deshalb ist es so schwer herauszufinden, wie weit Voltaire in seiner Religionskritik wirklich ging. Deshalb waren zwei ausgewiesene Voltaire Experten Pomeau (er hält Voltaire für eine Deisten) und Bestermann (er hält ihn für einen Agnostiker) gegensätzlicher Meinung. Siehe dazu unser Exzerpt der Dissertation von Pomeau: La Réligion de Voltaire.

Anmerkung 6 (S. 116 Gu: „Ist also die Seele…selbst nichts als ein Wort?“): Siehe dazu den Artikel Âme – Seele und unsere Kommentarseite dazu, außerdem die Diskussionsbeiträge zum Thema Die Seele im 18. Jhdt.

Anmerkung 7 (S. 119 Gu: dass wir immer Vorstellungen haben, auch wenn wir schlafen): Siehe dazu den Artikel Songes – Träume,

Anmerkung 8 (S. 120 oben, Zisi: „..haben Sie einen Willen und sind frei“): Über die Freiheit des Menschen s. den Artikel De La Liberté – Über die Freiheit.

Anmerkung 9 (S. 120 unten, Zisi: „..Deshalb ist es nötig, dass das Gute und das Schlechte ihr Urteil in einem anderen Leben finden“): Diesen Gedanken äußert Voltaire an etlichen Stellen, er unterstützt die disziplinierende Funktion der Religion und hofft, dass sie hilft, die Aggressionen des Volkes einzudämmen. Über Funktion des Glaubens an eine „jüngstes Gericht“ siehe unsere Zusammenfassung von R. Pomeau, La Religion de Voltaire, S. 398-406 und den Art. Enfer -Hölle.

Anmerkung 10 (Gu: “..zweihundert Familien ehemaliger Sionous..“): Eine Stadt, in der Juden seit dem 8., 9. Jh. lebten, war Kaifeng. Sie waren über die Seidenstraße gekommen. Die dortige Synagoge wurde von einem Franzosen, dem Jesuitenpater Jean Domenge, 1722 gezeichnet. Voltaire konnte von ihrer Existenz bei Du Halde (Description de la Chine, III, 64 b) erfahren.

Viertes Gespräch


In diesem Gespräch stellt Voltaire mit Hilfe der jesuitischen Kritik an den Konkurrenzreligionen, wie sie Du Halde wiedergibt, bevor er die jesuitische Mission in den höchsten Tönen lobt, die Absurditäten nicht nur jener, sondern auch der jesuitischen Glaubenserzählungen bloß. Die chinesische konfuzianische Lehre schneidet dagegen außerordentlich gut ab.

Anmerkung 11 (S. 123 oben, Zisi: „Sie opfern [dem Shangdi] vier mal im Jahr“): Du Halde beschreibt ausführlich die Frühlingszeremonie, bei der der Kaiser wie ein Bauer die Saat mit fünf verschiedenen Körnern ausbringt, um sie im Herbst zu ernten.

Anmerkung 12 (S.123 Gu: „fette Bergweisen, die nicht betrachtet werden dürfen“): Ironische Anspielung auf den Psalm 67, Vers 17 n.d. Bibelübersetzung von Lemaistre de Sacy : https://fr.wikisource.org/wiki/Bible_Sacy/Psaumes#CH068 „Was schaut ihr bewundernd auf Berge, die fett und fruchtbar sind?“ Voltaire beginnt mit den Absurditäten des Christentums.

Anmerkung 13 (S.123 Gu: „wenn ich den Mond zum Stillstand gebracht haben werde“):
Bezieht sich auf das Alte Testament, Josua, Kap. 10, Vers 12-13 „Sonne stehe stille zu Gibeon, und Mond, im Tal Ajalon! Da stand die Sonne still und der Mond blieb stehen, bis sich das Volk an seinen Feinden gerächt hatte.“

Anmerkung 14 (S.123, Gu: „Einerseits sehe ich Laotse…“): Über die sagenumwobene Geburt des Laotse und seine weißen Haare berichtet Du Halde (1735, III, 49; dt. III, S. 63 ; was die Lehre von der Vernichtung angeht, bezieht sie Du Halde in dem direkt auf Laotse folgenden Paragraphen ((1735, III, p.49; dt. III, S. 64 §116) auf Fo, d.i. Buddha: „Sehet ihr aber nicht, dass diese schöne Lehre von der Vernichtung seiner selbst, von der allgemeinen Entäußerung endlich auf eine chimärische Unsterblichkeit und auf ein solches Verlangen hinauslaufe, das nie erfüllt werden kann“.

Anmerkung 15 (S.124 Gu: „…Phantastereien von den Bonzen…“): Du Halde macht deutlich, wie die (buddhistischen) Bonzen das Volk täuschen, er beschreibt ihre Selbstkasteiungen und erzählt eine Anekdote, nach der sich ein Bonze auf einen ganz mit Nägeln besetzten Stuhl setzte und er berichtet von anderen, die sich dicke Ketten von mehr als 30 Fuß Länge um Hals und Füße hatten anbringen lassen. (Du Halde, 1735, III, 24 a + b; dt.: Du Halde III, S.32,33 §60 u. 61)

Anmerkung 16 (S.124 Mitte, Gu: „dass es besser ist, Gott mehr als den Menschen zu gehorchen“): Das ist die Antwort, die Petrus und die Apostel im Tempel dem Hohenpriester geben (Apostelgeschichte 5,29): „Haben wir euch nicht streng geboten, in diesem [christlichen] Namen nicht zu lehren? Und seht, ihr habt Jerusalem erfüllt mit eurer Lehre und wollt das Blut dieses Menschen über uns bringen. Petrus aber und die Apostel antworteten und sprachen: Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.“

Anmerkung 17 (S.124, Zisi: „Der Shandi bewahre mich davor, in Ihnen den Geist der Toleranz …auslöschen zu wollen“): Siehe den Artikel Tolérance -Toleranz.

Anmerkung 18 (S.125, Zisi: „Die chaldäischen Priester…behaupteten, ein berühmter Hecht namens Oannes habe sie einst die Theologie gelehrt“): Oannes, halb Mensch, halb Fisch, ist ein Götterbote der babylonischen Religion aus den Anfängen der Zeit, wie von Berossos (302- v.u.Z.) berichtet und von Abbé Bannier erzählt wird. Es ist offensichtlich, dass Voltaire die Geschichte als Schablone benutzt, um sich über die scholastischen Grübeldebatten lächerlich zu machen.

Fünftes Gespräch

Anmerkung 20 (S.128, Gu: Könige die 300 Frauen haben, kommen nicht zu den Staatsgeschäften):
Das ist eine Anspielung auf den König Salomon und seine legendäre Polygamie (AT, I. Könige, 11, 3)
Während für Voltaire einerseits die Polygamie abzulehnen ist, kritisiert er ebenfalls das katholische Zölibat als gegen den prosperierenden Staat gerichtet. Der Abbé Saint-Pierre (=Charles Irénée Castel de Saint-Pierre) forderte dessen Abschaffung (Ouvrages de politique, vol 2, V. Observations politique sur le célibat des prêtres, Rotterdam 1733-1741 p.150-183)

Anmerkung 21 (S.128: Gu: 50 Eunuchen, um in der Pagode zu singen):
Wieder versteckt Voltaire seine Kritik an der Kirche, diesmal hinter dem Dalai Lama. Mit den Verstümmelten des Dalai Lama sind deutlich die Jungen gemeint, die man noch im 18. Jhdt. auf Befehl des Papstes kastrierte, um sie als Sopranisten im Chor des Vatikans einzusetzen (siehe: Ambrosini, Maria Luisa, Die Geheimen Archive des Vatikans, München Kösel, 1972, S.188 f. Der Autorin zufolge wurde die Jungen-Kastration von Benedikt XIV abgeschafft, andere bekannte Kastraten im 19. Jahrhundert deuten auf einen wesentlich längeren Fortbestand der Praxis hin. Als letzter Kastrat des Vatikans gilt ein gewisser Alessandro Moreschi, der von 1858 -1922 lebte) .

Anmerkung 22 (S.130: die Freundschaft):
Die Freundschaft gehört bei Konfuzius zu den fünf elementaren menschlichen Beziehungen und ist die einzige Beziehung unter Gleichrangigen. Siehe dazu auch den Artikel Amitié – Freundschaft

Anmerkung 21 (S.131 Zisi: „dass unsere guten Handlungen nur glanzvolle Sünden seien“):
In seinem Kampf gegen den Pelagianismus Julians spricht Augustinus (Contra Julianus Plegianus) den Ungläubigen ab, tugendhaft sein zu können. Sie haben vielleicht ihre Pflichten erfüllt, aber nicht wirklich Gutes getan, sondern ihre Taten waren alle mehr oder weniger schwere Sünden, weil ihnen der christliche Glaube fehlte. Ein schlechter Baum bringt keine guten Früchte hervor. S. dazu Johann Ernst, Augustinus gegen Julian, S.80 fff

Sechstes Gespräch

Anmerkung 23 (S.132, Zisi: Lob der Gastfreundschaft): Viele der frühen Chinareisenden berichteten über die große dort herrschende Gastfreundschaft, insbesondere die der kostenlosen Unterkünfte – Voltaire hat diese Einrichtung in das Eldorado seines Candide übernommen.

Anmerkung 24 (S.134, Sammoncodom lässt die Drachen steigen): Sammonocodom ist zwar nach der Enzyklopädie der siamesische Name für Buddha, doch soll er bereits lange vor Christi Geburt der Gott der Siamesen gewesen sein und sich in 550 Tieren inkarniert haben. Voltaire folgt dem jesuitischen Missionar Guy Tachard (Voyage de Siam, Paris 1686), der mehrfach nach Siam gereist war. Von ihm stammt die Geschichte über Sammonocodom, der Drachen steigen lässt und den Bäumen befiehlt, dabei nicht zu stören.

Anmerkung 25 (S.134, die Kamis, die vom Mond herunterkamen): Die Kamis sind im japanischen Shintoismus verehrte Geister oder Götter. Voltaire bezieht sich auf Engelbert Kaempfer (1651-1716), einer der ersten Europäer, die Japan bereisten. Er wurde Leibarzt des Grafen Friedrich Adolf zur Lippe, weshalb er nicht dazu kam, alles zu veröffentlichen. Erst nach seinem Tod wurden einige seiner Manuskripte veröffentlicht, Teile seines Nachlasses wurden vom Leibarzt des englischen Königs Sir Hans Sloane gekauft, übersetzt und als The History of Japan 1727 publiziert. Bereits 1729 erschienen die ersten Auflagen einer französischen Übersetzung und Christian Wilhelm Dom brachte 1777-79 unter dem Titel Engelbert Kaempfers Geschichte und Beschreibung von Japan bei Meyer in Lemgo eine deutsche Version heraus. Ausführlich dazu der Wikipediaeintrag Engelbert Kaempfer.

Philosophisches Taschenwörterbuch: De la Chine – Über China. (Kommentare)

Hintergrund:
Das 18. Jahrhundert war, noch kurz vor dem Erscheinen des Philosophischen Wörterbuchs Voltaires, Schauspiel einer heute fast unbekannten, sehr heftig geführten Auseinandersetzung über China. Erbitterte Angriffe gegen Chinas angeblich götzendienerische Religion wurden von christlich-fundamentalistischer Seite geführt und trugen zum Verbot des Jesuitenordens bei, weil dieser sich der geforderten Sinophobie verweigerte. Diese antichinesischen Angriffe legten auch die Wurzeln für den Hass, der China im 19. Jahrhundert während der Zeit der Kolonisierung entgegenschlug und wirken noch heute in der agressiven Ablehnung Chinas fort, weil es dem westlich eingespielten Modell einer repräsentativen parlamentarischen Demokratie nicht folgt und nicht zu folgen bereit ist.

Bei der Missionierung für das Christentum war in China der Jesuitenorden besonders erfolgreich. Seit Pater Matteo Ricci (1555-1610), Pater Johann Adam Schall von Bell (1591 -1666) und viele andere Jesuiten sich in einer über 100 jährigen zähen Missionsarbeit mit ihren Kenntnissen auf den Gebieten der Geometrie, Astronomie und Mathematik das Vertrauen des chinesischen Hofes erworben hatten, ging es mit dem Christentum in China voran. Selbst Mitglieder der Kaiserfamilie waren Ende des 17. Jahrhunderts zum Christentum übergetreten und der Kaiser Kangxi höchstpersönlich erließ am 22.3.1692 ein Toleranzedikt, dass den Christen (Jesuiten) für ihre Missionstätigkeit freie Hand ließ.

Der Erfolg der Jesuiten war erstens ihren unbestreitbaren wissenschaftlichen Kenntnissen, die sich die Chinesen zunutze machten, zweitens ihrer Anpassungsbereitschaft an lokale chinesische Gepflogenheiten (z.B. der Kleiderordnung) und drittens ihrer Bereitschaft, die religiösen Riten und Gebräuche in das von ihnen den Chinesen verkündete Christentum zu integrieren (Einen kurzweilig zu lesenden Überblick über das Engagement der Jesuiten in China gibt: Fülöp-Miller, Réné, Macht und Geheimnis der Jesuiten, 1947 VMA: Wiesbaden 1960, 829 S., insb. S.350-419).

So war es auch im Falle der Chinamission: Plötzlich erschienen Pamphlete, die die Jesuiten anklagten, die christliche Lehre verwässert zu haben, indem sie den chinesischen Ahnenkult akzeptierten, die Anbetung von Ahnenbildern/-statuen tolerierten, was Götzendienst sei und schließlich, dass sie die Kreuzigung Jesus bei ihrer Verkündigung des Christentums unter den Chinesen unter den Teppich kehrten (was stimmte, denn die Jesuiten wussten sehr wohl, dass der Kreuzestod für Chinesen eine äußerst verächtliche und schmachvolle Todesart war).

Nach Jahren der Mißwirtschaft in Frankreich war die Monarchie geschwächt. Gegen Ende des 17. Jahrhunderts gewann die Kirche wieder stärkeren Einfluß auf den Hof. Sie hatte direkten Kontakt zum König über den am Hof installierten königlichen Beichtvater (einen Jesuiten), der 1670 sogar das Recht erhielt, Kandidaten für sämtliche neu zu besetzenden Kirchenstellen vorzuschlagen. Sie nutzte den Zuwachs an Einfluss sofort, um die ihnen verhassten Hugenotten einer heftigen Verfolgungswelle zu unterziehen. Aber sie überspannten den Bogen und gingen auch gegen die Janseninsten vor, die im absolutistischen Machtapparat sehr viel besser verankert waren. So kam es, dass am Ende der Jesuitenorden selbst als Gefahr für den Absolutismus gesehen wurde und 1764 in Frankreich, aber auch in Portugal und in Spanien verboten wurde. Das war praktisch: man zeigte dem Papsttum seine Grenzen, attackierte „nur“ seinen wichtigsten Orden und ermöglichte so der Kirche, sich durch taktische Manöver aus dem Schussfeld zu nehmen, wobei sie auch nicht davor zurückschreckte, die Jesuiten, denen sie so viel zu verdanken hatte, durch Dominikaner und Franziskaner angreifen zu lassen.
Die Kampagne gegen die Jesuiten gipfelte schließlich in der Aufhebung des Jesuitenordens durch den Vatikan im Jahr 1773 und in allen katholischen Ländern Europas.

Voltaire bezieht sich auf den Bericht des Jesuiten Daniel Louis le Comte (1655 – 1728) (zu le Comte s. frz. Wikipediaartikel , mit einer Beschreibung der von Ludwig XIV. unterstützten jesuitischen Mission) , der seine Erfahrungen als christlicher Missionar in China in dem 1696 erscheinen Werk Nouveau mémoire sur l’état présent de la Chine veröffentlichte und damit großes Aufsehen erregte, vor allem, weil er behauptete, die Chinesen hätten die wahre Religion bereits viele Jahre vor dem Christentum entdeckt. Sein Werk wurde 1762, also zwei Jahre vor dem Erscheinen des Philosophischen Taschenwörterbuchs, in Paris auf höchstrichterlichen Entscheid verbrannt.
1698 erschien von Pater Charles le Gobien (1652 – 1708) Nouveaux mémoires sur l’état présent de la Chine, Paris 1698, III.[1-2]. Diese Schrift wurde am 18. 10.1700 durch die Theologischen Fakultät in Paris zensiert, weil le Gobien die chinesische Ahnenverehrung nicht verdammte.
Von 1709 – 1743 veröffentlichte Jean Baptiste du Halde (1674 . 1743) seine Description géographique, historique, chronologique, politique et physique de l’empire de la Chine et de la Tartarie chinoise mit zahlreichen Karten und gezeichneten Darstellungen chinesischer Orte. Dt: Ausführliche Beschreibung des Chinesischen Reichs und der grossen Tartarey. Johann Christian Koppe, Rostock 1747–1756, Band I 1747, Band II 1748, Band III 1749, Band IV 1749, Zusätze 1756. Das Werk ist gewissermaßen die Zusammenfassung der über 100 jährigen Missionstätigkeit der Jesuiten in China, du Halde war zwar selbst nie in China, er verarbeitete jedoch die Berichte seiner Ordensbrüder zu einem sehr publikumwirksamen Werk. Es blieb bis in das 19. Jahrhundert hinein das maßgebliche Standardwerk über China und beeinflusste die Diskussion über die chinesische Welt. Er achtete sorgsam darauf, die chinesische Kultur der europäischen stets unterzuordnen. Darin folgte ihm auch Denis Diderot , der in seinem Artikel „Chinois“ der Enzyklopädie v. 1753 behauptet, China sei rückständig, stehengeblieben und nur durch die europäischen Missionare wieder zu neuem, fortschrittlichen Wissen gelangt.

Die aufgeklärten Kreise in Frankreich und auch Deutschland diskutierten leidenschaftlich die Frage, ob und wie es sein könne, dass eine Gesellschaft wie die Chinesische über Jahrhunderte existierte, ohne wirklich an einen Gott zu glauben, ohne eine zentrale Religion zu haben. Pierre Bayle (Dictionnaire historique et critique, 2. Ausgabe von 1702) nahm China als Beispiel für eine Gesellschaft von Atheisten, die funktionierte, also ohne Religion auskam. Das brachte die christlichen Gegner zur Weißglut. Als Professor Christian Wolff (siehe dazu die Biographie: H. J. Kertscher, Er brachte Licht und Ordnung in die Welt. Christian Wolff – eine Biographie, Halle: mdv, 2018: dazu unsere Rezension) am 12. Juli 1721 in einem Vortrag auf Latein mit dem Titel „Rede über die praktische Philosophie der Chinesen“ in Halle ähnliches vertrat, waren seine Tage gezählt, die Pietisten um den Pfarrer Lange ruhten nicht, bis sie Wolff am 23 November 1723 außer Landes getrieben hatten (Es war 1740 eine der ersten Amtshandlungen Friedrichs des Großen, Wolff aus dem Exil zurückzurufen).

Man kann von einer wahren Chinabegeisterung im 18. Jahrhundert sprechen, chinesisches Porzellan, chinesische Seide, chinesische Tees waren gefragte und sehr teure Artikel bis hin zu Gebäuden im chinesischen Stil, wie sie noch heute die zahlreich vorhandenen Chinapavillons in den Schlossparks zeugen (etwa im Garten von Sans Souci in Potsdam). Während die klerikal-christlichen Kreise nach dem Ende der Jesuitenmission China verteufelten, wendete sich die Aufklärung China positiv zu.

Voltaire hatte bereits 1751 in seinem Siècle de Louis XIV (Kapitel 39) über die Feindseligkeiten gegen die erfolgreiche Missionstätigkeit der Jesuiten berichtet, die am Ende dazu führten, das sich China angeekelt vom Christentum abwandte.

1756 waren die ersten beiden Kapitel seines Essay sur les moeurs, mit dem er nichts weniger als die erste, nicht von christlicher Heilslehre verunreinigte Weltgeschichte publizierte, China gewidmet. Dieses umfassende, bis zu Ludwig XIII. im 17. Jhdt reichende Geschichtswerk, beginnt nach einem Vorwort mit der Geschichte Chinas und behandelt im zweiten Kapitel die chinesische Religion. Nach Voltaire resultiert die Zuschreibung Chinas als atheistische Kultur auf der Unart des Christentums, alles, was nicht seiner Lehre entspricht, als gottlos und als atheistisch zu verdammen:
„Wir haben die Chinesen nur deshalb verleumdet, weil ihre Metaphysik mit der unseren nicht völlig übereinstimmt. Wir hätten aber zwei ihrer Vorzüge bewundern sollen, nämlich, dass sie sowohl den Aberglauben der Heiden, als auch die Sitten der Christen verabscheuten“ (2.Kap., S. 34).

Er hält China nicht für eine Gesellschaft von Atheisten, denn die Zuschreibung „atheistisch“ sei falsch. Nach Voltaire hätten die Chinesen getreu der konfuzianischen Lehre doch an einen allmächtigen, hinter dem Kaiser stehenden Gott geglaubt. Der Essay sur les moeurs war im Übrigen das allererste Werk der Neuzeit, das die Geschichte der Welt nicht auf den europäischen Kontinent beschränkte und anerkannte, dass lange vor der europäischen Zivilisation in China eine dieser deutlich überlegene Hochkultur existierte.
Die Größe der chinesischen Kultur ist auch Thema in Voltaires Theaterstück „L’Orphelin de la Chine“ (1755), in dem der grausame Mongolenherrscher Dschingis Khan die Überlegenheit Chinas über das barbarische mongolische Reitervolk anerkennt.

Quellen:
– Voltaire, Oeuvres complètes, Oxford: Voltaire Foundation, 1968 – 2022, 205, hier: Bd. 35
Etiemble, René, L’Europe Chinoise, Bd. 2: De la sinophilie à la sinophobie, Paris: Gallimard, 1898, 408 p.
Tricoire, Damiens, Von der Sinophilie zur Sinophobie?: aufklärerische Geltungsansprüche und Chinabilder im 18. Jahrhundert, in: Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung, 67, S.151-172
Pinot, Virgile, La Chine et la Formation de l’Esprit Philosophique en France (1640-1740), Paris: Geuthner, 1932, 480 p.

Die folgenden Kommentare zu einzelnen Textstellen beziehen sich mit ihren Seitenangaben auf die von uns bei Reclam herausgegebene Ausgabe des Philosophischen Taschenwörterbuchs (2020):

Anmerkung 1 (S.104, erster Absatz: „…dass sie zum frischgebackenen Adel gehörten…”): Bis 1727 musste man in Frankreich, um Staatssekretär zu werden, das Amt kaufen. Derjenige, der es kaufte, wurde sogleich geadelt, weshalb das Verfahren auch als „Gemeinenseife“ bezeichnet wurde. Deshalb gab es auch den netten Spruch: „Hätte Adam nur ein Quentchen Verstand besessen, er hätte sich das Amt des königlichen Staatssekretärs gekauft und die ganze Menschheit wäre adlig geworden“ (H. Méthivier, L’Ancien régime en France, Paris 1981, S. 80, nach: Oeuvres compl., Oxford: Voltaire Foundation, Bd. 35, 2011, S. 530).

Anmerkung 2 (S. 105, erster Absatz und ff: „…ihn [Wolff] zu beschuldigen, dass er nicht an Gott glaube..“): Im Vorwort zu Voltaires Poème sur le désastre de Lisbonne (1756) findet sich folgende Anmerkung: „So hat der Doktor Lange den respektablen Wolff als Atheisten tituliert, weil er die Moralität der Chinesen gelobt hatte; und als Wolff sich auf das Zeugnis der Jesuitenmissionare in China berief, antwortete der Doktor: ‚Weiß man denn etwa nicht, dass die Jesuiten Atheisten sind?’“. nach: Oeuvres compl., Oxford: Voltaire Foundation, Bd. 35, 2011, Anm. 14, S. 532

Anmerkung 3 (S. 105, zweiter Absatz: „…die Regierung in Peking sei atheistisch..“): Noch 1730 war Voltaire der Annahme von Pierre Bayle (Dictionnaire historique et critique, 2. Ausgabe von 1702) vom Atheismus der gebildeten Chinesen gefolgt. 1755 jedoch schreibt er in Bezug auf China in einer seiner Tagesnotizen (Oeuvres complètes, 1968, 81, S.135): „Es gibt [in China] Atheisten, doch die Regierung ist nicht atheistisch und kann es nicht sein“. nach: Oeuvres compl., Oxford: Voltaire Foundation, Bd. 35, 2011, Anm. 15, S. 533

Anmerkung 4 (S. 106 zweiter Absatz „…dass dort die Gesetze herrschten.…“): Nach Du Halde setzte Fuhi einen ersten Minister ein und teilte die Regierung des Reiches unter vier Mandarine auf: „So erlebten seine Gesetze eine Blütezeit“. (Description de la Chine, I.272-73, nach: Oeuvres compl., Oxford: Voltaire Foundation, Bd. 35, 2011, Anm. 21, S. 536).

Anmerkung 5 (S. 106 zweiter Absatz „…und all die anderen Künste.…“): Im Essai sur les moeurs, erinnert Voltaire daran, dass die Chinesen seit zweitausend Jahren, lange vor den Persern, den Buchdruck erfunden haben und gelernt haben, Glas herzustellen; dass sie mit dem Hammer geprägte Münzen aus Gold und Silber hatten.

Anmerkung 6 (S. 106 dritter Absatz „…seltsame Berechnungen.…“): Denis Petau (1583-1652), damals ein berühmter Chronologe und Historiker in Paris, hatte berechnet, dass ein einziger Sohn Noahs eine Rasse hervorbrachte, die nach zweihundertfünfundachtzig Jahren sechshundertdreiundzwanzig Milliarden und sechshundertzwölf Millionen Menschen zählte. Voltaire: „Die Rechnung geht ein bisschen zu weit“ La Philosophie de l’histoire, Kap. 24, in Oeuvres compl., Oxford: Voltaire Foundation Bd. 59, S. 172).

Anmerkung 7 (S. 106 dritter Absatz, Ende „…wie wenig sich die Menschheit doch vermehrt.…“): Montesquieu u.a. behaupteten, die Bevölkerung der Erde im achtzehnten Jahrhundert sei zehnmal geringer als die primitive und dreißig mal geringer als die zu Zeiten Cäsars (Lettres persanes, CXIII). Voltaire bezweifelte diese Theorie: anstelle eines Bevölkerungsrückgangs schlägt er eine kontinuierliche Zunahme vor, die sich dem von der Menschheit gemachten materiellen Fortschritt verdankt, und geht so auch auf Abstand zu der These von Damilaville (in seinem Artikel ‚Population’ für die Enzyklopädie), für den die Weltbevölkerung immer ungefähr gleich geblieben ist. In den Augen Voltaires kann die Bevölkerungszunahme nur sehr langsam vonstatten gehen: die Kindersterblichkeit betrifft zumindest ein Drittel der Geburten; sie kann diese sogar um die Hälfte reduzieren. Questions sur l’Encyclopédie, 1770, Art. Population, (Œuvres compl. 1877-85, XX.247-48)

Anmerkung 8 (S. 107 oben „…Mandarine Stockschläge.…“): „Wie gefürchtet auch die Autorität dieser Mandarine sein mag, sie können kaum ihre Stellen beibehalten, wenn sie nicht in dem Ruf stehen, ein Vater des Volkes zu sein und nach nichts anderem als nach seinem Glück zu streben. […] Ein Mandarin, der zu streng wäre und bei dem man nicht diese Zuneigung zu dem Volk, das ihm unterstellt ist, bemerkte, würde mit Sicherheit negativ in den Berichten erwähnt werden, die alle drei Jahre von den Vizekönigen an den Hof gesendet werden, und diese Bemerkung wäre ausreichend, um ihn seine Stelle zu kosten“ (Du Halde, Description de la Chine, II, 31, nach: Oeuvres compl., Oxford: Voltaire Foundation, Bd. 35, 2011, Anm. 32, S. 540)).

Anmerkung 9 (S. 107 oben „…die einzige Verfassung, die Preise für die Tugend ausgesetzt hat.…“): Im Essai sur les moeurs (Ende des 1. Kapitels) bringt Voltaire dazu folgende Anekdote „Vor einiger Zeit fand ein armer Bauer namens Chicou einen Beutel voller Gold, den ein Reisender verloren hatte. Er reiste bis in die Provinz des Reisenden und übergab den Beutel dem Magistrat des Kantons, ohne etwas für seine Mühen zu wollen. Der Magistrat, bei Strafe, abgesetzt zu werden, war verpflichtet, das Oberste Gericht in Peking zu benachrichtigen; dieses Gericht war verpflichtet, den Kaiser zu benachrichtigen, und der arme Bauer wurde zum Mandarin der fünften Ordnung ernannt, denn es gibt Mandarinsstellen für Bauern, die sich in der Moral auszeichnen, wie auch für diejenigen, die in der Landwirtschaft am erfolgreichsten sind. Man muss zugeben, dass man bei uns diesen Bauern nur dadurch ausgezeichnet hätte, dass man ihm eine höhere Steuer auferlegt hätte, weil man der Meinung war, dass es ihm wohl ergehen müsse.“

Anmerkung 10 (S. 107 zweiter Absatz „…geben wir auch noch zu.…“): All die hier von Voltaire angeführten Beispiele bringt Du Halde als Beleg für die Überlegenheit der europäischen Kultur, an der Voltaire durchaus zweifelt. (siehe auch: Oeuvres compl., Oxford: Voltaire Foundation, Bd. 35, 2011, Anm. 39, S. 542)

In eigener Sache: Facebook-Seite der Voltaire-Stiftung am 18.11.2022 gesperrt

Bereits 2021 wurde die facebook-Seite der Voltaire-Stiftung ohne Angabe von Gründen gesperrt. Durch anwaltlichen Beistand konnte facebook gezwungen werden, die Seite 10 Monate später (!) wieder zu aktivieren. Jetzt wurde uns wieder mitgeteilt: „Dein Konto wurde deaktiviert“. Eine Begründung? Fehlanzeige.
Die Voltaire-Stiftung wird gegen diese bösartige facebook Maßnahme nicht noch einmal den teuren Rechtsweg beschreiten und stattdessen zu Telegram wechseln. Unseren Voltaire Telegram Kanal können Sie über folgenden Link erreichen:
https://t.me/s/voltaire_stiftung
Wer kein Telegram Konto hat, kann die Beiträge wenigstens lesen (nicht aber kommentieren).

Wie auch bisher schon, werden wir auf dem Voltaire-Blog Beiträge rund um Voltaire veröffentlichen und seine, angesichts einer immer weitgehenderen Einschränkung der Meinungsfreiheit, immense Aktualität aufzeigen.

Philosophisches Taschenwörterbuch: Certain, Certitude – Gewiss, Gewissheit. (Kommentare)

Hintergrund:
Voltaire bezieht sich in seinem, in Anbetracht der Bedeutung dieser zentralen philosophischen Fragestellung nach der Gewissheit menschlicher Erkenntnis, sehr kurzen Artikel kritisch auf den 1752 im zweiten Band der Enzyklopädie erschienenen, dagegen sehr langen (26 seitigen) Artikel Gewissheit (frz.:Certitude, engl.:Certainty) des Abbé de Prades. Jean-Marie de Prades (1720-1782), der mit Diderot befreundet war, hatte in seiner Dissertation zu zeigen versucht, dass man sogar auf Grundlage der sensualistisch-empirischen Grundthese Lockes („Nichts ist im Verstand, was nicht vorher in den Sinnen gewesen wäre“), die biblische Behauptung, dass Jesus Wunder getan habe, rechtfertigen kann. Er war mit dieser Idee auf den erbitterten Widerstand der Kirche gestoßen, die keine Ruhe gab, bis man de Prades sämtliche universitären Titel aberkannt und ihn 1752 außer Landes vertrieben hatte (Friedrich der Große nahm ihn als seinen Vorleser in Berlin auf und rettete ihn vor dem sicheren Untergang).
Die Kirche lehnte den Empirismus-Sensualismus als Irrlehre ab, insbesondere, weil er den christlichen Glauben an eine vernunftbegabte, von Gott eingepflanzte Seele ablehne, die alleine den Menschen von einem Tier und von einer Maschine unterscheide. Eine Position, die sie, Descartes missbrauchend, an den französischen Universitäten als allein gültige Lehre durchgesetzt hatte.
In seinem Enzyklopädie-Artikel Certitude versucht de Prades nun eine Art Kombinationslehre von Zeugenaussagen zu liefern und behauptet, dass eine Tatsachenbehauptung um so glaubwürdiger sei, je mehr Menschen (also tout Paris) davon berichteten. Auch Erzählungen über Wundertaten erscheinen ihm als belegt, wenn nur die Berichtenden glaubwürdig waren. So kommt er – auch darin John Locke folgend – schließlich zur Einschätzung, dass die Evangelien hohe Glaubwürdigkeit beanspruchen könnten, weil viele ernsthafte Menschen zu biblischen Zeiten über das Leben Jesus berichtet hätten und widerspricht damit dem Herausgeber Diderot. Diderot hält (in seinen Pensées philosophiques) weder die Evangelien, noch Berichte über Wunder, noch Tatsachenberichte bloß deshalb für glaubwürdig, weil sie von Vielen geteilt werden. Eine höhere Anzahl von Zeugen erhöht die Glaubwürdigkeit einer Aussage nicht (siehe unten, Anmerkung 6).

John Locke An Essay Concerning Human Understanding (1689 dt.: Versuch über den menschlichen Verstand)
Zur Gewissheit der Offenbarung:
„Nehmen wir zum Beispiel an, vor einigen Generationen wäre geoffenbart worden, dass die Summe der drei Winkel eines Dreiecks gleich zwei rechten sei. Nun könnte ich der Wahrheit dieses Satzes auf Grund der Glaubwürdigkeit der Überlieferung, dass er geoffenbart worden sei, zustimmen. Diese würde mir jedoch nie eine ebenso große Gewissheit geben, wie die Erkenntnis der Wahrheit auf Grund einer Vergleichung und Messung meiner eigenen Ideen von zwei rechten Winkeln und der drei Winkel eines Dreiecks“ (Essay, Kap.4, §22).
und :
„Daher kann kein Satz als göttliche Offenbarung anerkannt werden, ..wenn er unserer klaren intuitiven Erkenntnis widerspricht“ (z.B. dass derselbe Körper nicht gleichzeitig an zwei Orten sein kann). (Essay, Kap.18, §5)
Locke setzte sich damit in diametrale Opposition zur katholischen Lehre, die bereits im 5. Laterankonzil (1512–1517) festgelegt: hatte, dass kein Satz in der Philosophie wahr sein kann, wenn er im Gegensatz zur christlichen Glaubenslehre steht. Die Kirche fügte das Werk ab 1737 ihrer Liste der verbotenen Bücher hinzu.

David Hume (1711-1764): An Enquiry Concerning Human Understanding. (1748), dt. Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand).
Zur Gewissheit von Erfahrungstatsachen:
Wenn eine Billardkugel mittig auf eine zweite trifft, wird diese sich wegbewegen, während jene zum Stehen kommt. Zwar wird man sagen, dass die Fortbewegung der zweiten mit diesem Stoß in Zusammenhang stand, aber kann man auch sagen, dass das Auftreffen der ersten die Fortbewegung der zweiten bewirkte und falls ja, wäre man berechtigt, diese Wirkung als notwendige oder das ganze gar als einen gesetzmäßigen Ursache-Wirkungszusammenhang zu bezeichnen? (Enquiry, E61)
Und außerdem: „Bei einigen Ereignissen hat es sich gezeigt, dass sie beständig in Verbindung stehen; andere zeigten sich als veränderlicher und manchmal unsere Erwartungen enttäuschend, so dass es in unserem Urteil über Tatsachen alle erdenklichen Grade der Sicherheit gibt, von der höchsten Gewissheit bis zur niedersten Art moralischer Evidenz (Enquiry, Über Wunder, E90).
Hume hatte die zweifelhafte Ehre, dass ab 1761 alle seine Werke auf die Liste der verbotenen Bücher der Catholica kamen.
Voltaire besaß die Werke Humes im Original, teilweise auch in französischer Übersetzung und stand seinen Auffassungen sehr nahe.

Die folgenden Kommentare zu einzelnen Textstellen beziehen sich mit ihren Seitenangaben auf die von uns bei Reclam herausgegebene Ausgabe des Philosophischen Taschenwörterbuchs (2020):

Anmerkung 1 (S.81, Ein falscher Taufschein: „Sie haben immer noch Gewissheit von etwas, das nicht so ist“): Schriftliche Dokumente können keine absolute Gewissheit beanspruchen, sie kommen über eine bestimmte Wahrscheinlichkeit nicht hinaus.
Voltaire bezieht sich auf Pierre Bayle, dessen historische Quellenkritik Vorbild für die Geschichtsschreibung Voltaires und für die Aufklärung insgesamt war (vgl. dazu: Sandra Richter, Öffentliche Urteilskräfte und ihr Literaturarchiv (pdf), Zeitschrift für Ideengeschichte, 2019).
Auch Voltaires eigener Taufschein enthielt im Übrigen eine falsche Geburtsangabe. War er nach eigener Aussage am 20.2.1694 geboren, so trägt sein Taufschein, dem die meisten seiner Biographen folgen, das Datum 21.11.1694.

Anmerkung 2 (S.81, dritter Absatz: „Ist die Sonne aufgegangen, ist sie untergegangen?“): Für Ptolemäus (Almagest, 140 n.u.Z.) schien es evident, dass sich die Sonne um die Erde dreht, weil sie offensichtlich im Laufe eines Tages über den Himmel wandert (geozentrisches Weltbild).
Erst Kopernikus bewies, dass das Gegenteil richtig ist. Und Newton lieferte durch die Entdeckung der Gravitationsgesetze (auf das Weltall angewendet) die mathematischen Grundlagen zur Berechnung der Planetenbewegungen. Voltaire hatte Newtons Werk zusammen mit seiner Lebensgefährtin Emilie du Châtelet in Frankreich bekannt gemacht (Elemente der Philosophie Newtons (1748), siehe hier insb. Abschnitt 3.4. „Dass die Gravitation und die Anziehung den Lauf aller Planeten lenken“).
Den Übergang vom geozentrischen zum heliozentrischen Weltbild erläutert allgemeinverständlich: https://astrokramkiste.de/heliozentrisches-weltbild.

Anmerkung 3 (S.81, vierter Absatz: „Die Zauberei, das Wahrsagen…sind die sicherste Sache der Welt gewesen“): Voltaire bezieht sich auf David Humes Enquiry (Kapitel X, „Über Wunder“).

Anmerkung 4 (S.82, zweiter Absatz: „…doch die mathematische Gewissheit ist unwandelbar und ewig“):
John Locke: „Alle mathematischen Ausführungen über die Umwandlung eines Kreises oder Kegelschnittes in ein Viereck oder über andere Theile der Mathematik beziehen sich nicht auf das Dasein dieser Gestalten, vielmehr bleiben ihre Beweise, die nur von ihren Vorstellungen bedingt sind, unverändert gültig, mag ein Kreis oder Viereck in der Welt bestehen oder nicht“ (Essay, Kap.4 Von der Wirklichkeit des Wissens, §8).
Und auch Hume unterscheidet die Aussagen in der Geometrie (Satz des Euklid), Algebra und Arithmetik, die durch bloße Denktätigkeit geprüft werden können, deren Gewissheit unabhängig davon bestehen bleibt, „ob im Weltall etwas existiert“ von Tatsachen- oder Existenzbehauptungen. Eine Tatsache kann sein oder nicht sein, auch das Gegenteil kann stimmen, ohne dass es zu einem Widerspruch käme. So ist diese Art von Aussagen stets mehr oder weniger wahrscheinlich. Aussagen in der Geometrie können dagegen absolute Gewissheit beanspruchen (Enquiry, E41).

Anmerkung 5 (S.82, dritter Absatz: „Ich existiere, ich denke, ich empfinde Schmerz“):
John Locke: „Die Gewissheit der inneren Wahrnehmung ist der geometrischen ebenbürtig.
Denn nichts kann offenbarer für uns sein als das eigene Dasein. Ich denke, ich überlege, ich fühle Lust oder Schmerz; kann all dies offenbarer für mich sein als das eigene Dasein? Selbst wenn ich alles Andere bezweifle, so lässt mich dieses Zweifeln mein eigenes Dasein wahrnehmen und daran nicht zweifeln. Denn wenn ich Schmerz empfinde, so habe ich offenbar eine ebenso sichere Wahrnehmung von meinem eigenen Dasein, wie von dem gefühlten Schmerz; und wenn ich weiß, dass ich zweifle, so habe ich eine ebenso sichere Wahrnehmung von dem zweifelnden Dinge, als von dem Gedanken, den ich Zweifel nenne. So lehrt uns die Erfahrung, dass wir ein anschauliches Wissen von unserm eigenen Dasein haben, und eine innere untrügliche Wahrnehmung, dass wir sind. Bei jedem einzelnen Fühlen, Denken oder Überlegen sind wir uns des eigenen Seins bewusst, und hier fehlt uns nichts an der höchsten Gewissheit“. (Essay, Kap.4 Von der Wirklichkeit des Wissens, §3).

Anmerkung 6 (S.82, vierter Absatz:„Mit der Gewissheit, die durch Augenschein übermittelt wird… ist es nicht dasselbe“):
Voltaire folgt hier John Locke und David Hume die sich mit der Gewissheit von Aussagen über die Außenwelt beschäftigten. Sie können mehr oder minder wahrscheinlich sein. Nach Hume sind Berichte über Wunder abzuweisen, wenn sie den mit höchster Wahrscheinlichkeit versehenen menschlichen Grunderfahrungen widersprechen -und das tun sie in aller Regel.
Voltaire widerspricht damit explizit auch de Prades, der in seinem Enzyklopädie-Essay den Anhängern des Skeptizismus zurief: „Ihr erkennt die Existenz der Stadt Rom an, an der Ihr nicht zweifeln könnt“ und damit bewiesen zu haben glaubte, dass auch Aussagen über die Außenwelt absolute Gewissheit beanspruchen könnten.
Diderot hatte zur Bedeutung der großen Zahl von Zeugen geschrieben (Pensées philosophiques (XLVI )): „Ein ganzes Volk, werden Sie sagen, ist Zeuge dieser Tatsache und Sie wagen es, sie zu leugnen? Ja, ich traue es mich, solange sie mir nicht durch die Autorität von jemandem bestätigt wird, der nicht zu Ihrer Partei gehört, und ich nicht weiß, dass dieser jemand unfähig zu Fanatismus und Verführung war. Mehr noch: Wenn mir ein Autor von ausgewiesener Unparteilichkeit erzählt, dass sich in der Mitte einer Stadt ein Abgrund auftat; dass die Götter, die zu diesem Ereignis befragt wurden, antworteten, dass er sich wieder schließen werde, wenn man das Wertvollste, was man besitzt, hineinwirft; dass ein tapferer Ritter sich selbst hineinstürzte und dass sich dadurch das Orakel erfüllte: Ich werde ihm viel weniger glauben, als wenn er einfach gesagt hätte, dass sich ein Abgrund auftat und man viel Zeit und Arbeit verwendete, um ihn wieder zu füllen. Je weniger wahrscheinlich eine Tatsache ist, desto mehr verliert das Zeugnis der Geschichte an Gewicht. Ich würde ohne weiteres einem einzigen ehrlichen Mann glauben, der mir mitteilt, dass Seine Majestät soeben einen vollständigen Sieg über die Alliierten errungen hat; aber wenn mir ganz Paris versichern würde, dass in Passy ein Toter wieder zum Leben erwacht ist, würde ich das nicht glauben. Ob ein Historiker uns etwas aufdrängt oder ein ganzes Volk sich irrt, macht es nicht zum Wunder“ (dt., übers. Correspondance Voltaire).

Anmerkung 7 (S.83, erster Absatz: „Man hat in der Enzyklopädie eine sehr amüsante Geschichte abgedruckt“):  Voltaire verweist am Ende seines Artikels explizit auf den Adressaten seiner Ausführungen zum Thema Gewissheit. Dass er de Prades sehr schonend kritisiert, mag man der Tatsache zuschreiben, dass dieser als Opfer der katholischen Kirche 1752 nach Preußen geflüchtet war und nicht mehr in sein Heimatland zurückkehren durfte.

Anmerkung 8 (S.83, letzter Absatz:„Der andere Autor… schreibt gegen sich selbst und wollte auch lachen“): Dieser andere Autor ist Diderot, der als Herausgeber der Enzyklopädie den Artikel Gewissheit von de Prades in seiner Vor- und Nachbemerkung zustimmend, überschwänglich positiv kommentiert, obwohl de Prades Argumentation der seinigen diametral entgegengesetzt ist. Voltaire interpretiert dies als ironische Scharade Diderots.

Philosophisches Taschenwörterbuch: Caractère – Charakter. (Kommentare)

Hintergrund:
Wenn Voltaire als „homme de théâtre“ davon ausging, dass jeder Mensch natürlicherweise einen unveränderlichen Charakter hat, war er mit der Kirche weitgehend einig, wenngleich diese ihn nicht für Naturgegeben, sondern für Gottgegeben (nach Augustinus durch die heiligen Sakramente verliehen) hielt.
Folgender Definition aus der Encyclopédie (Art. Caractère dans les personnages) hätte er sicherlich zugestimmt: „Le caractère […] n’est donc autre chose qu’une passion dominante qui occupe tout à la fois le coeur & l’esprit ; comme l’ambition, l’amour, la vengeance, dans le tragique ; l’avarice, la vanité, la jalousie, la passion du jeu, dans le comique. (dt.: Der Charakter […] ist daher nichts anderes als eine dominante Leidenschaft, die sowohl das Herz als auch den Verstand beherrscht; wie Ehrgeiz, Liebe, Rache, in der Tragödie; Geiz, Eitelkeit, Eifersucht, Leidenschaft für das Spiel in der Komödie).
Andererseits kannte Voltaire gewiss das Werk Les Caractères (1699) von La Bruyère (1645 – 1699), das mit einer Übersetzung der Charakterologie von Theophrast (371 – 287 v.u.Z), einem Schüler des Aristoteles, beginnt und zahlreiche, als Charaktere bezeichnete Persönlichkeitseigenschaften aufzählt, (z.B. Zerstreutheit, Schmeichelei, Geiz…), er folgte aber eher der systematischen Charakterkunde Galenus von Pergamon (130 -200 u.Z.), der lehrte, dass es vier Typen von Temperamenten gebe (Sanguiniker, Choleriker, Phlegmatiker und Melancholiker).
Eine weiterführende Zusammenfassung zur Begriffsgeschichte in der Philosophie gibt Robert Eisler (1882-1949) in seinem Handwörterbuch der Philosophie , Artikel Charakter.

Die folgenden Kommentare zu einzelnen Textstellen beziehen sich mit ihren Seitenangaben auf die von uns bei Reclam herausgegebene Ausgabe des Philosophischen Taschenwörterbuchs (2020):

Anmerkung 1 (S.78, vierter Satz: kann ich auf den Charakter einwirken, den die Natur mir gegeben hat?): Die Frage, wie man zu seinem Charakter käme, wurde, darin Galenus folgend, entweder der Natur zugeschrieben, oder aber gesellschaftlichen Einflüssen und denen der Erziehung. Eine Position, die mit dem Namen Rousseaus verbunden ist, obwohl auch er von einem natürlicherweise vorhandenen Charakter des Menschen ausgeht, den man in der Erziehung erkennen und – eben als naturgegeben – nicht unterdrücken soll.

Anmerkung 2 (S.78, unten: Doch wenn Franz I sich mit Physiognomien auskennt..): Das Werk Les Charactères des Passions von Martin Cureau de la Chambre (1594 – 1669), in dem er Gefühle wie Hass, Leid, Mut, Trauer, Furcht, Hoffnungslosigkeit untersucht, und sein L’Art de connoistre les hommes bereiten den Weg zur Psychologie unserer Zeit. Er beschäftigt sich auch mit der Frage, wie sich die Leidenschaften eines Menschen erkennen lassen:
„Celui qui donnait avis de consulter son miroir dans la colère, avait raison de croire que les Passions se devaient mieux connaître dans les yeux que dans l’âme même“ (Wer im Zorn die Meinung seines Spiegels einholen wollte, hätte Grund zu der Annahme, dass sich Gefühle besser in den Augen als in der Seele erkennen lassen)
nach: Florence Dumora, Topologie des émotions. Les Caractères des passions de Marin Cureau de La Chambre, in: Littératures classiques 2009/1 (N° 68), pages 161 à 175

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