Candide – Oper von Bredemeyer

candide bredemeyer

Musik Reiner Bredemeyer
Libretto Gerhard Müller

Der Großinqisitor: Aufmachen!
Öffnet im Namen des Völkerrechts!
Öffnet! Kunigunde: Entsetzlich.
Candide: Fürchtet nichts. Wir sterben zusammen.

Mit ihrer Oper Candide haben Reiner Bredemeyer und Gerhard Müller fortgeschrieben, was Candide 200 Jahre nach Voltaire in der ‚besten aller Welten‘ begegnete. Er wird mit Auschwitz konfrontiert, erlebt die Niederbombung des republikanischen Spaniens vor den Augen einer ’neutralen‘ Völkergemeinschaft und ist Zeuge, wie sich die große Hoffnung der Menschheit auf eine vernünftig und human organisierte Welt als Chimäre erweist.

War der Großinquistor bei Voltaire noch still und erliegt sang- und klanglos seinen Wunden, so hat er in diesem Stück des 20. Jahrhunderts sprechen gelernt, und zwar das Großsprech eines Propagandisten, der sich der Unterstützung aller Medien sicher weiß: „Öffnet im Namen des Völkerrechts!“ ruft er, um sich und seinen mordbrennerischen Absichten Zugang zu verschaffen.
Wie unheimlich vorausahnend hat damit Gerhard Müller in seinem Libretto die Ereignisse des 21. Jahrhunderts vorweggenommen, in dem die Mächtigen im Namen des Völkerrechts, der Meinungsfreiheit, ja sogar im Namen des Antifaschismus selbst bomben und morden lassen. Es ist geradezu candidisch-grotesk, daß die Uraufführung in Halle so kurz nach dem orwellschen Jahr 1986 stattfand.
Doch dieses Stück ist in der DDR geschrieben und vor einem DDR-Publikum aufgeführt worden. Diesem sind grosse Teile des dichten Textes gewidmet: so erleiden die Protagonisten auf dem Weg nach Eldorado, dem glücklichen Leben, Plackerei und die schrittweise Unterwerfung unter das Kommando Vanderdurens, eines reichen Händlers, dem sie folgen, um nicht zu verhungern und enden dabei schließlich in der Sklaverei. Ahnten Müller und Bredemeyer, daß kaum 5 Jahre später die ganze Bevölkerung der DDR diesen Weg gehen würde? 

Reiner Bredemeyer (2.Feb.1929 – 5.Dez 1995) nach Hanns Eisler und Paul Dessau der bedeutendste Komponist der DDR. Schon in jungen Jahren begegnete er Karl Amadeus Hartmann dessen Kompostionskunst er viel verdankte. In der DDR war er Assistent bei Paul Dessau  an der Berliner Schauspielschule. Reiner Bredemeyer verkörperte „als letzter Überlebender jene kompromißlose Widerstandskunst, die in der Kriegs- und Nachkriegszeit aufblühte“(zit. nach G.Müller).
weitere Informationen:
www.reiner-bredemeyer.de

Gerhard Müller: 1939 in Saalfeld (Saale) geboren, Journalist, Dr. phil.(„Heinrich Heine und die Musik“), 1980 -1995 leitender Dramaturg an der Komischen Oper Berlin, 1995 -1998 Chefdramaturg und Künstlerischer Direktor des Gewandhauses zu Leipzig. Vizepräsident der Internationalen Hanns-Eisler-Gesellschaft e.V. Autor zahlreicher Essays, Libretti, Zeitschriftenaufsätze und Rundfunk-Sendungen, Fachbücher.

Hinweise zur Handlung

"Dies Lied, das ich für Sie gemacht, 
ihr dienend liebt ich alle Zeit
so treu sie, daß ein Totenkleid 
der ach so bittre Lohn wird sein
hat fürder meiner sie nicht acht."
(IV. Akt, Dritte Szene)

Solche Sehkraft empfindet man gewöhnlich als unheimlich, denn sie läßt uns fürchten, daß der Weg in die Zukunft Gesetzen folgt, die einige (vorher)sehen, die große Masse ihnen aber nur blind folgen kann und sei es in den eigenen Untergang. Dieses Gefühl einfangend, tritt im Interludium III eine Frau auf, die ihre Vision vom Untergang erzählt – sie tut es lachend! Und so mutet auch der Schluß wie ein Abgesang auf die DDR der friedlichen Koexistenz an, mit der sich die Führung dem Konflikt zu entziehen können glaubt, indem sie sich umwendet – und die Bürger anweist, ihren Garten zu bestellen, statt um eine bessere Welt zu kämpfen:

Candide: Still. Nicht zu grübeln, ist das einzige Mittel, das Leben erträglich zu machen. 
Pangloss: In der besten aller Welten sind alle Geschehnisse eng miteinander verknüpft. 
Candide: Richtig, Sehr richtig. Aber wir müssen unseren Garten bestellen

Hinweise zur Musik

Noch stärker als der Text des Librettos ist die Musik Bredemeyers komprimiert und verdichtet, wobei der rezitativische Gesangsstil an den deutschen Candide, den Simplicissimus in der Vertonung K.A. Hartmanns erinnert. Daß diese Verbindung nicht zufällig ist, zeigt ein Blick auf Bredemeyers kurze Autobiographie, in der er diese Verbindung zu Hartmann selbst herstellt. Ähnlich wie dieser im Simplicissimus spielt Bredemeyer auf der Tastatur eines riesigen musikalischen Repertoires, teilweise komisch, etwa wenn er bei der Zerstörung des Schlosses Händels Feuerwerksmusik erklingen läßt, teils unheimlich, wenn er die tragische Grundströmung der Handlung verstärkend, Gesänge des finsteren Mittelalters einarbeitet, so, als ob er uns warnend vor Augen führen wollte, wie leicht es um uns geschehen sein wird, wenn uns die Vergangenheit, auch musikalisch, wieder in ihre Krallen zu fassen bekommen sollte.

Die Oper wurde 1986 am Landestheater Halle unter Leitung von Christian Kluttig (Dirigent) und Andreas Baumann (Regie) zum ersten Mal und später in Dresden und anlässlich der Musikwerkstatt Tage der DDR aufgeführt. Die Reaktion der Öffentlichkeit ist uns bislang unbekannt. Den Text des Librettos veröffentlichen wir hier mit freundlicher Genehmigung des Autors, Herrn Dr. Gerhard Müller.