Amour nommé socratique – Homosexualität

Wie hat es geschehen können, dass ein Übel, Untergang des Menschengeschlechts, wäre es allgemein, schändliches Attentat auf die Natur, trotzdem so natürlich erscheint. Es scheint die letzte Stufe von Geistesverwirrung zu sein und ist doch übliche Praxis von Leuten, die noch gar nicht die Zeit zum Verwirrtsein gefunden haben. Es hat in ganz frische Herzen Eingang gefunden, die weder Ehrgeiz, Täuschung noch Geldgier kennen; es ist die blinde Jugend, die sich gleich am Ausgang der Kindheit aus fehlgeleitetem Instinkt dieser Verwirrung hingibt. Frühzeitig offenbart sich die Neigung der beiden Geschlechter zueinander; aber was man auch immer über Afrikanerinnen und Asiatinnen gesagt haben mag, diese Neigung ist sehr viel stärker beim Mann als bei der Frau, dies ist ein Gesetz, das in der Natur für alle Tiere gilt, es ist immer das Männchen, das das Weibchen angeht. Die jungen Männchen unserer Art fühlen die Kraft, die die Natur in ihnen entfaltet und finden, da sie gemeinschaftlich erzogen werden, kein natürliches Objekt für ihren Trieb; so stürzen sie sich auf das, was ihm gleicht. Oft gleicht ein Knabe zwei oder drei Jahre lang einem schönen Mädchen durch die Frische seines Teints, durch sein plötzliches Erröten, die Süße seiner Augen; wenn man ihn liebt, ist es, weil sich die Natur irrt; man huldigt dem Sex, in dem man sich an das bindet, was die Merkmale der Schönheit besitzt und wenn das Alter die Ähnlichkeit zum Verschwinden bringt, besteht der Irrtum fort.
‚Citraque juventam, aetiats breve ver et primos carpere flores‘ (Ovid Met. X, 84-85)1.

Man weiß zur Genüge, dass dieser Irrtum der Natur im Süden viel gebräuchlicher ist, als im eisigen Norden, weil dort das Blut entzündbarer ist und die Gelegenheit häufiger: auch ist, was beim jungen Alkibiades2 als Schwäche erscheint, abstoßend bei einem holländischen Matrosen oder einem Moskauer Marketender.
Ich kann es nicht hinnehmen, dass man behauptet, die Griechen hätten diese Zügellosigkeit erlaubt. Man zitiert Solon, den Gesetzgeber, weil er in zwei schlechten Versen gesagt hat: „Zärtlich liebe einen schönen Jungen, solange er keinen Bart am Kinn trägt.“
Aber wirklich, handelte Solon als Gesetzgeber, als er diese beiden lachhaften Verse schrieb? Er war noch jung. Und als der Lüstling weise wurde, hütete er sich, seinen republikanischen Gesetzen eine derartige Schändlichkeit  hinzuzufügen.3 Es ist dasselbe, wenn man Theodore von Bèze anklagt, die Knabenliebe in seiner Kirche gepredigt zu haben, weil er in seiner Jugend Verse für den schönen Candide verfasst hat, in denen es heißt: „Aplector hunc et illiam“4. Man missbraucht einen Text Plutarchs, der in den Plaudereien seines Dialog über die Liebe einen Gesprächspartner sagen lässt, dass die Frauen der wirklichen Liebe nicht wert seien, ein anderer Gesprächsteilnehmer jedoch unterstützt die Seite der Frauen wie es sein sollte.
Es ist gewiss, soweit sich die Wissenschaft über die Antike gewiss sein kann, dass die sokratische Liebe nicht schändlich war, hier hat der Begriff der Liebe zur Verwirrung beigetragen. Was man „die Liebhaber eines jungen Mannes“ nannte, war genau das, was bei uns die Edelknaben der Adligen sind,  was die Ehrenkinder waren: junge Leute, die zur Erziehung einem Kind aus hohem Hause beigegeben wurden, gemeinsam die selben Übungen machten, dieselben militärischen Arbeiten, eine militärische und heilige Einrichtung, die man zu nächtlichen Festen und Orgien missbrauchte.

Das Heer der Liebenden, das  Laios unterhielt, war eine unbesiegbare Einheit von jungen Kriegern, die durch ihren Schwur verpflichtet waren, ihr Leben füreinander zu geben; und es war das disziplinierteste Heer, das die Antike je hatte.
Sextus Empiricus5 und andere haben gut reden, wenn sie behaupten, die Knabenliebe sei von den Gesetzen Persiens empfohlen worden. Sie sollten den Gesetzestext zitieren, sie sollten den entsprechenden Paragraphen nennen, und, wenn sie ihn nennen würden, so glaubte ich es noch immer nicht und würde sagen, die Geschichte sei falsch, und zwar deshalb, weil sie unmöglich ist. Nein, in der Natur des Menschen liegt es nicht, ein Gesetz zu verfassen, das der Natur widerspricht und das die Natur beleidigt, ein Gesetz, das die Natur auslöschte, würde es buchstabengetreu befolgt. Gewisse Leute haben beschämende Praktiken, die in einem Land toleriert wurden, für ein Gesetz des Landes ausgegeben. Sextus Empiricus, der alles bezweifelte, hätte an solcher Rechtsprechung zweifeln sollen. Wenn er unserer Tage lebte und zwei oder drei Jesuiten einige ihrer Schüler missbrauchen sähe, hätte er deshalb das Recht zu sagen, dass dieses Spiel durch die Regeln Ignatius von Loyolas6 erlaubt sei ?  Die Knabenliebe war in Rom so verbreitet, dass man sich nicht unterstand, diese Albernheit zu bestrafen, vor der alle Welt die Augen verschloss. Octavius Augustus, dieser lüsterne Mordbube und Feigling, der es wagte, Ovid zu verbannen7, fand es sehr gut, dass Virgil Alexis besang und dass Horaz für Ligurinus kleine Oden verfasste8, aber das alte Gesetz Scantinia 9, das die Knabenliebe verbot, bestand  noch immer: der Herrscher Philipp verhalf ihm wieder zur Geltung und hat alle kleinen Jungen, die diesem Metier nachgingen, aus Rom hinausgejagt. Schlussendlich glaube ich nicht, dass jemals eine zivilisierte Nation Gesetze gegen die guten Sitten gemacht hat.


1 – Citraque… vor der Reife den kurzen Frühling der Jugend und die ersten Blüten zu pflücken

2 – Alkibiades ( 450- 404 vuZ), skrupelloser Politiker und Feldherr Athens, von dem es heißt, er habe mit seinem Lehrer Sokrates eine homosexuelle Liebschaft gehabt.  
3 – Solon (640 -560 vuZ), athenischer Politiker, der den Staat durch eine umfangreiche Gesetzesreform neu ordnete.

4 – Theodore von Bèze (1519 – 1605), Genfer Reformator, verteidigte die Hinrichtung des Gelehrten Michel Servet als Ketzer auf dem Scheiterhaufen in Genf (1553). Der Vers aus seinen Poemata juvenilia, die ihm wegen einiger erotischer Stellen unbequem wurden, heißt richtig: „Amplector quoque, sic et hunc et illiam‘ was in Voltaires verkürzter Version, der die Gelegenheit zu einem Seitenhieb auf den ihm verhassten Theologen nutzt, bedeutet: „Ich liebe sie und liebe ihn“.

5 – Sextus Empiricus (2.Jh. uZ),  griechischer Philosoph, Skeptiker, der an der Möglichkeit gesicherten Wissens zweifelte

6 – Ignazius von Loyola (1491 – 1556);  Gründer des Jesuitenordens, für die militärische Strenge seiner Ordensregeln und seine extremen Glaubensübungen bekannt, Kindesmissbrauch kam in den jesuitischen Anstalten nicht selten vor..

7 – Oktavius Augustus (63 vuZ – 14 uZ) römischer Kaiser, besann sich am Ende seines Lebens auf Sitte und Anstand, so wollte er, der mit seiner dritten Frau Livia zusammenlebte, bevor sie sich von ihrem Mann scheiden ließ, jetzt den Ehebruch verbieten und verbannte im Jahre 8 uZ Ovid nach Tomis am schwarzen Meer.

8 – Virgil Alexis… bezieht sich auf die von Vergil in den Jahren 42 – 39 vuZ verfassten Hirtengedichte „Bucolica“. In den Eklogen 2 verliebt sich der Hirte Corydon in den schönen Alexis. Horaz – Ligurinus: Ligurinus ist der Titel der 10. Ode des vierten Buches von Horaz Oden, die die Schönheit des Knaben Ligurinus besingt.

9 – Scantinia  Lex Scantinia hieß das Gesetz, das im 2. Jh. vuZ in Rom die Knabenliebe untersagte und unter Augustus‘ Lex Lulia verschärft wurde. Mit Phillipus ist Marcus Julius Phillipus I., der auch  Phillipus Arabs genannte römische Kaiser gemeint. Er regierte von 204 – 249 in der Ära der römischen Soldatenkaiser.